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Indrek konnte in dieser Nacht kaum ein Auge schließen, und als er gegen Morgen dann schließlich doch ein wenig einnickte, wurde er von verworrenen, sonderbaren Traumgesichten gequält, die seinem Gedächtnis entschwanden, bevor er noch wieder recht erwacht war. Nur im Körper blieb ein Gefühl der Erschlaffung und ein dumpfer Schmerz zurück, als habe man auf ihm herumgetrampelt oder ihn mit irgendeinem weichen Gegenstande durchgeprügelt. Sobald er den Versuch machte wieder einzuschlafen, stellten sich alsbald neue sonderbare Träume ein: es schien ihm, als fliehe er und werde verfolgt, als schlage und balge er sich mit jemandem herum, er glaubte jemand schreien und um Hilfe rufen zu hören; und über dieses alles hinweg trampelte es wie eine endlose Viehherde, von der nichts zu sehen war als bloß die Beine. Indrek wollte feststellen, ob diese Beine in Hufen oder Klauen ausliefen, ob sie beschlagen wären oder nicht, aber bei der flinken Bewegung dieser Beine ließ sich nichts Genaueres erkennen. Und irgendwo in der Entfernung, jenseits der vorbeihastenden Beine, schien sich eine dunkle Gestalt abzuzeichnen. Indrek versucht sich aufzurappeln, denn er liegt zusammen mit anderen unter diesen rücksichtslos dahinstampfenden Beinen am Boden, er versucht sich der entfernten Gestalt zu nähern, aber er verheddert sich in irgend etwas, stürzt wiederum nieder und fühlt, wie es über ihn hinrast und er zusammengestampft wird.
Am Abend hatte Lohk ihn gewarnt, in seiner Wohnung zu bleiben, denn es sei schon mal hier nach ihm gesucht worden, und er stehe unter geheimer Aufsicht, aber Indrek hatte sich nicht daran gekehrt, ja, er wünschte fast verhaftet zu werden, damit dann doch auf einen Schlag alles aus wäre und er nicht mehr zu wählen und zu überlegen brauche. Dann wäre eben alles gleich – Kristis Tod und das Stöhnen der Mutter daheim in Wargamäe, die auf seine schmerzstillende Arznei wartet. Dann wäre eben überhaupt alles gleich, das empfindet Indrek deutlich. Aber nun steht die Heimat wie ein Gespenst vor ihm, und in den Ohren summt das einförmige, von dort herübertönende Stöhnen.
Und dennoch atmete Indrek am Morgen erleichtert auf bei der Feststellung, daß er noch frei war. Er begann seine Sachen zusammenzupacken, um sein Zimmer bei Lohks endgültig zu verlassen. Vor allem nahm er die Schaftstiefel vor, die Vater Lohk ihm geliehen hatte, um diese doch in wenigstens annähernd demselben Zustande zurückzugeben, wie er sie erhalten. Aber es war, als habe Frau Lohk das geahnt, denn sie erschien plötzlich, um ihm diese Arbeit abzunehmen. Wie es sich dann herausstellte, brannten ihr aber eigentlich ganz andere Dinge auf der Seele als diese kotigen Stiefel. Denn während sie diese putzte, wandte sie sich mit zitternden Lippen und Tränen in den Augen mit folgender vorwurfsvollen Frage an Indrek:
»Warum haben Sie sie denn damals so belogen, als Sie fortgingen? Sie wollte sich die Augen aus dem Kopf weinen.«
»Aber ich habe sie doch gar nicht belogen«, verteidigte sich Indrek, der sofort begriff, wovon und von wem die Rede war.
»Herrgott im Himmel!« rief Frau Lohk in aufrichtigem Entsetzen, »sie ist gestorben, aber Sie lügen immer weiter. Sie hat sich doch erkundigt und alles erfahren. Nur das wußte sie nicht, daß Sie noch am Leben seien. Alle meinten, es sei Ihnen ebenso ergangen wie den anderen.«
»Sind denn die andern alle ...?« fragte Indrek, ohne seinen Satz zu beenden.
