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X

Sonderbarerweise hatte Ollino in der Nacht weder das Verschwinden Goethes und Schillers noch das traurige Schicksal des Schwans bemerkt. Die Abwesenheit der beiden ersteren hätte er vermutlich auch am nächsten Morgen kaum wahrgenommen, aber der leere Haken an der Decke fiel ihm in die Augen, so daß er sich sogleich die Frage stellte: Warum ist der Haken leer? Und erst dann tauchte auch allmählich die Frage auf: Wo ist der Schwan geblieben? Die Antwort auf diese Frage sollte ihm Wutt geben, aber dieser machte ein schlaues Gesicht und antwortete mit der Gegenfrage:

»Nur der Schwan, Herr Ollino?«

Dieser ließ seine Augen forschend im Zimmer umhergehen.

»Und wo sind Goethe und Schiller?« fragte er dann. »Was hat das zu bedeuten?«

Aber das wußte Wutt nicht zu sagen. Und auch Sikk und Indrek wußten es nicht. Erst von Tigapuu erfuhr Ollino so viel, daß er Goethe und Schiller von Jürka in den Müllkasten habe befördern lassen und daß Slopaschew das alles auf dem Gewissen habe.

»Schön«, meinte Ollino schließlich und ließ die Sache fürs erste auf sich beruhen. Aber dann begab er sich nach oben zum Direktor. Und nun hatten die Jungen Zeit, sich auf ein neues Verhör vorzubereiten und sich zu verständigen. Zur Verschwörung wurden auch Woitinski, der Fürst, der Graf und der Pan hinzugezogen, mit einem Wort alle, die einem Verhör hätten unterzogen werden können. Aber alle diese Vorbereitungen schienen sich als überflüssig zu erweisen, denn Herr Maurus ging in einer ganz anderen Richtung vor, als man vorausgesetzt. Er schien der Angelegenheit nahezu überhaupt keine Bedeutung beizumessen, verhörte für den Anfang bloß Tigapuu und lobte seine Handlungsweise. Und gleichsam geheim vor den anderen, aber doch so, daß viele es hören konnten, sagte er:

»Herr Maurus hat schon längst den Befehl erteilt, die Büsten hier fortzukramen, aber Sie kennen ja Herrn Ollino: mit ihm ist nichts anzustellen. Ebenso wie auch gestern abend beispielsweise: kaum ist Herr Maurus mal ausgegangen, so ist auch er sofort verschwunden. Aber wie kann dieser Mensch ausgehen, wenn Herr Maurus nicht zu Hause ist? Würden Sie aus dem Hause gehen, wenn Herr Maurus ausgegangen ist?«

»Ich war zu Hause, hielt Ordnung«, sagte Tigapuu ernst und bedeutsam.

»Nun, sehen Sie, Sie waren zu Hause und hielten Ordnung. Jeder ehrliche Mensch ist zu Hause und hält Ordnung, wenn Herr Maurus ausgegangen ist. Aber Herr Ollino hält nicht Ordnung, und nun sind Goethe und Schiller im Müllkasten angelangt. Gewiß, Goethe und Schiller wirbelten Staub auf, schon zu Lebzeiten. Aber wir lieben den Russen, denn der russische Kaiser ist auch unser Kaiser. Gott ist des Zaren Schutz! Gestern wurde das mit größter Begeisterung gesungen. Herr Maurus liebt die russische Begeisterung, und darum verkehrt er in der russischen Gesellschaft. Das muß Herr Maurus, aber wo treibt sich Herr Ollino herum? Vertritt er etwa die Interessen der Esten bei den Russen? Nein, das tut Herr Maurus. Und darum hat er keine Zeit festzustellen, ob die Deutschen schon vom Schrank heruntergenommen sind oder noch nicht ...«

Der Direktor wurde von Slopaschew unterbrochen, der auf der Schwelle seiner Tür erschien – ungewaschen, mit zerzaustem Haar, in schlotternden Beinkleidern, von denen die Hosenträger, beinahe auf dem Fußboden nachschleifend, herabhingen, den Rock über das bloße Hemd gezogen, den Kragen aufgeschlagen, um den nackten Hals und die haarige Brust zu verhüllen.

