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Am nächsten Morgen erwachte Indrek durch das Läuten einer Glocke, einer ganz gewöhnlichen Deichselglocke, wie sie auf dem Lande die Gefährte der Marschälle führen, wenn sie zur Hochzeit jagen; wie man sie am Weihnachtsabend lustig bimmeln hören kann, wenn man in der Dunkelheit, vom Weihnachtsgottesdienst heimfahrend, an den anderen Schlitten vorüberjagt, nach Hause, wo in den Ecken der Stuben Heu oder Stroh aufgeschüttet und alles erfüllt ist vom leckeren Duft der Weihnachtsspeisen, der sogar bis auf den Hof hinausdringt. Und so überkam denn Indrek auch heute im Halbschlaf ein Gefühl heimatlichen Behagens, aber schon im nächsten Augenblick gellte die Glocke dicht vor seinem Ohre so heftig, daß ihm der süße Dusel wohl vergehen mußte. Mit einem Ruck richtete er sich auf: die rußige Deckenlampe brannte, und der Lette, der ihm gestern geholfen hatte, seine Kiste zu tragen, stand mit der Glocke gerade vor ihm. Außer Indrek rührte sich niemand. Aber als Kopfschneider fortfuhr zu läuten, wurde ihm von mehreren Seiten zugeschrien:
»Genug! Scher dich zum Teufel! Dämelack! Mach, daß du fortkommst!«
Einigen schien das Läuten Spaß zu bereiten. Sie riefen:
»Komm näher! Ich kann nicht recht hören. Morgen bring gleich zwei Glocken mit!«
Als der Lette sah, daß die Esten und Russen – andere Nationalitäten waren in Sibirien nicht vertreten – sich zu regen begannen, faßte er den Glockenklöppel und verschwand durch die Luke nach unten. Sogleich sprang jemand aus dem Bett und löschte die Lampe, worauf alle sich auf die andere Seite drehten zu einem Morgenschläfchen, wie man zu sagen pflegte. Auch Indrek kroch wieder unter die Decke, aber schlafen konnte er nicht mehr, während um ihn her alsbald das tiefe Atmen der Schlafenden, ja richtiges Schnarchen hörbar wurde. Aber lange währte das nicht, denn schon ließen sich von der Treppe her tappende Schritte vernehmen, und durch eine Ritze der Luke drang ein Lichtstrahl in den Raum.
»Jungens, der Weiße!« rief einer der Knaben.
Im selben Augenblick hob sich die Luke, und Herrn Ollinos weißer Kopf tauchte auf. Das flackernde Licht einer Kerze warf seine matten Strahlen auf die Betten und Wände.
»Was soll das heißen?« fragte Ollino. »Ist hier nicht geläutet worden?«
»Wir haben nichts gehört«, kam von mehreren Seiten die Antwort.
»Morgen muß also stärker geläutet werden«, meinte Ollino. »Aber nun auf, auf!«
»Es ist so kalt, ich kann nicht, ich klappere unter der Decke«, jammerte ein kleiner Junge.
»Unten findet sich kaltes Wasser, das wärmt«, tröstete Ollino, und er gab nicht früher Ruhe, bis die Jungen bis auf den letzten aus dem Bette waren. Einer nach dem anderen verschwand durch die Luke, um sich nach unten in den Waschraum zu begeben. Das ganze Haus schien unter den verschlafenen, achtlos polternden Schritten zu erzittern.
»Ruhe da!« rief Ollino durch die Luke den Jungen nach. »Als hättet ihr eisenbeschlagene Hufen!«
Aber der polternde Strom breitete sich, immer tiefer versickernd, immer weiter über das ganze Haus aus.
»Man könnte sich ja hier oben waschen, dann würde es nicht solch ein Gepolter geben«, meinte Indrek zu einem Kameraden.
»Da müßte alles Wasser hinaufgeschleppt werden, und außerdem würde es im Winter gefrieren«, versetzte dieser.
