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Indrek aß und trank und las Zeitungen, aber Tigapuu kam nicht. Indrek bestellte noch ein Glas Tee und eine Semmel, aber Tigapuu ließ sich nicht blicken. Dann ging Indrek den Billardspielern zuschauen, aber auch das half nichts. Tigapuu war und blieb verschwunden, als habe ihn die Erde verschlungen. Indrek wurde unruhig, und schließlich plagte ihn ein schwarzer Verdacht: vielleicht wollte Tigapuu ihn hereinlegen, ließ ihn hier warten und war selbst schon längst daheim und machte sich über ihn lustig.
Um halb elf riß Indrek die Geduld; er zog seinen Mantel an und ging. Mit schwerem Herzen freilich, denn was würde Tigapuu sagen, wenn er nun doch noch zurückkehrte und ihn nicht mehr vorfand? War das kameradschaftlich von ihm? Hatte er nicht versprochen zu warten? Unten im Treppenhause, wo sie so um das Geld gefeilscht hatten, machte er eine Weile halt. Vielleicht kam Tigapuu doch noch. Aber nein, Tigapuu kam nicht. Und so machte Indrek sich denn allein auf den Heimweg. Und als er so einsam seines Weges ging, da wollte es ihm scheinen, als passiere er diese Straßen zum ersten Male. Nur die Laternen an den Straßenecken, deren Licht eine Art Heiligenschein umgab, erinnerten ihn daran, daß er solche von einem matten Dunstkreis umgebene Lichter schon früher mal gesehen hatte. Wann war das doch gewesen? Ach ja! Damals als ihm an der offenen Türe das fremde Mädchen entgegengelächelt hatte. Noch heute wurde ihm warm ums Herz bei dieser Erinnerung.
Die Hofpforte war verschlossen. Auf sein Klingeln an der Haustüre öffnete ihm Kopfschneider.
»Ist Tigapuu nicht gekommen?« fragte er.
»Nein«, versetzte Indrek. »Ist er nicht schon zu Hause?«
Der Lette verneinte und sagte:
»Sie sollen nach oben gehen.«
»Sie beide mit Tigapuu.«
»Aber der ist doch noch nicht gekommen«, meinte Indrek in der Hoffnung, sich auf diese Weise um das lästige Verhör drücken zu können.
»Dann gehen Sie allein«, versetzte der Lette, »anders geht es nicht.«
Und so stieg Indrek denn die Treppe empor, ohne erst den Mantel abzulegen.
Der Direktor war schon zu Bett gegangen.
»Sind Sie es, Paas und Tigapuu?« hörte man ihn hinter seinem Vorhang hervor fragen, als Indrek eintrat, und als er hörte, daß dieser allein war, sagte er: »Treten Sie näher.«
Indrek trat hinter dem Vorhang, der ihn vor den Augen des Direktors verbarg, hervor.
»Näher«, befahl der Direktor, und als Indrek zögerte, weil er den durch den Vorhang abgetrennten Raum gewissermaßen für heilig hielt, so daß er ihn nicht zu betreten wagte, richtete Herr Maurus sich auf seinem Lager auf und klopfte mit der Hand auf die Decke, ihn damit auffordernd, Platz zu nehmen. »Näher, noch näher!« sagte er. »Wie soll ich denn sonst mit Ihnen reden, wenn Sie so weit weg stehen und dazu noch so lang sind, daß meine alten Augen nicht einmal Ihre Züge unterscheiden können.«
Indrek trat einen Schritt näher und blieb am Fußende des Bettes stehen. Aber das genügte dem Direktor noch nicht, und er ließ nicht nach, bis Indrek sich scheu auf die äußerste Kante des Bettes gesetzt hatte. Dann sagte er: »Dreister, dreister! Wenden Sie Ihre Augen mir zu. So! Und nun hauchen Sie mich an!« Und als Indrek diesem Befehl mehrfach Folge geleistet hatte, sagte der Direktor lächelnd: »Rein, absolut rein, wie aus dem Munde eines jungen Mädchens. Nur junge Mädchen haben solch einen reinen Atem, Jungfern, das heißt, die anderen nicht mehr.« Und lachend fuhr er fort: »Auch Sie sind eine Jungfer, so unschuldig und rein. Das habe ich natürlich gleich bemerkt, aber Herr Maurus muß immer kontrollieren, immer kontrollieren, wenn jemand mit diesem Tigapuu ausgeht. Denn Tigapuu, der ist keine Jungfer mehr. Der hat nicht solch einen Atem wie Sie. Nicht in die Nähe! Oh, seinen Atem kenne ich! Sogar seine Kleider riechen anders, wenn er heimkommt. Sie duften noch nach Wald und Feld«, lobte der Direktor und legte seine Hand Indrek aufs Knie, worauf er den Versuch machte, seine Hand zu streicheln. Indrek erhob sich.