»Herr Maurus, Sie entschuldigen«, begann er mit heiserer Stimme. »Ich erlaube mir im Negligé zu erscheinen, denn ich hörte Ihre Stimme und würde gerne ein paar Worte unter vier Augen mit Ihnen reden, um mögliche Mißverständnisse zu verhüten.«

»Herr Slopaschew«, versetzte der Direktor kalt und formell, »ich habe keinerlei Geheimnisse, wenn Sie nicht solche haben. Ich betreibe meine Angelegenheiten stets in aller Öffentlichkeit. Also, bitte, was steht zu Diensten?«

»Auch gut«, versetzte Slopaschew. »Sie wissen natürlich, worüber ich mit Ihnen reden will – über diese Gipsbüsten, die vom Schrank verschwunden sind.«

Der Direktor verbeugte sich bloß ehrerbietig.

»Das habe ich gemacht«, fuhr Slopaschew fort, »und ich bitte darum, auch in dieser Angelegenheit nur von mir Rechenschaft zu fordern.«

»Ich denke gar nicht daran«, versetzte der Direktor, »denn ich selbst habe schon längst die Anordnung getroffen, daß die Büsten entfernt und etwas Zeitgemäßeres an ihre Stelle gesetzt würde. Und nur weil dieser Anordnung nicht Folge geleistet wurde, standen sie nach wie vor auf ihren Plätzen. Aber anscheinend taten sie niemand etwas Böses, denn man hatte sich so an sie gewöhnt, daß man sie überhaupt nicht einmal mehr bemerkte. Nicht einmal ihr Verlust ist bemerkt worden, ganz als hätten diese beiden Deutschen niemals gelebt.«

»Aber mich als Russen haben sie da oben auf dem Schrank immer gekränkt«, erklärte Slopaschew mit beleidigter Miene. »Meine reine russische Seele kränkten sie, und können Sie verstehen, was das heißt, Herr Direktor, wenn die reine, patriotische Seele eines Menschen Tag für Tag gekränkt wird? Und überdies noch in einer Anstalt, in welcher, meines Erachtens, schon längst eine ganz andere Atmosphäre herrschen müßte.«

»Die herrscht hier auch, Herr Slopaschew, hat hier schon lange vor Ihnen geherrscht und wird hier noch herrschen, wenn Sie vielleicht schon nicht mehr hier sind!« rief der Direktor, ihm in die Rede fallend, während Slopaschew fortfuhr:

»Aber was sollen dann diese äußeren Symbole eines anderen Geistes, die jeden ehrlichen russischen Untertanen verwirren müssen? Wozu diese Deutschen, diese Dioskuren? Sie sind angeblich berühmt. Gut. Aber was geht das uns Russen an? Was haben wir etwa mit dem ›Lied von der Glocke‹ oder mit dem ›Faust‹ zu tun? Was können sie einem rein russischen Herzen bedeuten? Ist in ihnen etwa von der Wolga die Rede oder von der Steppe? Haben wir es hier überhaupt mit der Wirklichkeit zu tun wie etwa in den ›Toten Seelen‹ oder im ›Ehernen Reiter‹? Aber wir verlangen die Wirklichkeit, die volle russische Wirklichkeit. Nur diese kann unser Herz erwärmen, unsere Seele in Schwingungen versetzen. Puschkin und Gogol haben uns doch unendlich viel mehr zu sagen als Goethe und Schiller. Habe ich nicht recht, Herr Maurus?«