»Ob gerade alle, weiß ich nicht, aber jedenfalls sehr viele, und man nahm an, daß Sie eben auch unter diese gehörten.«
Das waren die Dinge, die Frau Lohk auf der Seele brannten, als sie so an der Türe dastand, die kotigen Stiefel in der Hand. Indrek fand keine Worte mehr zu einer näheren Erklärung und Entschuldigung. Ihn beherrschte nur ein Gedanke: möglichst schnell von hier fortzukommen, als könne er damit sich selbst entlaufen.
»Aber zur Beerdigung werden Sie doch kommen?« fragte Frau Lohk, als Indrek sich zum Gehen wandte.
»Das natürlich«, versetzte Indrek, um dann hinzuzufügen: »Wenn ich dann noch in der Stadt bin.«
Seine zusammengepackten Sachen ließ Indrek fürs erste unter Frau Lohks Obhut zurück, und ging selbst nun vor allem Wiidik suchen, um mit diesem wegen der Arznei Rücksprache zu nehmen und ihn zu bitten, ihm für eine Nacht Unterkunft zu gewähren. Aber Wiidik traf er weder in der Apotheke noch daheim an, und ebensowenig auch Wiljasoo, der sich vor den Behörden versteckt hielt, so daß Indrek schließlich nichts übrigblieb, als seine Schritte zu Otstavel zu lenken, obgleich dieser wohl der letzte war, bei dem er Hilfe hatte suchen wollen.
»Du kommst wie gerufen!« rief Otstavel ihm entgegen. »Gerade heute ist bei uns eine Anfrage eingelaufen, ob hier nicht der Bauer Indrek, Andres Sohn, Paas, wohne, der mit zwei Jahresraten der Gemeindesteuer im Rückstande ist, drei sechzig jährlich, macht sieben zwanzig. Nun, wie steht's damit? Willst du zahlen? Neulich warst du unzufrieden mit mir, daß ich deinen Wohnort für unauffindbar erklärte und die Papiere zurückgehen ließ.«
»Nun bin ich tatsächlich wohnungslos, so daß die Polizei mich nicht finden kann«, sagte Indrek.
»Wie denn das?« rief Otstavel, »du stehst ja hier vor mir.«
»Aus meiner alten Wohnung bin ich ausgezogen, und eine neue habe ich noch nicht gefunden«, erklärte Indrek, »aber ich hoffe, für eine Nacht bei meinem Schulkameraden Otstavel Unterschlupf zu finden.«
»Also die Zahlungsorder kann man dir ruhig auf die alte Adresse zuschicken?« fragte Otstavel.
»Ja, ruhig«, sagte Indrek.
»Dann ist diese Sache ja in bester Ordnung«, sagte Otstavel. »Was nun aber den Unterschlupf anlangt, so ist das eine brenzlige Sache, denn erstens steht dein Schulkamerad im Polizeidienst, zweitens haben wir eben Kriegszustand, drittens bist du anscheinend augenblicklich eine etwas verdächtige Persönlichkeit, die Grund hat, sich vor den Behörden verborgen zu halten, und viertens geht es euch Kerlen eben verteufelt gemein. Vor allem, sag doch mal, Mensch, wie kommt es, daß du noch immer auf freiem Fuße bist?«
»Ich bin gestern erst vom Lande gekommen«, erwiderte Indrek.
»Was? Vom Lande? Du hast also diesen ganzen Güterrummel mitgemacht? Und nun soll ich dir Unterschlupf gewähren?«
»Nein, nicht den Güterrummel, wie du es nennst, sondern ich war aufs Land gegangen, um meine kranke Mutter zu besuchen und will ihr nun aus der Stadt Arznei bringen«, erklärte Indrek.