»Ach ja, warten Sie, warten Sie!« sagte der Direktor nun. »Was ich sagen wollte.« Er hob die Hand vor die Augen, als versuche er, sich auf etwas zu besinnen, aber Indrek wollte es scheinen, als beobachte er ihn durch die gespreizten Finger hindurch. Nach einer Weile sagte er dann: »Richtig, ja! Aber wo ist denn Tigapuu? Warum erzählen Sie mir nichts von dem? Ich habe Sie doch zusammen ausgeschickt. Wo ist er denn geblieben?«
»Er ging fort.«
»Was heißt das? Wohin?«
»Das sagte er nicht.«
»Aber das Geld, das Geld gab ich doch Ihnen.«
»Ich behielt zwanzig, er behielt vierzig«, erklärte Indrek.
»Sie großer Dämelack!« rief der Direktor, aber im Tone seiner Stimme lagen weder Tadel noch Vorwürfe, sondern bloß belustigtes Mitgefühl. »Darum gab ich das Geld doch Ihnen, damit er nirgendswohin gehen kann«, sagte er. »Mit den vierzig, die er von mir erhielt, wäre er nirgendswohin gegangen. Aber so hatte er achtzig. Ja, achtzig«, wiederholte er und fügte dann hinzu: »Aber auch das ist zu wenig, um irgendwohin zu gehen. Er muß noch von irgendwoher Geld gehabt haben. Hat er Sie nicht angepumpt? Natürlich hat er Sie angepumpt. Ich sehe es Ihrem Gesicht an. Sie hatten ja noch ein wenig für sich übrigbehalten. Herr Maurus sagte Ihnen wohl, Sie sollten das Geld ihm abgeben, er würde es ins Buch eintragen. Aber die jungen Leute wollen dem alten Maurus nicht vertrauen, junge Leute vertrauen überhaupt immer nur jungen Leuten, nicht alten. Was hat er denn bei Ihnen versetzt? Er versetzt ja immer etwas, ganz gleich, ob die Sachen nun ihm gehören oder jemand anders. Er ist ja ein verrückter Kerl. Sie haben ihm doch nicht viel gegeben?«
Das Ende vom Liede war, daß Indrek schließlich offen alles berichtete, sowohl was den Pump anlangte als auch den gemeinsamen Ausgang mit Tigapuu.
»Ich sagte es ja gleich, Tigapuu mußte mehr Geld haben!« rief der Direktor triumphierend. »Herr Maurus kennt doch seinen Tigapuu! Aber daß Sie ihm auf einmal gleich einen ganzen Rubel geliehen haben, das hätte ich doch nicht geglaubt. Lang genug hat der liebe Gott Sie wachsen lassen, wenn er nur auch ein wenig Verstand dazugegeben hätte. Aber schadet nichts! Das wird auch schon noch kommen! Tigapuu werden Sie bald durchschauen lernen. Was für ein Schelm der Kerl ist. Aber sonst eine treue, brave Haut, nicht so wie die anderen hier – einfach Schelme und weiter nichts. Sehen Sie sich vor denen vor. Tigapuu stiehlt wenigstens nicht.«
Der Direktor lachte gutmütig, und auch Indrek versuchte zu lachen, aber das wollte ihm nicht so recht gelingen.