»Wie soll man denn da schlafen?« fragte Indrek betroffen.
»Das wirst du schon sehen, wenn es soweit ist«, lautete die ruhige Antwort. »Der Geist wird schon über dich kommen, wie bei den anderen auch.«
Den Sinn dieser Worte verstand Indrek nicht, aber schon nach wenigen Wochen war er ihm absolut klar: dann balgte er sich ebenso wie die anderen herum, um seinen Körper warm zu bekommen und mit warmem Körper ins kalte Bett zu kriechen. Es war gleichsam eine besondere, allabendliche Turnübung, bei der so manches Hemd, so manche Hose in Fetzen ging. Es gab sogar Jungen, die in solch eine »Begeisterung« gerieten, daß sie das Hemd überhaupt abzogen, so daß die blanken Leiber und Arme blitzten. Diese »Begeisterungsorgien« waren natürlich auch der Aufsicht bekannt, aber man ließ die Jungen im allgemeinen gewähren, es sei denn, daß sich an diesen Orgien auch die unteren Stockwerke zu beteiligen begannen, wo dann der Lärm sich freilich zu einem ohrenbetäubenden Getöse steigern konnte. In die allgemeine Begeisterung wurden dann auch zuweilen Stühle, Tische und Betten hereingezogen, überhaupt alles, was einem nur in die Hände fiel, wobei so mancher dieser Gegenstände Beine und sonstige Körperteile verlor. Man riß sich um einen Stuhl, balancierte auf einer Bettkante, sprang in Reihen über einen Tisch, stand Kopf, schlug Purzelbäume, tobte ohne jeglichen Sinn noch Verstand. Indrek hatte früher eigentlich nie arg getobt. Aber hier lernte er es von den anderen, die allgemeine Begeisterung steckte gleichsam an. Es schien wirklich, als wären alle von einem Geiste der Raserei besessen.
Es gab auch noch ein anderes Mittel der Erwärmung: man stibitzte von unten Holz und schleppte es nach oben, nach Sibirien, oder man überredete Jürka, es nach oben zu tragen, wo es dann sorgfältig versteckt wurde, etwa zu einigen Scheiten unter den Kopfkissen. Wenn dann des Abends alles still geworden war, kletterte man aus den Betten und heizte den großen eisernen, mitten im Bodenraum stehenden Ofen an, manchmal so gründlich, daß der glühende Ofen zu leuchten begann, und dann rückte man die Betten an diese Wärmequelle heran. Zum Morgen war der Ofen aber natürlich längst abgekühlt und Sibirien wieder kalt wie gewöhnlich: Darum erklärten sich viele Jungen mehr für den »Geist« als für die Ofenwärme.
Und so erhob sich denn in Sibirien jeden Abend und manchmal auch des Morgens ein Höllenlärm, der einen Staub aufwirbelte, als hätte man hier Neuland gerodet oder Korn gedroschen.
Nach dem Waschen rollte das Gepolter der trappelnden Füße aufs neue nach oben und dann wieder nach unten in die Klassen zum Unterricht. Indrek ging mit den übrigen, richtiger mit dem kleinen Lible, der auch in die vierte Klasse gehörte. Und Lible war es auch, der ihn als erster in die Verhältnisse einweihte. In seiner Hand erblickte Indrek auch zum ersten Male ein aus einzelnen losen Blättern bestehendes Buch ohne Deckel (Bücher hießen in Libles Sprache Kohl), in welchem er die Worte las: amo, amas, amat und mensa, mensarum. Aus irgendeinem Grunde prägte sich ihm gerade dieser Kasus dieses unbekannten Wortes besonders tief ein.
» Mensarum«, murmelte er vor sich hin, » mensarum«.
»Willst du, ich verkauf dir diesen Kohl?« fragte Lible.