»Ich kann dir nur einen Rat geben, laß die Arznei fahren, wenn du deiner Mutter eine Freude machen willst, denn gegenwärtig wird jeder Städter, den man auf dem Lande erwischt, ohne weiteres aufgeknüpft oder sonstwie kaltgemacht. Gegenwärtig herrscht bei uns die Meinung, daß jeder Städter, der aufs Land hinauskommt, es auf die Güter abgesehen hat und die Absicht hat, sie zu plündern und niederzubrennen.
»Einerlei«, versetzte Indrek, »die Arznei muß ich meiner Mutter schon bringen, da ist nichts zu machen.«
»Ich würde an deiner Stelle wenigstens einige Tage abwarten, um zu sehen, wie die Dinge sich entwickeln. Jetzt geht die ganze Geschichte ja erst eigentlich los, und auf dem Lande wird es bald viel toller hergehen als in der Stadt. Unser Alter weiß Bescheid. Er sagt immer, noch vor kurzem hätten die Revolutionäre mit der Polizei ebenso leicht fertigwerden können wie mit den Bordellen und den Branntweinläden, aber nun geht die Geschichte schon umgekehrt. Schade nur, daß oben auf dem Dom so wenig Raum ist, so daß man nicht weiß, wohin mit den vielen Verhafteten und unwillkürlich gezwungen ist sie zu hängen und niederzuknallen. Aber das mag unser Alter eigentlich gar nicht, denn er ist ein friedlicher Mensch und darum sehr zufrieden damit, daß das Militär die Henkersarbeit übernommen hat. Unser Alter würde eher zu den Revolutionären übergehen als morden, solch ein friedliches Männchen ist er. Militär, das ist eine andere Sache, eine ganz andere Sache, meint er. Militär ist zum Morden da, aber die Polizei ist der friedliche, ruhige Diener des Volkes ...«
So belehrte Otstavel seinen alten Schulkameraden über die sozialen Aufgaben der Polizei und des Militärs, und Indrek war bestrebt, ihm nicht zu widersprechen, weil sonst seine Aussichten auf ein Nachtquartier gar zu leicht hätten zunichte werden können.
Am nächsten Tage erhielt Indrek von Wiidik die erbetene Arznei, irgendwelche Pulver; aber bevor Wiidik die Schachtel Indrek anvertraute, drehte er sie lange zwischen den Fingern. Denn genau genommen, war es nicht ganz korrekt, was er tat, und wenn er sich trotzdem dazu verstand, so geschah das nur deswegen, weil sie beide zusammen bei Maurus in Sibirien geschlafen hatten.
»Eins muß genügen«, erklärte er Indrek, »nur äußerstenfalls zwei; drei auf einmal sind unter allen Umständen zu viel, merk dir das.«
»Das will ich mir schon merken«, versetzte Indrek, »da kannst du ganz ruhig sein.«
So trennten sie sich. Aber kaum war Indrek wenige Schritte gegangen, als Wiidik ihm im Laufschritt nacheilte und die Pulver zurückforderte; er wolle ihm morgen andere geben, die sich besser eignen würden. Aber davon wollte Indrek nichts hören, indem er erklärte, er gedenke noch heute abend die Stadt zu verlassen, wenn sich das nur irgend machen ließe. Eine Weile standen sie so beide auf der Straße da, wegen der Pulver streitend, bis Wiidik sich schließlich beruhigte und seines Weges ging.
Wiljasoo traf Indrek in der Dämmerung auf der Straße. Aber dieser Mensch hatte sich so stark verändert, daß er nur noch an der Stimme und seinem Naserümpfen zu erkennen war. Er hatte sich seinen roten Bart abgenommen, seine langen Haare beschnitten und seine Kleidung von Grund aus verändert.