»Nun können Sie gehen«, sagte der Direktor schließlich. »Aber das bleibt unter uns, was wir hier gesprochen haben. Herr Maurus vertraut Ihnen, darum redet er so offen. Also, gute Nacht, gute Nacht! Gehen Sie jetzt schlafen, gehen Sie gleich schlafen.«
Wann Tigapuu heimgekehrt war, das wußte Indrek nicht denn er schlief oben in Sibirien, Tigapuu unten. Aber am nächsten Morgen erwischte er Indrek sogleich, zog ihn in einer leeren Klasse in eine Ecke und sagte:
»Warum hast du nicht auf mich gewartet?«
»Ich habe ja gewartet, aber du kamst ja nicht.«
»War das auch ein Warten, bis halb elf. Und du willst mein Freund sein. Ich renne in den Nüchternheitsverein, du bist nicht da! Ich laufe hinaus, vielleicht daß du draußen an der frischen Luft ein wenig auf und ab spazierst. Keine Spur von dir. Ich renne auf und nieder, sehe mich nach allen Seiten um, aber du bist wie vom Erdboden verschwunden. Du magst es mir nun glauben oder nicht, aber so etwas ist mir noch nie passiert. Und dafür hat der Alte mir nun den Kopf gewaschen. Er hat natürlich dir gegenüber gründlich auf mich geschimpft, nicht?«
»Nein«, versetzte Indrek wortkarg.
»Was schwafelst du da!« rief Tigapuu. »Er fragte natürlich nach dem Gelde?«
»Ja, nach dem Gelde fragte er«, bestätigte Indrek.
»Du sagtest natürlich, daß wir hübsch halbpart gemacht haben?«
»Nein, ich sagte, wie die Sache sich wirklich verhielt«, erklärte Indrek.
»Mensch, du bist tatsächlich verrückt!« schrie Tigapuu. »Dir kann man doch auch nicht über den Weg trauen. Bei Gott, ein Schwein, weiter nichts!«
»Wieso?« fragte Indrek, plötzlich ernst geworden, nahezu zornig.
»Er fragt noch!« rief Tigapuu. »Natürlich ein Schwein! Ein Schwein, das andere angibt. Spion! Jetzt verstehe ich erst, warum der Alte das Geld dir gab. Du bist ja eben solch ein Kerl wie Lible und Kopfschneider.«
Indrek wandte sich wortlos zum Gehen, aber bevor er noch einen Schritt getan hatte, faßte Tigapuu ihn am Arm und sagte:
»Wohin läufst du. Wenn du ein Ehrenmann bist, komm her, laß uns die Sache klären.«
»Da ist nichts zu klären, laß mich in Frieden«, rief Indrek und machte den Versuch sich loszureißen, und als Tigapuu, um ihn zurückzuhalten, noch fester zupacken wollte, geschah etwas für beide Teile Unerwartetes, wenigstens hätte Indrek später nicht zu sagen gewußt, ob es Absicht oder Versehen gewesen. Im Bestreben, sich Tigapuus Griff zu entwinden, machte er eine heftige, ärgerliche Bewegung und fuhr dabei mit der Handfläche Tigapuu ins Gesicht.
»Teufel!« brüllte Tigapuu. »Was soll denn das bedeuten? Raufen? Mit mir raufen? Mir, Tigapuu ins Gesicht schlagen? Bitt' sofort um Verzeihung oder ...« Tigapuu war schon an der Tür und vertrat ihm den Weg.