Und ohne daß er sich überhaupt richtig Rechenschaft darüber abgab, ob er diesen alten »Kohl« überhaupt brauchen könne, suchte Indrek aus der Tasche sein Geld zusammen und zahlte den geforderten Preis. Wie sich später herausstellte, war es nahezu der Preis des neuen Buches. Aber das tat nichts zur Sache, Indrek nahm das Lible später niemals krumm, denn er war ungemein zufrieden damit, das erste beste Buch gekauft zu haben, in dem zu lesen stand: mensa, mensarum.
Und noch einen anderen »alten Kohl« kaufte Indrek Lible ab, das Buch nämlich, in welchem sich jenes seltsame Wort so häufig wiederholt fand, das ihn vor Jahren so bezaubert hatte. Das Wort und das ganze Buch hatten inzwischen freilich ihren Zauber verloren, aber Indrek kaufte es dennoch, so sehr hing er an der Vergangenheit und ihren Erinnerungen.
Lible warf noch mehr »Kohl« auf den Markt, all seinen Kohl hätte er zweifellos auf den Markt geworfen, wenn Indrek ihn nur hätte kaufen wollen. Aber nein, Indrek kaufte nur diese beiden Bücher.
»Warum verkaufst du deine Bücher?« fragte Indrek.
»Um Essen zu kaufen«, versetzte Lible.
»Bekommt man denn hier so wenig zu essen?« fragte Indrek.
»Zu essen bekommt man schon, aber keine Nahrung«, erklärte Lible, ohne daß Indrek ihn recht verstanden hätte. Erst am Eßtisch wurde ihm klar, was diese Worte zu bedeuten hatten, denn hier erschien Lible mit eigener »Menage« – Weizenbrot, Butter und Wurst, während vom »Alten« und seiner »Tante« nur schon mit Butter fertig bestrichene Schnitten Roggenbrot geliefert wurden, Weizenbrot niemals, allenfalls ein wenig Semmel des Morgens.
»Was mag der kleine Dämelack da fressen, seinen Kohl oder seine Klamotten?« fragte jemand über den Tisch.
»Natürlich seinen Kohl, immer seinen Kohl«, lautete die Antwort.
»Dann muß er wohl einen großen Dämelack gefunden haben, der ihm seinen Kohl abgekauft hat«, meinte der erste.
»Der große Dämelack sitzt neben dem kleinen«, sagte ein Dritter.
Über die Gesichter der Jungen verbreitete sich ein neidisches Grinsen.
Aus diesem Gespräch entnahm Indrek, daß Lible der kleine Dämelack genannt wurde und er vermutlich der große, denn er hatte ja Lible seinen Kohl für teures Geld abgekauft und ihm damit die Möglichkeit gegeben, sich vor den Augen der anderen bessere Bissen zu gestatten. Dieser Spitzname blieb sofort an Indrek haften, vermutlich gerade auch aus dem Grunde, weil er in der Klasse sowohl als auch am Speisetisch neben dem kleinen Dämelack saß. Da aber dieser seinen Spitznamen mit gleichmütiger Ruhe trug, so folgte Indrek seinem Beispiel und ließ sich den großen Dämelack nennen, sogar auch dann noch, als er in der Klasse seinen Kenntnissen nach schon zu den ersten gehörte. Es kam vor, daß niemand eine Frage des Lehrers beantworten konnte; dann rief Lible mit seinem piepsenden Stimmchen: »Herr Lehrer, der große Dämelack weiß Bescheid!« Und der Lehrer antwortete lachend: »Ach so, also der kleine Dämelack weiß, daß der große Dämelack Bescheid weiß? Nun, also bitte, antworten Sie.« Und Indrek erhob sich und antwortete, als stünde er schon im Kirchenbuch als großer Dämelack verzeichnet.