»Sehen Sie, was die Revolution aus einem Menschen machen kann«, grinste Wiljasoo, die Nase rümpfend, »sie macht aus ihm einen Revolutionär. Und bist du mal Revolutionär, dann darfst du nicht mehr unter Menschen – das gestattet die Regierung nicht. Aus einem Revolutionär aber kann nur noch ein noch größerer Revolutionär werden oder – ein Spitzel, sonst nichts, das ist schon mal so das Naturgesetz der revolutionären Unterwelt. So daß der Marxismus also auch hier recht behält: jeder Zustand gebiert die Kräfte, die eben diesen Zustand vernichten. Der Zarismus gebar die revolutionäre Unterwelt, und diese ihrerseits vernichtet den Zarismus. Die Unterwelt gebiert den Spitzel, und dieser vernichtet die Unterwelt. Wie zum Beispiel dieser Lohk: er gehörte eigentlich in die Unterwelt, verlor dann aber die Hand und unterminiert nun die Unterwelt ...«
»Was sagen Sie da?« rief Indrek schwer betroffen.
»Da kann gar kein Zweifel herrschen«, sagte Wiljasoo, die Nase rümpfend, »und er ist auch bei weitem nicht der einzige.«
»Wen hat man denn noch im Verdacht?« fragte Indrek.
»Niemanden«, versetzte Wiljasoo ironisch, »aber Krösus ist noch in Freiheit und renommiert nach wie vor; ich sagte ihm noch gestern, wenn ich nicht selbst noch in Freiheit wäre, dann ...«
»Dann würden Sie auch Krösus für einen Spitzel halten!« rief Indrek erschrocken, denn ihm fiel ein, was er von Krösus gesehen und gehört hatte.
»Warum nicht«, versetzte Wiljasoo, »er ist so revolutionär, daß ...«
Wiljasoo schwieg und rümpfte die Nase. Auch Indrek schwieg, denn ihm kam plötzlich der Gedanke, daß schließlich auch Wiljasoo selbst noch am Ende ein Spitzel sein könne. Aber diesen Gedanken ließ er dann freilich gleich wieder fallen. Vor allem mußte er ja die ganze Zeit über an die Erklärungen denken, die jemand ihm noch kürzlich über das Problem Spitzel und Liebe abgegeben hatte, und er sagte gleichsam zu sich selbst:
»Dann ist ja alles klar.«
»Wovon reden Sie?« fragte Wiljasoo.
»Von Kristi, Lohks Tochter«, sagte Indrek. »Sie ist ins Wasser gegangen.«
»Auch gegen sie hegte man Verdacht, gleichwie gegen den Vater«, sagte Wiljasoo.
»Dummes Zeug!« rief Indrek empört. »Wozu wäre sie denn ins Wasser gegangen?«
»Aber der Vater mag ihre Dummheit ausgenutzt haben.«
»Das Mädchen war gar nicht so dumm, und die Revolution war ihr eine hohe, heilige Sache.«
»Das ist ja das ganze Unglück, daß die Revolution uns allen etwas Heiliges bedeutet, während sie doch tatsächlich eine rein praktische Angelegenheit ist. Wir glauben, daß die Menschen, die mit einer heiligen Sache zu tun haben, auch selbst heilig seien. Aber das ist ein großer Irrtum. Man kann sogar mit Gott selbst an einem Tisch sitzen, mit ihm aus einem Kelche trinken und doch ein Verräter sein. Ein Knecht Gottes kann Schelm und Gauner sein, wie dieser Lohk. Denn stellen Sie sich doch bloß mal vor: während er als Opfer der Revolution eine Unterstützung empfing, bezog er gleichzeitig seinen Judaslohn von der Polizei.«
Sie schritten eine Weile stumm nebeneinander her. Dann fragte Wiljasoo:
»Glauben Sie wirklich, daß das Mädchen wegen des Vaters mit sich ein Ende machte?«
»Ob gerade seinetwegen, aber ...« sagte Indrek, ohne seiner eigentlichen Meinung über die Ursachen, die Kristi in den Tod getrieben, eingehender Ausdruck zu geben.