»Du bekommst noch mehr, wenn du mich nicht in Frieden läßt«, erwiderte Indrek zornig. Aber im selben Augenblick bekam er mit der Faust einen Schlag unters Kinn, und er wäre mit dem Rücken gegen die Wand gestürzt, wenn seine Hand nicht, mechanisch am Tische nach einer Stütze suchend, einen losen Pultdeckel gefaßt hätte, wie sie sich an so manchem Schultisch fanden. Mit dem Deckel in der Hand taumelte er immerhin noch einige Schritte rückwärts gegen die Wand. Vor Zorn und Schmerz wurde ihm bunt vor den Augen, und als Tigapuu sich ihm von neuem näherte, hieb er ihm mit dem Deckel über den Kopf, ohne sich selbst über sein Tun Rechenschaft zu geben. Tigapuu stürzte wie gefällt zu Boden, wo er liegenblieb. In seinen Haaren zeigte sich Blut, das auch über sein Gesicht herabzusickern begann. Indrek stand da, als hätte er selbst mit der Waffe, die er immer noch in der Hand hielt, eins auf den Kopf bekommen. Dann stürmte er zur Klasse hinaus, ohne zu wissen, wohin sich wenden, was tun, nur fort, fort. Vermutlich hätte sein Lauf ihn nach oben zum Direktor geführt, wenn ihm nicht zufällig Ollino in den Weg getreten wäre, der ihn anhielt und ruhig fragte:
»Was ist los? Was ist passiert? Wie sehen Sie denn aus?«
»Ich habe Tigapuu totgeschlagen«, antwortete Indrek und brach, ohne recht eigentlich zu wissen warum, in Tränen aus.
»Warum? Wo? Wann denn?« forschte Ollino.
»Soeben ... dort ... in der Klasse«, versetzte Indrek.
Sie begaben sich nach dem Tatort. Die aufregende Nachricht ging wie ein Lauffeuer durch alle Räume, und von allen Seiten strömten Neugierige herbei. Zum Glück klingelte es gerade in diesem Augenblick, und Ollino herrschte die Jungen an:
»Zum Essen! Sofort! Daß ich keinen von euch mehr hier sehe!«
So blieben die beiden allein und gingen in die Klasse, wo Tigapuu liegen sollte. Aber der saß schon auf der Bank, gerade dort, wo der Deckel fehlte und wischte sich das Blut aus dem Gesicht.
»Schließen Sie die Türe, daß niemand hereinkommt«, sagte Ollino zu Indrek.
»Das Teufelsvieh hat mir mit dem Pultdeckel auf den Kopf geschlagen«, fluchte Tigapuu. »Tausend Male habe ich dem Alten gesagt, daß die Tische repariert werden müssen, sonst könne noch ein Unglück geschehen, und da haben wir's nun. Dieses Schwein versteht ja noch nicht einmal ordentlich zu raufen. Gleich mit dem Pultdeckel. Und vermutlich mit der Kante, denn sonst ist mein Kopf nicht so empfindlich ...«
Als er Tigapuu so reden hörte, während Ollino seine Verletzung untersuchte, verrauchten Indreks Schreck und Mitleid, und er hatte die Empfindung, daß er Tigapuu auch in Zukunft mal eins über den Kopf geben könnte, wenn er dazu Anlaß geben sollte.
»Gehen Sie, feuchten Sie dieses Tuch in der Waschküche mit kaltem Wasser an«, sagte Ollino, indem er Indrek sein Taschentuch in die Hand drückte. »Und zu niemandem ein Wort, verstehen Sie!«
»Ich verstehe«, sagte Indrek und eilte durch den Korridor nach der Waschküche.
Inzwischen setzte Ollino die Untersuchung der Wunde fort.
»Nun, was ist?« fragte Tigapuu.
»Anscheinend tatsächlich mit der Kante«, meinte Ollino. »Eine lange rote Schramme.«
»Das dachte ich mir gleich«, sagte Tigapuu mit einer gewissen Genugtuung. »Denn mit der Fläche hätte es mich nicht so umgeworfen.« Und als Indrek wieder eintrat, fügte er hinzu: »Tölpel, gleich mit der Kante. Du verstehst aber auch gar keinen Scherz.«
Herr Ollino blieb völlig ruhig, als handle es sich um eine ganz gewöhnliche Angelegenheit. Nur als er mit seinen bleichen, gleichsam versteinerten Augen Indrek anblickte, wollte es diesem scheinen, als blitze in diesen toten Augen etwas auf, etwas gar nicht so Böses, wie Indrek meinte. Es schien, daß er etwas bemerken wollte, aber im selben Augenblick wurde die Türe aufgerissen, und der Direktor trat ein. Augenscheinlich war er bereits über den Vorfall unterrichtet.