Solche sonderbare Folgen hatte die Tatsache, daß Indrek von Lible die beiden alten Bücher gekauft hatte. Aber seinen zweiten Kauf mußte Indrek später bedauern, den Kauf des Buches nämlich, das er wegen des Wortes »Papst« erstanden hatte, das ihn seinerzeit so seltsam bezaubert hatte. Denn in der Schule gab es einen Lehrer, der den Spitznamen »der Papst« führte, und dieser Lehrer verkehrte das Traumbild seiner Jugend in sein direktes Gegenteil. Das war ein vierschrötiger, gewichtiger Mann mit einem großen, gleichsam vierkantigen Schädel und einem dicken, roten Nacken, mit festen Kiefern, breiten Backenknochen, stets fest aufeinandergebissenen Zähnen, die sogar seine Stimme beim Sprechen behinderten, dicken, roten, langen Lippen, die stets wie in einem überlegenen oder verächtlichen Lächeln ein wenig schief nach links verzogen waren, die Stirne oben schmäler, an den Augenhöhlen breiter, die Haare borstig in die Höhe stehend, die Augen gleich schmalen Strichen, in denen es gleichsam schmerzlich zuckte und flimmerte. So sah der Mann aus, der den Namen trug, der einst Indreks träumerische Sehnsucht symbolisiert hatte. Und um dieses »Papstes« willen hatte Indrek das Buch gekauft!
Und doch trug Herr Wihalepp seinen Namen zu Recht, denn er war fest im Glauben, und Gottes Wort war in seinen Augen das ewige, unveränderliche Gut, von dem auch nicht ein Tüttelchen abbröckeln darf. Wie ein steinerner Götze, die Augen zugekniffen, saß er oben auf dem Katheder, den Bleistift aufrecht in der Hand, wenn er biblische Geschichte erzählen oder Bibelsprüche herunterschnurren ließ, immer wieder mit dem Bleistift aufs Katheder pochend und mit leiser, unnatürlich zarter, fast weiblicher Stimme bemerkend:
»Halt! Noch einmal! Sie haben da ein ›und‹ ausgelassen.«
Und der Schüler mußte von neuem beginnen. Aber alsbald erfolgte ein neues Pochen des Bleistifts, und die zarte Stimme sagte:
»Im Buche steht an dieser Stelle: Und es geschah, daß ... Darum nochmals diese Stelle.«
Kaum war dieser Fehler verbessert, als den Schüler schon ein neues Unglück ereilte, indem der »Papst« mit weicher Stimme bemerkte:
»Liebes Kind, was schwafeln und kohlen Sie da! Da steht doch ›auch‹ und nicht ›und‹. Also nochmals die Stelle.«
Besonders schwierig war es, bei seiner Antwort den richtigen Ton zu finden. »Biblische Geschichte und Katechismus sind doch nicht Märchen oder alte estnische Sagen, die vor Gott nicht bestehen können, sondern reines Gotteswort«, sagte Herr Wihalepp belehrend. »Und Gotteswort ist so heilig, daß wir sündigen Menschen es eigentlich gar nicht in unser schmutziges Maul nehmen dürften, aber wenn wir es dennoch um unserer Seelen Seligkeit willen tun, so müssen wir das mit gefalteten Händen und möglichst sanfter, bescheidener Stimme tun wie ein Mensch, der seine Sünde bekennt und um Vergebung bittet. Darum also nicht so, sondern so ...«
Und Herr Wihalepp zeigte selbst an, wie ein Mensch das heilige Gotteswort in sein sündiges Maul zu nehmen habe.