Wieder schwieg Wiljasoo eine Weile, bevor er sagte:
»Das wäre ein großes Opfer auf dem Altare seines Berufs. Die Spitzelei wäre dann nahezu auch als ein heiliges Geschäft zu betrachten, gleichwie das Verweilen in der revolutionären Unterwelt. Das heißt, genau genommen sind es beides Unterweltler, der Revolutionär sowohl als auch der Spitzel, der eine im Hinblick auf die bestehende Ordnung, der andere im Hinblick auf die Unterwelt, ein Unterweltler der Unterwelt sozusagen, so daß also der Spitzel noch eine Stufe tiefer steht als der Unterweltler und damit auf noch heiligerer Stelle.«
»Wie Sie es doch verstehen, alles auf den Kopf zu stellen!« rief Indrek. »In Wirklichkeit haben es die einen aber doch nur auf schnöden Mammon abgesehen, während die anderen sich für ihre Ideale opfern.«
»Auch Sie erblicken in der Revolution eben nur eine heilige Angelegenheit«, erklärte Wiljasoo, »aber in Wirklichkeit erhalten sowohl die Revolutionäre als auch die Spitzel eine Entschädigung, bloß daß die einen sie in barem Gelde erhalten, die anderen sozusagen in natura – in Idealen das heißt, die zu realisieren sind.«
»Ein wahrer Revolutionär will die Welt erlösen!« rief Indrek mit Überzeugung.
»Und darum also die Aureole der Heiligkeit, Denkmäler, Kränze, was?« fragte Wiljasoo, und fuhr dann, die Nase rümpfend, fort: »Erlöse, so viel du magst, aber wozu dann diese Heiligkeit? Erlöse meinetwegen den Regenwurm, aber tu es praktisch, zweckmäßig. Und was den Lohn anlangt, so ist der rechte Lohn des rechten Revolutionärs der Tod, sonst wird aus ihm ein verfluchter Bourgeois. Meigas zum Beispiel, der hat seinen Lohn, der ist erlöst.«
»Ist er wirklich tot?« fragte Indrek.
»Tot«, erwiderte Wiljasoo, »gefallen im Kampf mit den Dragonern. Man sagt, er hätte sich mit den andern retten können, aber er sei in Rage geraten. Ich wundere mich nur, Sie noch hier zu sehen. Sie waren doch mit ihm zusammen.«
»Zu meiner Zeit gab es noch keine Toten«, sagte Indrek, »ich verließ die Genossen früher, denn meines Erachtens war ihr Vorgehen sinnlos und ungerecht.«
»Sonderbarer Kauz, der in der Revolution Sinn und Recht sucht«, sagte Wiljasoo, die Nase rümpfend. »Ich habe immer gesagt: mit der Revolution ist es wie mit den Weibern, mit Verstand und Gerechtigkeit kommt man da nicht weit.«
»Dann tauge ich weder zum Revolutionär noch für die Weiber«, sagte Indrek nachdenklich.
»Ja, für beide ist etwas Leichtsinn erforderlich: man darf sie nicht allzu ernst nehmen. Die Klügsten sind schließlich vielleicht noch die, die sich haben verhaften lassen; die haben jetzt wenigstens Ruhe, warten auf das gerichtliche Urteil oder die Ausweisung. Das ist einfach eine praktische Frage, was im Augenblick günstiger ist. Aber so oder anders, schließlich werden sie wieder frei sein und die Revolution zum Siege führen.«
»Glauben Sie wirklich, daß sie die Revolution zum Siege führen werden?« fragte Indrek freudig erregt.
»Sicherlich!« sagte Wiljasoo fest. »Ich wenigstens habe beschlossen, nicht zu sterben, bevor ich die Freiheit gesehen habe.«
Indrek war es so seltsam zu hören, daß mitten im allgemeinen Zusammenbruch der Revolution sich noch Menschen fanden, die an ihren endgültigen Sieg glaubten. Und wenn er sich auch nicht genau Rechenschaft darüber gab, ob er selbst auch diesen Glauben teilen wolle und zu teilen vermöge, so war ihm doch eines klar: daß es schön und tröstlich war zu wissen, daß es irgendwo jemand gab, der ohne zu schwanken an den Anbruch der Freiheit zu glauben vermochte, die alle ersehnten.