»Was ist hier los?« fragte er Ollino.
»Nichts«, versetzte dieser ruhig. »Paas und Tigapuu haben getollt und dabei hat Tigapuu sich den Kopf am Tisch blutig geschlagen, sonst nichts. Eine Lappalie, bloß eine kleine Schramme.«
Aber den Direktor schien diese Antwort nicht zu befriedigen, er verlangte ergänzende Erklärungen. Und diese gab Tigapuu mit einer solchen Präzision und Wahrscheinlichkeit, daß dem Direktor nichts anderes übrigblieb, als so zu tun, als schenke er diesen Erklärungen Glauben. Aber nach Schluß der Stunde wurde Indrek zum Direktor befohlen.
»Sie sind der einzige ehrliche Mensch, der hier die Wahrheit spricht«, sagte Herr Maurus. »Die anderen flunkern alle. Auch Herr Ollino, wenn auch im Guten, nicht im Bösen. Und darum sagen Sie mir nun: was haben Sie heute morgen mit Tigapuu gehabt? Denn daß Sie etwas miteinander vorgehabt haben, das weiß Herr Maurus ganz genau. Warum blutete Tigapuu?«
Indrek stand betroffen da. Nicht als ob er sich gefürchtet hätte, seine Tat einzugestehen und, falls nötig, dafür auch seine Strafe zu tragen, nein, etwas anderes beunruhigte ihn. Wenn Ollino und Tigapuu nun wirklich zusammenhielten und den tatsächlichen Verlauf des Vorfalls vor dem Alten verheimlichten, und wenn er dann alles ausplauderte, wie stand er dann vor ihnen da. Roch das nicht tatsächlich schon ein wenig nach Angeberei, nach Spionage, wie sie beispielsweise Lible betrieb, der hinter allen Schlüssellöchern herumlauerte, um dann dem Direktor brühwarm Bericht zu erstatten? Der einzige Trost war für Indrek die Einsicht, daß diese Sache doch eigentlich nur ihn persönlich angehe und er daher handeln könne, wie ihm beliebe. Mochten die anderen schweigen, er würde nichts verheimlichen.
Und so berichtete er dem Direktor alles, um endlich Ruhe zu haben.
»Das habe ich mir gleich gedacht«, sagte der Direktor. »Tollen, das kennt Tigapuu ja gar nicht, der rauft gleich. Aber ich verstehe doch noch immer nicht, warum Sie sich so ereiferten. Sie haben doch so gute Augen.«
»Er schimpfte mich«, sagte Indrek, der diese Schimpfworte hatte unterschlagen wollen.
»Das will ich glauben«, sagte der Direktor, »das versteht er. Gleich heißt es – Angeber, Spion, Verräter! Was sagte er Ihnen denn?«
»Alles das sagte er mir«, murmelte Indrek widerwillig.