Einen etwas anderen Begriff erhielt Indrek vom heiligen Gotteswort bei der Morgenandacht, zu der man sich vor Beginn des Unterrichts im Speisezimmer versammelte, wo Tische und Bänke für diese Zeit in eine Ecke zusammengeschoben wurden, um Raum zu gewinnen. Die Andacht hielt Herr Maurus selbst, wobei er sich eines ehrwürdigen, alten Buches bediente, dem die Jahre den Einband nebst den ersten und letzten Seiten geraubt hatten. Tagsüber fristete dieses Buch, das Lible den »Betkohl« nannte, auf dem Fensterbrett des Speisezimmers ein unbeachtetes, bescheidenes Dasein. Wenn Herr Maurus es des Morgens zur Andacht aufschlug, schob er seine Brille auf die äußerste Nasenspitze, als könne er bloß auf diese Weise das heilige Gotteswort richtig entziffern. Aber schon am zweiten Tage hatte Indrek den Sinn dieses auffallenden Manövers erfaßt. Plötzlich unterbrach Herr Maurus nämlich sein Gebet, schleuderte das Buch auf die Fensterbank und stürzte sich wie ein wütender Stier unter die Knaben, wo er Lible am Kragen packte, der sich mit einem anderen niedergehockt hatte, um hier ungestört irgendwelche geschäftlichen Transaktionen zu tätigen. Herr Maurus schleppte die Sünder ans Fenster und zupfte sie hier mit beiden Händen tüchtig an den Ohren.
»Solch ein Schinder«, sagte er zu Lible, »verdirbt mir hier meine Jungen, ruiniert meine ganze Schule. Während Herr Maurus betet, zählt er Geld. Und so kurze Haare hat er, daß man ihn nicht einmal zausen kann. Was soll nun Herr Maurus mit solch einem Glattschädel beginnen? Warum sind deine Haare so kurz, daß Herr Maurus sie nicht fassen kann? Antwort!«
»Herr Direktor, Sie haben doch selbst befohlen, daß die Haare kurz geschoren werden sollen«, versetzte der Junge mit weinerlicher Stimme.
»So kurz habe ich es nicht befohlen!« sagte der Direktor. »Immer nur so kurz, daß man sie noch fassen kann, wie sollte man wohl sonst mit dir umgehen. Das nächste Mal nicht so kurz, behalt das. Und nun stell dich hier neben mich, damit du mir meine Jungen nicht mehr verderben kannst.«
Und dann griff Herr Maurus aufs neue zum Gebetbuch und begann daraus vorzulesen, aber seine Augen blickten nur selten auf die Schrift, belauerten vielmehr über die Brille hinweg die Jungen. Indrek schien es überhaupt zweifelhaft, ob der Direktor las, was im Buche stand, es sei denn, daß er sich seinen Inhalt im Laufe der Jahre auswendig eingeprägt hatte.
»Wo ist dein Geld?« fragte der Direktor nach der Andacht Lible. Und als dieser ihm einige Kupferlinge entgegenhielt, rief er: »Während der Andacht trägt er Geld in der Hand, solch ein Schinder! Wo hast du dieses Geld her?« fragte er dann.
»Der große Dämelack hat es ihm gegeben«, rief irgendein Galgenstrick.
»Wer ist das?« rief der Direktor. »Wer ist der große Dämelack? Du bist der kleine, aber wer ist der große?«
»Paas, dieser lange; der vor einigen Tagen nach Sibirien hinaufzog«, erklärte Herr Ollino.
»Paas! Paas!« rief der Direktor. »Wo sind Sie?«
»Hier«, antwortete Indrek, der wegen seiner Länge hinter den anderen an der Wand stand.
»Kommen Sie hierher!« befahl der Direktor, und als Indrek sich endlich durch die Knabenschar durchgedrängt hatte und vor dem Direktor stand, sagte dieser: »Was sagt Herr Maurus? – Er sagt: niemandem Geld geben als nur allein Herrn Maurus. Warum geben Sie diesem Kleinen Geld, der Sie selbst so lang sind? Antworten Sie! Schnell! Herr Maurus hat keine Zeit. Warum?«
»Ich kaufte ein Buch von ihm«, versetzte Indrek.
»Wie wagen Sie Hund es, von meinen Jungen Bücher zu kaufen? Habe ich Ihnen zu diesem Zweck einen Rubel Geld gegeben, damit Sie mit Ihrer Länge anfangen, bei meinen Jungen Bücher zu kaufen? Was für ein Buch war das?«
»Eine lateinische Grammatik.«
»Lible, warum hast du dieses Buch verkauft?« fragte der Direktor.