* * *
Indrek gelang es nicht, sich so schnell aus der Stadt frei zu machen, wie er geplant. Er mußte noch mehrere Nächte Unterschlupf suchen, und erst kurz vor den Feiertagen, als der Bahnverkehr schon lebhafter war, gelang es ihm abzureisen. Was den Unterschlupf anlangte, so betonte Wiljasoo auch in dieser Hinsicht die praktische Seite der Frage und gab daher der Meinung Ausdruck, daß Indrek eine große Dummheit begangen habe, als er von Lohks fortzog. Er hätte unbedingt dort bleiben müssen.
»In der Umgebung seines Nestes reißt ein Wolf nicht«, meinte er, »im Gegenteil, eher vertreibt er noch andere Wölfe.«
Aber nun war nichts mehr zu machen, Indrek mußte sich schon anders behelfen und sich woanders ein Nachtquartier suchen. Und das fand er schließlich dort, wo er es am wenigsten gesucht hätte. Als er bei der »Hundemammi« vorsprach, um seinen Hunger zu stillen, wurde er von der braven Wirtin freudig empfangen.
»Gott sei Dank!« rief sie aus, nachdem sie Indrek ins Hinterzimmer geführt hatte, wo sie ungestört waren. »Sie sind noch in Freiheit. Ich wähnte Sie längst auf dem Dom, denn dahin wird ja jetzt alles abgeführt, was nicht hat flüchten können. Alles ist in einer solchen Erregung, daß auch mir die kalten Schauder nur so über den Rücken laufen. Sogar der Hund hatte seine Ruhe verloren, war ganz nervös geworden und konnte weder bei Tag noch bei Nacht ein Auge mehr zutun. Auch seinen Appetit hatte er vollständig verloren. Quiente und wimmerte nur immerzu. Als ob er irgend etwas Giftiges gefressen hätte. Ich sprach darüber auch mit Wiljasoo, und der meinte gleich, das käme von der Revolution, dagegen hülfe nichts als ein ordentliches Chloroformpflaster auf die Nase, das benehme die Schmerzen sofort. Ich ließ das Tier nach seiner Vorschrift behandeln, und wissen Sie, was geschah. Der Hund krepierte. Als ich Wiljasoo das erzählte, zuckte er die Achseln und meinte: »Was ist da zu machen? Ein Opfer der Revolution mehr. Die Revolution verlangt eben Opfer, auch unter den Hunden.« Und so bin ich nun ganz allein. Meine eine Tochter ist mit irgendeinem Revolutionär, der hier regelmäßig speiste, geflohen. Ich glaube, er ist ein ungetaufter Jude, so ein brünetter Kerl, mit einer großen krummen Nase und üppigen roten Lippen; die andere – Sie mögen mir glauben oder nicht – ist die Geliebte irgendeines Menschen geworden. Um mich kümmert sich niemand; es heißt einfach – jetzt haben wir eben Revolution.«
In solch einer elenden, verlassenen Lage befand sich Frau Kuusik, als Indrek ihr erzählte, daß seine Lage noch viel schlimmer sei, denn er wisse überhaupt nicht, wo sein Haupt hinlegen.
»Bleiben Sie hier«, erklärte die gute Frau sogleich, »bleiben Sie einfach mir zur Gesellschaft hier, denn hier sucht sie kein Mensch.«
Und auch Indrek war der Meinung, daß er hier einen guten Unterschlupf finden würde, denn hier verkehrten so viele Leute, daß sein Gehen und Kommen bei niemandem auch nur im geringsten Aufsehen oder Verdacht erregen konnte.