»Ach, alles das!« verwunderte sich der Direktor, gleichsam überrascht und neugierig. »Sie haben ihm doch nicht gesagt, was wir beide untereinander gesprochen haben? Sind Sie aber töricht! Schreiben Sie sich eins hinter die Ohren: schweigen, schweigen, schweigen! Denn sonst werden alle beginnen, Sie zu beschimpfen, wie Tigapuu Sie beschimpft hat. Und sagen Sie doch bitte selbst, was kann Herr Maurus dafür, wenn die ganze Schule anfängt auf Sie zu schimpfen. Und nächstens seien Sie vorsichtiger; mit dem Pultdeckel darf man nicht schlagen, namentlich nicht mit der Kante. Denn sonst können Sie einen Menschen wirklich totschlagen und nach Sibirien wandern. Nicht in unser Sibirien da oben, sondern in das andere, weite. Zum Glück handelte es sich dieses Mal um Tigapuus Kopf, der kann was vertragen. Aber alle haben nicht solche Köpfe. Darum vorsichtig, immer vorsichtig! Aber daß er Sie geschimpft hat, das tut nichts, denn Sie haben ja nichts Böses getan, als nur mir geholfen, die Schule verwalten. Denn wie soll Herr Maurus seine Schule erster Kategorie verwalten, wenn alle lügen und keiner die Wahrheit spricht, so daß Herr Maurus in seiner Schule schließlich der einzige ist, der von nichts weiß. Wenn jemand so ehrlich ist, daß er die Wahrheit spricht, so wird man ihn immer beschimpfen und verfolgen, denn die Wahrheit liebt niemand. Nur Herr Maurus liebt sie, denn er weiß, daß auf der Wahrheit die Welt gegründet ist und auch Herrn Maurus' große Schule. Wer die Wahrheit nicht liebt, der muß zugrunde gehen, aber wir beide gehen nicht zugrunde, denn wir lieben die Wahrheit, auch wenn man uns schimpft.«
Mit verlegenem Lächeln trat der Direktor näher und schob Indrek einige Silbermünzen in die Hand. Indrek wollte es scheinen, als habe er noch nie solch ein Geld in der Hand gehalten. Die Münzen schienen ihm glatt, kalt und schleimig, obgleich sie in Wirklichkeit warm und trocken waren. So ein sonderbares Geld war es, das der Direktor ihm in die Hand schob.
»Das ist dafür, daß Sie ein ehrlicher Mensch sind, ehrlicher Eltern Kind«, sagte er und wollte in eben diesem Sinne fortfahren, als er plötzlich den Ton änderte und Indrek heftig zu schelten begann.
»Du Hund!« rief er, »du bildest dir wohl ein, daß hier ein Krug oder eine Kneipe ist!«
Und als in diesem Augenblick an die Türe geklopft wurde und Libles neugieriges Gesicht ins Zimmer guckte, gab der Direktor Indrek einen heftigen Stoß vor die Brust.
»Türe zu!« rief der Direktor Lible zu, der natürlich mit einigen anderen hinter der Türe blieb, um zu horchen. Und zu Indrek gewandt, fuhr der Direktor fort: »Du verrückter Kerl! Deinetwegen wird schließlich noch meine Schule geschlossen werden. Aber wo sollen meine Jungen dann hin, und was soll dann aus dem estnischen Volke werden, wenn Herrn Maurus' Schule geschlossen wird? Soll ich in die Klasse gehen und allen sagen: Hütet euch vor dem langen Paas, denn der ist wohl von langem Wuchs, aber von kurzem Verstand. Oder soll ich Sie sofort ins Irrenhaus stecken? Denn wohin taugen Sie sonst! Und nun gehen Sie, ich werde sehen, was ich mit Ihnen mache.«
Bei den letzten Worten schob er Indrek noch einige Geldstücke in die Hand, aber die schienen ihm noch schleimiger als die ersten. Als Indrek die Türe öffnete, rief der Direktor ihm nach:
»Haben Sie nun begriffen, daß Herr Maurus recht hat?«
»Jawohl«, preßte Indrek durch die Zähne hervor, und dieses Wort kam ihm schwerer über die Lippen als alle Worte, die er bisher je im Leben gesprochen hatte. Er fühlte sich plötzlich so eingeengt von Lüge, Betrug und Heuchelei, daß er direkt körperliche Schmerzen empfand. Am Ort, den man für gewöhnlich allein aufsucht und den nur Frauen zu zweien zu besuchen pflegen, wickelte er das Geld in ein Papier und wollte es dann in den Orkus werfen. Aber plötzlich kam ihm ein neuer Gedanke, und er schob das Geld in die Tasche.
In der Klasse war Lible wie eine Biene um Indrek herum und versuchte, um jeden Preis zu erfahren, was sie mit Tigapuu vorgehabt hätten. Aber Indreks Mund blieb verschlossen.
Nach Schluß des Unterrichts ging Indrek Tigapuu besuchen, der zu Bett lag, eine Kompresse um den Kopf.