»Es war ein altes, zerrissenes Ding, mit dem nichts mehr anzufangen war«, versetzte Lible.
»Wieso nichts anzufangen?! Du Schinder, kommst hier zur Andacht, um zu lügen. Sitzt nun schon das dritte Jahr in derselben Klasse und weißt nichts mit der lateinischen Grammatik anzufangen. Herr Maurus schämt sich direkt, von deinem ehrlichen Vater das Schulgeld anzunehmen, denn sein Sohn hat im vorigen Jahr nichts gelernt und auch im vorvorigen Jahre nichts gelernt, und in diesem Jahre verkauft er sogar seine Bücher den anderen. Glaubt ihr vielleicht, daß er in diesem Jahre anfangen wird zu lernen? Nein, solch einer, der seine Bücher anderen verkauft, der fängt nie an zu lernen. Und was soll Herr Maurus mit solchen Jungen anfangen, die nicht lernen? Braucht er solche Jungen? Nein, solche Jungen kann er nicht brauchen. Auch ihr Geld kann er nicht brauchen. Herr Maurus braucht euch alle überhaupt nicht, er kann auch ohne euch auskommen. Aber wer braucht euch denn? Das estnische Volk braucht euch, das estnische Volk und unser gnädiger Kaiser, die brauchen euch. Aber nun sagt mir doch selbst, was fängt das estnische Volk und unser gnädiger Kaiser mit solchen Jungen an, die ihre lateinische Grammatik verkaufen, während der Andacht unter den Tisch kriechen und dort Geld zählen? Solche Jungen kann weder das estnische Volk noch Seine Kaiserliche Majestät brauchen. Und Sie Langer da, was haben Sie von Ihrer Länge für einen Nutzen, wenn Sie hingehen und diesem Kleinen seine Bücher abkaufen! Sehen Sie sich doch bitte alle diesen Langen an, sein langes Gesicht, er ist der, welcher ...«
Weiß Gott, wie lange diese Rede noch gewährt und wohin sie hinausgeführt hätte, wenn Herr Ollino nicht an den Direktor herangetreten wäre und ihm etwas auf deutsch ins Ohr geflüstert hätte. So brach er im halben Satze ab und bemerkte bloß noch: »Später, später! Herr Ollino wird mich später daran erinnern.«
Er machte mit der Hand eine unbestimmte Bewegung, und die Jungen begannen polternd das Zimmer zu verlassen. Nun schien dem Direktor plötzlich wieder etwas einzufallen, und er schickte sich an, wieder das Wort zu ergreifen, aber niemand hörte mehr auf ihn, so daß diese Morgenandacht gewissermaßen halb geblieben war.
»Womit wird das nun enden?« fragte Indrek in der Klasse Lible.
»Was?« fragte Lible verständnislos.
»Das mit den Büchern«, sagte Indrek.
»Sei doch nicht so dämlich!« rief Lible, »was geht das den Alten an, wo ich meine alten Bücher lasse!«
Aber augenscheinlich ging das den Direktor doch ein wenig an, denn nach dem Mittag ließ er Indrek mit den gekauften Büchern zu sich kommen.
»Was haben Sie für die bezahlt?« fragte er, die Bücher betrachtend, und als Indrek den Preis genannt hatte, sagte der Direktor: »Da haben wir's nun! Lange Knochen, kurzer Verstand. Der kleine Lible ist ein Schlaufuchs, den werde ich mir noch vornehmen. Wozu haben Sie dieses zerfetzte Zeug gekauft?« fragte der Direktor dann, auf die Bücher weisend.
»Sie gefielen mir«, sagte Indrek freimütig.
»Gefielen Ihnen«, wunderte sich der Direktor und betrachtete Indrek, als zweifle er an seinem Verstande. Dann wandte er sich um, blickte aus dem Fenster und sagte zu sich selbst – Indrek hörte deutlich, wie er zu sich selbst sagte: