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XVI

Die Beerdigung der Opfer des Blutbades auf dem Marktplatze gestaltete sich zum ersten wirklich großen Gedenktage der neu errungenen Freiheit, so viel Freude glühte unter der tiefen allgemeinen Trauer. Es war ein düsterer, feuchter Spätherbsttag, als man die Toten zu Grabe trug. Die bleifarbenen schweren Wolken lasteten tief über der Stadt, deren Türme und Dächer in dichten Nebel gehüllt waren.

Schon in der grauen Dämmerung des frühen Morgens füllten die schmutzigen Straßen sich mit Menschen, die in zunehmender Menge, stumm und düster, wie der junge anbrechende Tag, einem gemeinsamen Ziele zustrebten – dem Marktplatz, auf dem die Särge der Opfer aufgebahrt werden sollten. Der Zustrom der Menge war so dicht und gewaltig, daß er schließlich nicht nur den ganzen großen Platz überschwemmte, sondern auch noch alle anliegenden Straßen, die Fenster, Balkone und Dächer der umliegenden Häuser, ja selbst die Äste der wenigen alten, den Platz umsäumenden halb erstorbenen Weiden, jede Stelle, wo man nur irgendwie Fuß fassen, von wo man irgend etwas erblicken konnte. Alles hatte seine Alltagsarbeit, seine täglichen Leiden und Freuden beiseite geschoben, um einmal doch so recht aus Herzens Grunde zu trauern, oder doch wenigstens zuzusehen, wie man trauerte, wenn so viele Opfer der Freiheit auf einmal auf den Friedhof hinausgetragen würden. Es war, als wolle man den Wert der jungen Freiheit nach der Größe der Trauer um ihre Opfer bemessen, der Freiheit, die man bisher nur stets besungen, aber nie recht kennengelernt. Aber heute würde sich das von selbst ergeben, heute, angesichts dieser unheimlich langen Zeile von Särgen, wie man sie noch nie früher erblickt hatte.

Ein krüppliger Invalide aus dem japanischen Kriege erklärte den Umstehenden mit lauter Stimme: »Ach, das ist ja gar nichts! Aber in der Mandschurei, das war eine andere Geschichte! Da gab es überhaupt nur Tote. Und alle ohne Sarg. Nicht einmal Kleider hatten sie an, denn die Überlebenden zogen ihnen alles ab. Und wenn ich hier etwas zu sagen hätte, dann hätte man anstatt der Kränze und Schleifen Waffen gekauft und diesen Teufeln gezeigt, wie man in der Mandschurei Krieg führt. Nicht einmal Särge hätte ich gekauft, alles Geld nur für Waffen verwandt.«

»Aber wie hättest du sie denn ohne Särge beerdigt?« fragte eine alte Frau ganz entsetzt.

»Wie? Ganz wie in der Mandschurei«, versetzte der Invalide.

Aber damit waren weder die alte Frau noch die anderen Umstehenden einverstanden. Alle waren für Särge, Kränze und Schleifen, namentlich weil es dabei heute so viel Rot zu sehen gab, das das Blut in Erinnerung rief, das hier erst vor wenigen Tagen so reichlich geflossen und in die Erde versickert war. Warf man einen flüchtigen Blick auf die Menge, so wollte es scheinen, als sei die ganze Welt in Rot getaucht, und sogar der über der Stadt lastende Nebel nahm eine rosa Färbung an, wenn sich eine Träne ins Auge stahl.

Und damit niemand sich wegen dieses Rots aufregen möge, ist in der Menge nicht eine einzige Kokarde, keine Achselklappe, keine Waffe zu erblicken, denn alles, was sich auf Kokarde, Achselklappe und Waffe stützt, ist daheim geblieben. Eigentlich ist es wohl schade um sie, denn nun werden sie nie erfahren, wie süß die Freiheit schmeckt, wenn eine so lange Reihe von Särgen auf den Friedhof hinausgetragen wird, um die sich eine solch ungeheure Menge mit verweinten Augen, schmerzverzogenen Mienen, gebrochenen Herzen drängt. Die Geschichte schreitet an ihnen vorüber, aber sie sehen es nicht. Sie fühlen nur Grimm im Herzen, wo doch nur Liebe helfen könnte, Liebe, die Gegenliebe weckt; sie sinnen auf Rache, während das Heil doch nur in der Versöhnung zu suchen ist.

Indrek mußte wieder an seine Kinderzeit in Wargamäe denken. Auch dort herrschten Zorn und Haß, aber bei freudigen oder traurigen Gelegenheiten kam man doch zusammen, um gemeinsam zu weinen oder zu lachen. Aber hier war es anders. Hier schien die Menschen nichts mehr zu vereinigen. Sie lebten zusammen wie »die Fliegen auf dem Mist« – wie der alte Kätneronkel sich ausgedrückt hatte –, und man hatte sonst nichts von seinem Nachbar, als daß er einen lehrte, böse zu sein, Haß zu empfinden, Rache zu üben.

Freilich, mit der heutigen großen Trauer verhielt es sich ein wenig anders als mit den Trauertagen in Wargamäe. Dort hatte es oft so viel Trauer gegeben, daß man allein damit einfach nicht fertig wurde, sondern die Nachbarn zu Hilfe rufen mußte, als handle es sich um eine eilige Arbeit, die die Kräfte überstieg. Hier aber, wo es doch zehnmal mehr Trauer gab als in Wargamäe, wollte diese Trauer doch nicht für alle reichen. Ja, man konnte fast behaupten, daß es richtige Trauer in dieser Menschenmenge so erbärmlich wenig gab, daß es war wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Daher hätte Indrek gleich dem Invaliden sagen können: »Was ist das nun für eine Trauer! Kommt nach Wargamäe, seht euch da die Geschichte an. Dort weinen sogar die Kinder mehr als hier die Erwachsenen.«

Der Trauerzug wand sich durch die Stadt wie ein ungeheurer Märchendrache, besten Kopf schon in die Vorstadt hinausgelangt war, bevor der Schwanz sich überhaupt noch gerührt hatte. Es hatte den Anschein, als wolle dieser riesige Zug überhaupt kein Ende nehmen, denn auf dem Marktplatz wurden immer neue Nägel in frische Särge geschlagen, die sich dann dem großen Zuge anschlossen. Viele Trauerschleifen trugen die Aufschrift: »Den letzten Opfern der Gewaltherrschaft.« Aber manchem wollte es scheinen, als stimme da etwas nicht. Denn mit der Freiheit ist das eine sonderbare Sache. Sie ist ein Geschöpf, das sich selbst frißt und als Gewaltherrschaft wieder aufersteht. Wo sind die Freien, die nicht auf Gewalt schwören und erstaunt fragen: was ist Freiheit? Jeder Sklave schwört auf die Freiheit, jeder Freie auf die Gewalt, und beide handeln dementsprechend. Aber im Wirbel der Ereignisse wird über Nacht aus dem Sklaven ein Apostel der Gewalt und aus dem Gewaltmenschen ein Freiheitspriester. Die Freiheit des einen ist die Gewalt des andern, und beide stehen sich stumm und taub gegenüber. Der Freiheitsgott hat zwei Gesichter gleich dem Kriegsgott. Das eine strahlt Begeisterung, Ekstase aus, das andere brutale Gewalt, eiserne Unnachgiebigkeit, kalte Rücksichtslosigkeit. Wem es gelingen sollte, diese beiden zusammenzuschweißen, der schmiedete das Glück der Menschheit.

Es dunkelte schon, als man begann die Gräber zuzuschaufeln. Es war nicht möglich gewesen, früher damit zu beginnen, denn die Redner hatten so unendlich viel zu sagen, was ihnen auf der Seele brannte. Wie herrlich war es doch zu reden, wo der jungen Redefreiheit noch frischer Blutgeruch anhaftete.

»Ob wohl die Spitzel heute auch dabei sind?« fragte Indrek Wiljasoo, als sie in Gesellschaft der übrigen nebeneinander müde durch den Kot der Straße der Stadt zustapften.

»Aber natürlich«, versetzte dieser, »sie stellen doch das Bindeglied zwischen Volk und Regierung dar. Durch sie haben sogar die Mächtigen und Reichen an Freud und Leid des Volkes teil, ja sogar an seiner Freiheit. Und das ist doch immerhin etwas.«

Unterwegs verlor sich die Menge allgemach, ihnen vorauseilend, hinter ihnen zurückbleibend oder zur Seite abbiegend. Endlich waren die beiden ganz allein. Weder Schritte noch Gespräche waren mehr zu hören. Alles war still. Nur der Wind begann allgemach immer stärker in den hohen Bäumen am Wege zu rauschen. Plötzlich machten beide lauschend halt.

»Es klingt, als wenn jemand weinte«, sagte Indrek.

»In der Tat«, pflichtete Wiljasoo ihm bei. »Gehen wir doch nachsehen, wer denn da so jammervoll heult.«

Sie stiegen über den Straßengraben und erblickten nun unter einer alten Kiefer eine dunkle Gestalt, die sich beim Nähertreten als ein junges Frauenzimmer mit zwei kleinen Kindern entpuppte, zwei kleinen Mädchen, die ihre Köpfe unter den Mantel der Mutter gesteckt hatten und dort weinten. Als die Mutter die beiden Männer erblickte, fuhr sie zusammen und begann die Kinder zu beruhigen.

»Warum weinen Sie hier?« fragte Wiljasoo.

»Wir kamen vom Friedhof, wollten heim, aber die Kinder froren, und ich wollte sie ein wenig erwärmen, und da sind sie eingeschlafen. Als ich sie weckte, fingen sie an zu weinen.«

»Warum blieben Sie denn so lange?« fragte Wiljasoo vorwurfsvoll.

»Die Kinder wollten doch nicht früher fortkommen, bevor der Vater unter der Erde war. Ich dachte nicht, daß es so lange dauern würde, und da habe ich kein Stück Brot für die Kinder mitgenommen, und so bekamen sie Hunger und froren daher um so ärger.«

Ohne ein Wort zu sprechen, zog Wiljasoo seinen breiten, bis an die Schenkel hinabschlotternden Rock ab, unter dem er ein warmes Wams trug, und fragte die Frau:

»Können Sie allein gehen?«

»Ich?« verwunderte sich die Frau. »Aber natürlich, wenn nur die Kinder irgendwie ...«

»Das eine werde ich in meinen Rock wickeln ...«, sagte Wiljasoo.

»Das andere nehme ich«, sagte Indrek, indem er ebenfalls den Rock abwarf und den Mantel über die Weste zog.

Dann nahmen sie die sorglich eingehüllten schlafenden Kinder auf die Arme, eines Wiljasoo, das andere Indrek, und dann machte man sich auf den Weg. Das alles, ohne viel Worte zu verlieren. Erst als sie wieder auf der Straße waren, sagte die Frau, gleichsam sich entschuldigend:

»Das eine hätte ich doch auch selbst nehmen können.«

»Sie werden auch schon noch daran kommen, wenn einer von uns ermüden sollte«, versetzte Wiljasoo, und dann gingen sie schweigend ihres Weges. Aber nach einer Weile hörten die beiden Männer die Frau, die ihnen auf den Fersen folgte, wiederum weinen.

»Wie ist denn das gekommen, daß ...«, fragte nun Indrek, ohne seine Frage zu beenden.

»Ach«, die Frau seufzte tief auf, »das kam so plötzlich. Wir waren mit meinem Manne und den Kindern da, denn wo hätte ich die sonst lassen sollen, ich muß sie immer mitnehmen, wenn ich ausgehe. Als die Soldaten kamen, da wollten wir wohl fortgehen, weil wir fürchteten, daß etwas geschehen könne, aber man beruhigte uns von allen Seiten und meinte, wir sollten ruhig bleiben, denn die Versammlung sei ja vom Gouverneur gestattet. Ich wollte trotzdem gehen, aber mein Mann meinte, wenn die anderen blieben, dann sollten wir doch auch nicht auskneifen. Und dann ging das Schießen los. Nun liefen viele davon, aber der größte Teil warf sich zur Erde, auch wir – mein Mann mehr nach den Soldaten zu, hinter ihm ich und die Kinder, so befahl er uns. Er sagte noch: ›Kopf herunter!‹ Das waren seine letzten Worte, dann hörte ich nur noch das Geknatter und das Geschrei der Leute. Als das Schießen dann aufhörte, erhob ich mich mit den Kindern. Die Kleinere fragte noch, ob wir nun heimgehen würden. Und jetzt sah ich erst, daß mein Mann nach wie vor dalag, und wußte alles. Die Kinder sagten mir später, ich hätte plötzlich furchtbar aufgeschrien und wäre dann zusammengebrochen. Aber ich kann mich dessen kaum mehr erinnern. So kam das alles ...«

Wiederum gingen die drei schweigend dahin. Man hörte nur ihre Schritte und das Weinen der Frau.

»So daß Sie jetzt also mit den Kindern allein dastehen«, bemerkte Wiljasoo nach einer Weile.

»Ganz allein«, erwiderte die Frau. »Nach zwei Wochen ist die Miete fällig, und man wird uns auf die Straße setzen.«

»Sie müßten wieder heiraten«, meinte Wiljasoo.

»Ach, wie furchtbar ist das alles«, seufzte die Frau.

»Wie alt ist die Kleine hier auf meinen Armen? Sieben oder acht?« fragte Wiljasoo, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.

»Sieben«, erwiderte die Frau, »und die andere bald sechs. Arme kleine Würmer noch alle beide.«

»So, so«, murmelte Wiljasoo, »aber man spürt schon, daß man etwas auf den Armen hat. Und wie heißen sie?«

»Die ältere Hildegard und die jüngere Kunigunde«, sagte die Frau.

»Was für vornehme Namen!« rief Wiljasoo.

»Das war so der Wunsch meines Mannes«, erklärte die Frau, »denn er sagte immer, meine Töchter sollen mal Fräulein werden, und da müssen sie vornehme Namen haben, damit sie sich vor den übrigen Fräulein nicht zu schämen brauchen.«

»Und wie heißt die Mutter?« fragte Wiljasoo.

»Marie.«

»Ja, sehen Sie, Marie, ich bin ein glücklicher Junggeselle, der keine Sorgen hat. Und ich habe mir geschworen, mir nie Frau und Kinder zuzulegen. Aber da es nun gerade Revolution gibt, so werde ich mir selbst auch eine Revolution machen und mir Sorgen auf den Hals laden ...«

Die Frau wollte ihn unterbrechen, und auch Indrek war im Begriff zu bemerken, daß auch Scherz und Geschwätz schließlich ihre Grenzen hätten, aber Wiljasoo fuhr mit erhobener Stimme fort:

»Ich verlange ja nichts von Ihnen, ich sage bloß, was ich zu tun gedenke, damit sie sich nicht so um die Versorgung Ihrer Kinder zu sorgen brauchen. Aber im übrigen klebt mir das Hemd schon am Leibe, sind Sie durchaus noch nicht imstande, Ihre Hildegard zu tragen?« Und damit wandte sich Wiljasoo mit dem Kind auf den Armen nach der Mutter um.

»Geben Sie es nur her«, sagte die Mutter. »Im Schlafe ist sie ja schlapp wie ein Sack und dadurch viel schwerer. Wie mag es mit dem Hemde des andern Herrn bestellt sein?«

»Seinetwegen beunruhigen Sie sich nicht«, sagte Wiljasoo, »er ist jünger als ich und hat Kraft genug.«

»Hildegard hat blaue Augen?« fragte Wiljasoo nach einer Weile.

»Alle beide«, versetzte die Mutter.

»Ich mag blaue Augen«, fuhr Wiljasoo fort und fügte dann hinzu: »Dann hat die Mutter wohl auch blaue?«

»Die Mutter hat graue«, sagte die Frau leise lächelnd.

»Graue gefallen mir auch«, erklärte Wiljasoo unbeirrt.

»Was schwatzen Sie da für ungereimtes Zeug«, sagte die Frau, »da, nehmen Sie lieber die Kleine wieder auf die Arme, mir ist sie doch zu schwer.«

Und so wanderte das schlafende Kind wieder auf Wiljasoos Arme hinüber. Nach einer Weile wollte die Frau auch Indrek ein wenig ablösen, aber der war damit nicht einverstanden – er sei keineswegs ermüdet.

»Nun, was sagen Sie nun dazu, Paas«, fragte Wiljasoo launig, während sie so mit ihrer Last auf den Armen nebeneinander herschritten, »als Junggesellen sind wir am Morgen ausgegangen, und nun kommen wir beide heim, je ein Kind auf dem Schoße?«

Aber Indrek wußte nichts dazu zu sagen, denn hinter sich hörten sie plötzlich wiederum Schluchzen.

»Sehen Sie, was Sie machen«, sagte Indrek leise und vorwurfsvoll.

»Marie«, sagte Wiljasoo, sich umwendend und mit dem Kinde auf den Armen vor der Frau haltmachend, »acht du gar nicht auf mein dummes Geschwätz, ich bin nun schon mal solch ein Narr, von Kind auf. Ich sehe sogar ein wenig wie ein Narr aus, aber das sieht man im Dunkeln nicht. Du magst natürlich weiter weinen, wenn dir das wohltut, aber meinetwegen sollst du nicht weinen, das lohnt sich nicht.«

Und dann wandte er sich wieder zum Gehen, und nun setzten die drei ihren Weg in tiefem Schweigen fort. Nur der Wind rauschte in den Bäumen längs der Straße, und die Frau hörte man, zuweilen aufschluchzend, den Männern folgen. Rund umher umgab sie die Stockfinsternis des Herbstabends, und unter ihren Füßen spritzte der Kot auf.


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