»Bist du aber ein Rowdy!« rief Tigapuu ihm gutgelaunt entgegen. »Gleich mit dem Pultdeckel. Nur gut, daß es nicht ins Gesicht traf. Daran sehe ich, daß du trotz allem mein Freund bist. Wenn wir jetzt nur ein paar Bier hätten oder sonst was, ha, wie das schmecken würde! Ich bin seit gestern völlig blank. Wenn sich bei dir eine Kleinigkeit finden sollte, so könnten wir auf unsere Versöhnung eins trinken und damit die ganze Angelegenheit begraben.«
Ohne ein weiteres Wort zog Indrek das Geld, das er vom Direktor erhalten hatte, hervor und schob es Tigapuu in die Hand.
»Mehr habe ich nicht«, sagte er. »Nimm damit vorlieb.«
»Weiß der Teufel! Du bist ein Ehrenmann!« rief Tigapuu erfreut, als er das Geld erblickte. »Raufen ist eine gute Sache, aber unsere Freundschaft soll das nicht beeinträchtigen. Ruf sofort Jürka.«
Als dieser gekommen war und die Anweisung erhalten hatte, Bier, Weißbrot und Rauchwurst zu besorgen, unbedingt Rauchwurst, blieben Indrek und Tigapuu wieder allein.
»Der Alte hat dich vorhin ausgefragt«, sagte Tigapuu. »Du hast uns doch nicht verraten?«
»Nein«, log Indrek, »aber er glaubt unserer Erklärung anscheinend nicht.«
»Natürlich nicht«, sagte Tigapuu. »Er glaubt überhaupt nichts, ganz gleich, was man ihm sagt. Er hat Theologie studiert, darum. Kein Pastor glaubt etwas, denn sie müssen die Bibel studieren, und die spricht nicht die Wahrheit. Hast du das schon früher gehört, daß die Bibel die Unwahrheit spricht?«
Nein, das hatte Indrek noch nicht gehört.
»Nun, dann hörst du es von mir zum ersten Male«, sagte Tigapuu. »Mir hat Timusk es erklärt. Und als mein Freund magst auch du es wissen: die Bibel ist gelogen und gefälscht, und wenn der Pastor so viel in ihr forscht, so glaubt er bald überhaupt nichts mehr. Auch die Wahrheit nicht, denn er meint, es gebe überhaupt keine Wahrheit mehr, wenn die Bibel gelogen ist.«
»Aber wie kann er dann Pastor werden, wenn er nicht glaubt?« fragte Indrek interessiert, denn wenn ihm auch Tigapuus Worte als Phantasien seines kranken Kopfes erscheinen wollten, hätte er doch gerne Näheres über diese Frage erfahren.
»Er wird einfach ohne zu glauben Pastor, wenn er nur ein gehöriges Maulwerk hat. Glaub oder glaub nicht, die Hauptsache ist, daß du verstehst, dich hübsch herauszureden. Das ist im Leben überhaupt das Wichtigste, mußt du wissen. Wenn ich mal Student werde – und das werde ich ganz sicher – dann studiere ich sicher Theologie, denn ich verstehe ...«
In diesem Augenblick trat Jürka mit seinen Besorgungen ein, so daß Tigapuus Satz unvollendet blieb. Der ersten Flasche, die Jürka auf den Tisch setzte, schlug Tigapuu sogleich ein paar Male mit der flachen Hand unter den Boden, bis der Korken hervorsprang. Er hob die Flasche an den Mund und trank. Dann betrachtete er sie gegen das Licht, reichte sie Jürka und sagte:
»Das ist für dich, fürs Bringen! Und hier auch noch etwas zu beißen«, fügte er hinzu, indem er Jürka ein Stück Weißbrot mit Wurst reichte. »Das ist fürs Schweigen. Und paß auf, daß der Alte uns nicht überrascht. Verstehst du?«
»Wird gemacht«, sagte Jürka, nachdem er die Flasche gleich an Ort und Stelle geleert und Brot und Wurst in die Tasche geschoben hatte.
Tigapuu schmauste mit großem Appetit, seine Laune besserte sich zusehends, und er wurde so geschwätzig, daß man meinen konnte, das Bier steige ihm zu Kopf.
»Eins muß ich dir sagen«, erklärte er, »dich hat nur dieser zerbrochene Tisch gerettet, sonst hätte ich dich krumm gehauen. Mit Kraft allein ist es nicht getan, man muß auch verstehen zu raufen, denn das ist eine große Kunst. Und wenn ich heute voll gewesen wäre, dann hätte mir dieser Hieb auch nichts ausgemacht. Bei Gott, nicht das geringste! Ein berauschter Kopf ist hiebfest. Und wenn du ihm mit dem ganzen Tisch eins herunterlangst. Nicht einmal Ollino wagt es, mich anzurühren, wenn ich richtig voll bin. Aber sonst heißt es bei ihm: Maul halten, sonst haut er einem eine herunter, und wenn der einem eine runterhaut, dann hat man auch genug, das kannst du mir glauben. Aber sonst ist er ein anständiger Kerl, der alles weiß, aber reinen Mund hält. Weißt du, wo ich gestern war? Nein? Aber der Alte weiß es, er braucht nur zu schnüffeln und weiß Bescheid. Als er nur mit der Nase in meine Nähe kam, gleich brüllte er: Schinder, du bist bei Mädchen gewesen! Er kennt den Geruch, oh, den kennt der Alte! Wenn du willst, kannst du mal mitkommen. Du willst nicht? Auch gut, ich überrede dich nicht, denn da braucht man Geld. Aber wart nur bis mein Onkel stirbt, dann bekommst du auch deinen Rubel zurück. Und das wird schon sehr bald sein, denn der Onkel ist zuckerkrank. Dann bezahle ich alle meine Schulden. Bis dahin verwahr nur Decke und Kissen ordentlich, bring sie nicht ins Pfandhaus und verkauf sie niemandem. Eben brauchst du die Sachen ja noch nicht, denn es ist ja noch nicht kalt, so daß sie dir eher lästig sind. Daher könntest du sie eigentlich ganz gut fürs erste mir geben, aus Freundschaft. Nicht, daß ich sie von dir zurückhaben will, durchaus nicht, Decke und Kissen bleiben dein Eigentum, nur das ich sie benutze. Aber wenn es später kalt werden sollte, dann ist es natürlich etwas anderes. Bis dahin ist vielleicht mein Kopf schon gesund, so daß ich zur Not sogar auf einem Klotz schlafen könnte. Aber jetzt ist es mir vor den anderen peinlich: der Kopf ist krank, und ich habe kein Kissen. Und dann wollte ich dir noch etwas sagen, was ich damals vergaß; mit meinem Kopf ist das ja so eine sonderbare Sache, daß er nichts behalten kann. Wieviel habe ich deswegen schon auszustehen gehabt! Einfach ein Elend! Der Kopf läßt sich ja leider nicht abschrauben, um sich einen neuen aufzusetzen. Und so kam es denn, daß ich ganz vergaß, dir zu sagen, daß Decke und Kissen eigentlich gar nicht so richtig mir gehören, sondern daß ich sie von einem anderen als Pfand erhalten habe. Ich habe sie eigentlich nur zum Schlafen bekommen, als ich meine ins Pfandhaus brachte. Morgen oder übermorgen löse ich meine Sachen aus, und dann muß ich diese sowieso zurückgeben. Paß auf, daß es dir nicht auch so geht. Sein Gedächtnis üben, das ist die Hauptsache. Es gibt so eine Kunst dafür – Mnemotechnik! Wenn du dieses Wort irgendwo findest, dann weißt du, worum es sich handelt. Stärkt das Gedächtnis. Bei mir ist es damit schwach bestellt. Wie man an dieser Geschichte mit der Decke und dem Kissen sieht, die nun auf deinem Bett in Sibirien liegen. Willst du sie gleich holen? Meinetwegen. Und Mnemotechnik, Mnemotechnik, das ist die Hauptsache!« rief Tigapuu Indrek nach, der ging, um Decke und Kissen herunterzubringen, denn er hatte plötzlich die Empfindung: je früher er sie wieder loswurde, desto besser.