»Vollkommen recht, Herr Slopaschew, ganz meine Meinung. Sie hörten es ja schon: die Forträumung dieser Büsten von ihrer in die Augen fallenden Stelle hier war schon längst angeordnet, nur dank unserer Nachlässigkeit sind Sie uns damit in dankenswerter Weise zuvorgekommen. Natürlich hätte das auch ohne Staub und Lärm geschehen können. Wenn Ihnen nächstens wieder mal etwas auffallen sollte, was Ihr Auge beleidigt, so bitte teilen Sie es nur mir oder Herrn Ollino mit. Wir werden alles ohne Lärm und Staub erledigen. Aber was meinen Sie, Herr Slopaschew, was setzen wir an die Stelle dieser lärmenden Deutschen? Es wäre nett, wenn doch irgend etwas an ihre Stelle käme.«

»Wissen Sie was, Herr Maurus«, sagte Slopaschew, »ich habe die Deutschen fortgeräumt; gestatten Sie, daß ich nun auch für Ersatz sorge.«

»Ich wäre Ihnen sehr verbunden«, versetzte der Direktor, sich verbeugend. »Nur würde ich Sie bitten, mich rechtzeitig über Ihren Beschluß zu unterrichten und mir mitzuteilen, was die Geschichte kosten wird.«

»Selbstverständlich«, erklärte Slopaschew sich einverstanden, »selbstverständlich werde ich vorher Ihre Meinung anhören, denn dieses hier ist doch schließlich immerhin Ihr Zimmer, Ihre Anstalt.«

»Aber bitte eins nicht vergessen, Herr Slopaschew, dies ist meine Anstalt gewiß, aber sie birgt sich unter den Schwingen des russischen Aars«, sagte der Direktor.

»Sehr richtig!« bestätigte Slopaschew. »Das ist hübsch von Ihnen, Herr Maurus.«

»Ich und das estnische Volk wissen, was wir wem schulden«, erklärte der Direktor. »Zur Ehre des großen, mächtigen Rußland und zum Wohle des kleinen estnischen Volkes, das ist meine Losung, Aufgabe und Ziel meines Lebens.«

»Und in diesem Zeichen werden Sie siegen«, sagte Slopaschew feierlich, durch die Worte des Direktors gleichsam gerührt. Und damit war dieser Skandal in versöhnlichem Geiste und vollkommener Einmütigkeit beigelegt.

Aber die in die Sache eingeweihten Personen konnte diese Lösung nicht befriedigen. Als erster äußerte sich in diesem Sinne der Fürst.

»Kameraden«, sagte er, »wie gefällt Ihnen dieser besoffene Patriotismus Slopaschews?«

»So kann natürlich nur ein Russe handeln«, sagte der Pan mit Überzeugung, als handle es sich um eine ausgemachte Wahrheit.

»Und hörten Sie, was er von Goethe und Schiller sagte?« bemerkte Elbe.

»Ja, sie mit Gogol und Puschkin zu vergleichen«, meinte auch der Pan, »wenn es noch Mickievicz oder Sienkievicz wären.«

Der Graf sagte gar nichts. Er griff bloß nach seiner Balalaika und klimperte sich die Begleitung zu seinem Lieblingsliede: »Hatte einst ein Pop' ein Hündchen ...« Und bald fielen auch die übrigen im Chor in die Melodie ein. Aber Herr Ollino sang nicht mit. Er spazierte bloß im Zimmer auf und nieder, den erloschenen Zigarettenstummel im Munde, die Hände in den Hosentaschen und zischte durch die Zähne leise vor sich hin:

»Solch ein Esel!«

Aber Herr Maurus schimpfte nicht, fürs erste wenigstens nicht, denn in seinem übermäßigen Mißtrauen und unmöglichen Kombinationstalent hielt er es anfänglich tatsächlich für ausgemacht, daß Slopaschew in einer trunkenen Aufwallung von Patriotismus Goethe und Schiller zertrümmert habe. Später fluchte Herr Maurus freilich, später, als alle übrigen lachten, denn in dieser Anstalt erster Kategorie pflegte es stets so zu sein, daß alles lachte, wenn Herr Maurus fluchte. Solch eine Anstalt war das. Vorerst aber erklärte Herr Maurus triumphierend:

»Oh, ich kenne meine Brüder! Herr Maurus kennt seine guten Freunde, denn er ist alt und schlau. Mag er nun gehen und sich beschweren, daß Puschkin nicht aufgestellt worden ist. Meine Hände sind rein vom Staube Goethes und Schillers.«

Aber in der Folge handelte Herr Maurus doch so, als seien seine Hände keineswegs rein vom Staube Goethes und Schillers. Er ging umher wie ein brüllender Löwe oder wie ein schlau schleichender Fuchs, um dann plötzlich irgendwo mit in sich vertieftem, sorgenvollem Gesichtsausdruck haltzumachen und angestrengt über irgend etwas nachzudenken. Und dann schien ihm irgend etwas Wichtiges einzufallen, und er eilte davon, um dann auf halbem Wege abermals stehenzubleiben und irgend etwas vor sich hin zu murmeln.

»Wie schwer muß das Leben für einen Menschen sein, der stets und allem gegenüber Mißtrauen hegt«, meinte Indrek.

Aber bald mußte er die Erfahrung machen, daß es auch sein Leben erschwerte, wenn Herr Maurus allem so konsequent mißtraute.

»Wie ist es möglich, daß Sie diesen Lärm nicht gehört haben?« fragte er Indrek einmal gleichsam beiläufig, das Wort »diesen« betonend, als wüßte er, um welchen Lärm es sich handle.

»Ich war gerade eingeschlafen, darum wohl«, versetzte Indrek.

»Aber was habe ich denn für einen Nutzen von Ihnen, wenn Sie so fest schlafen; da können Sie die Glocke auch leicht überhören.«

»Nein, die Glocke höre ich immer«, verteidigte sich Indrek.

»Die Glocke hören Sie, aber den Sturz Goethes und Schillers konnten Sie überhören?« verwunderte sich der Direktor.

»An diesen Lärm war ich noch nicht gewöhnt, darum wahrscheinlich«, versetzte Indrek.

»Ja, natürlich, daran konnten Sie noch nicht gewöhnt sein, denn Goethe und Schiller stürzten ja das erstemal«, erklärte sich der Direktor schmunzelnd einverstanden.

Aber schon nach wenigen Tagen kam er mit einer neuen Frage:

»Scheint es Ihnen nicht auch so, als ob mit Herrn Slopaschews Tür irgend etwas nicht ganz in Ordnung wäre?«

»Ich habe nichts Derartiges bemerkt«, versetzte Indrek, aber dabei vermochte er es nicht, dem Direktor ins Auge zu sehen, wandte vielmehr den Blick zur Seite. Ja, er drohte sogar zu erröten.

»Na ja, das war vielleicht auch schon vor Ihnen«, schien der Direktor sich für dieses Mal zufrieden zu geben, aber schon bald darauf hatte er wieder eine Frage: »Wer war es eigentlich, der Herrn Slopaschew einen Ball an die Beine warf? Oder schliefen Sie damals schon?«

»Nein, damals lag ich wohl schon im Bett, aber ich schlief noch nicht«, versetzte Indrek.

»Das haben Sie also gesehen?« forschte der Direktor.

»Nein, das wohl nicht, das Zimmer war ja dunkel.«

»Aber gehört haben Sie es doch?«

»Gehört wohl.«

»Gott sei Dank!« seufzte der Direktor aus tiefstem Herzen. »Taub sind Sie wenigstens noch nicht. Das Gesicht haben Sie wohl verloren, aber die Ohren hören immer noch ein wenig.« Und mit diesen Worten wandte er sich plötzlich Indrek zu, blickte ihn scharf an und fragte: »Warum belügen Sie mich alten Menschen? Habe ich Sie darum, ohne von Ihnen Schulgeld zu fordern, hier behalten, damit sie mir die Hucke vollügen? Diejenigen, die zahlen oder denen ich zahle, die lügen natürlich. Aber warum lügen Sie? Ich zahle Ihnen doch nichts, und Sie haben mir auch nichts zu zahlen.«

»Früher habe ich nicht gelogen, das habe ich erst hier gelernt«, versetzte Indrek offen, denn er fühlte das unabweisliche Bedürfnis, seinem Herzen Luft zu machen.

»Wer hat Sie hier lügen gelehrt? Wer? Nennen Sie mir seinen Namen! Wer ist es?«

»Sie selbst, Herr Maurus«, antwortete Indrek sanft, und diese Antwort kam ihm selbst gleichsam überraschend.

»Sie frecher Bengel!« schrie der Direktor und begann im Zimmer auf und ab zu rennen. »Sie unverschämter Kerl! Herr Ollino! Herr Ollino! Sind Sie taub, Herr Ollino! Kommen Sie her! Kommen Sie sofort her! Was für ein unverschämter Mensch!«

Aber Herr Ollino kam nicht: seine Tür war verschlossen. An seiner Stelle erschienen Wainukägu, Wutt und Laane. Und diese rief der Direktor denn auch prompt zu Schiedsrichtern auf.

»Hör mal, Wainukägu«, sagte er, »du singst immer so fleißig aus dem Gesangbuch und liest deinen Kameraden sogar aus dem Neuen Testament vor; sag mir nun offen und ehrlich, hat Herr Maurus dich oder sonst jemanden jemals lügen gelehrt? Hat er das? Sprich! Hat er dich das gelehrt?«

»Nein, Herr Direktor«, versetzte Wainukägu und strich seine Bügelfalte glatt, als liege in dieser die gesuchte Wahrheit beschlossen.

»Hat er dich das gelehrt?« wandte sich der Direktor an Wutt.

»Nein, Herr Direktor«, versetzte Wutt und haschte nach Wainukägus kleinem Finger, um an seinem Nagel herumzuspielen.

»Und dich, Laane?« fuhr der Direktor fort, sich an ihn wendend, der mit seinen langen, krummen Armen eckig und ungeschlacht dastand, den Blick gleichsam nach innen gewandt, denn er war gerade eben bestrebt, sich krampfhaft darauf zu besinnen, wie »lügen« wohl auf lateinisch heißen möge.

»Nein«, versetzte er, als erwache er plötzlich aus tiefem Schlaf.

» Tres faciunt collegium«, sprach der Direktor feierlich. »Und dieser unverschämte Lange hier behauptet, Herr Maurus habe ihn lügen gelehrt, Herr Maurus unterhalte mit Genehmigung des russischen Kaisers eine Lügenschule. Hat jemand so etwas schon je gehört?«

Nein, so etwas hatte noch niemand jemals gehört.

»Und nun sehen Sie sich bitte diesen langen Lümmel hier an«, fuhr der Direktor fort, Herr Maurus hat ihn ohne Zahlung behalten, um Gottes Lohn, weil er hofft, daß dieser Mensch Vernunft annehmen wird, aber er erklärt bloß, Herr Maurus lehre ihn lügen, Herr Maurus, der nur immer und immer wieder wiederholt: die Wahrheit, die Wahrheit, die reine Wahrheit!«

»Herr Maurus, ich kann ja gehen, wenn Sie meinen ...« murmelte Indrek ergeben.

»Nicht dreinreden, wenn Herr Maurus spricht«, rief der Direktor, und sich an seine drei Schiedsrichter wendend, fuhr er fort: »Haben Sie gehört? Er kann auch gehen. Er kann gehen, sagt er. Erst behauptet er, Herr Maurus lüge, und nun: er kann auch gehen. Aber wie soll denn solch ein langer Lümmel zur Vernunft kommen, wenn er geht? Wer wird hier anfangen für ihn zu lernen? Herr Maurus etwa? Nein, Herr Maurus wird nicht anfangen für diesen Langen zu lernen. Der muß selbst lernen.«

Und sich besonders an Wutt wendend, sagte er in deutscher Sprache zu diesem:

»Dieser lange Grüß-Gott vom Lande ist der richtige Bauerntölpel, der ganz richtige. Er erklärt: in Herrn Maurus Lehranstalt erster Kategorie lernt man lügen. Das kommt vom allzu heftigen Büffeln, vom Latein Büffeln. Davon kommt das alles bei diesem langen Grüß-Gott.«

Und dabei blickte er Wutt über die Brille hinweg an, fuchtelte mit den gespreizten Fingern der rechten Hand vor seinen Augen herum und schüttelte den Kopf zum Zeichen, daß es mit diesem Menschen im Oberstübchen nicht ganz richtig sei.

»Und nun geht«, sagte er dann plötzlich in verändertem Tone, als wäre ihm etwas Besonderes eingefallen. »Warum seid ihr überhaupt hier? Warum nicht in der Klasse zum Unterricht? Ihr habt hier gar nichts zu suchen.«

Damit fand die hohe Aufgabe der Schiedsrichter ihren unerwartet jähen Abschluß. Indrek gab der Direktor mit der Hand ein Zeichen, daß er ihm nach oben folgen möge.

»Wie können Sie vor anderen Herrn Maurus erklären, daß Sie auch gehen könnten?« begann der Direktor oben angelangt. »Wohin werden Sie ohne Geld gehen? Wo wird man Sie gratis Latein lehren?«

»Latein muß dann wohl ungelernt bleiben«, versetzte Indrek.

»Sie sind verrückt, Sie sind total verrückt!« rief der Direktor. »Sie kommen her, um Latein zu lernen, und wenn Herr Maurus Sie ohne Geld lernen läßt, erklären Sie, es kann auch ungelernt bleiben. Wissen Sie denn wirklich nicht, was Sie sagen? Was wollen Sie denn eigentlich? Wünschen Sie, daß bei Herrn Maurus nur solche Hornochsen sind wie die drei da unten, der eine mit solch einem Gesicht, der andere mit solch einem, der dritte mit solch einem.« Und dabei war der Direktor bestrebt, die Mienen der drei nachzuahmen. »Glauben Sie, daß man mit solchen Fratzen Latein und Algebra lernt? Glauben Sie, daß jemand bei Herrn Maurus etwas lernt, wenn er zahlen kann? Daß ein Este lernt, wenn er auch nur ein wenig Geld hat? Oder haben Sie etwa bemerkt, daß diese Russen, Deutschen, Polen, Armenier, Grusinier, Türken, Chinesen usw. lernen, wenn sie Geld haben? Nein! Sie zahlen bloß, damit irgendein armer Teufel lernen kann. Und was soll Herr Maurus dann tun, wenn auch dieser arme Teufel plötzlich erklärt, das bleibt ungelernt? Herr Maurus muß dann seine Schule schließen, muß seine Schule wegen der armen estnischen Jungen schließen, weil diese nicht mehr Lateinisch lernen wollen. Und warum nicht? Warum? frage ich. Darum, nur darum, weil Herr Maurus von einem armen estnischen Jungen verlangt, daß er die Wahrheit sprechen soll, die reine Wahrheit. Aber dieser arme Junge will lügen, wie die Reichen lügen. Aber auf diese Weise wird Herr Maurus nie die Wahrheit erfahren. Niemals ...«

Ohne eigentlich zu wissen, wie und warum, beschlich Indrek eine gewisse Rührung, als er den Direktor so auf sich einreden hörte. War es nun wegen seines grauen Bartes oder wegen seiner dünnen, grauen Haare, die ihm ein wenig zu Berge standen und beim eifrigen Reden leise zitterten. Vermutlich eben gerade dieser Haare wegen beschlich Indrek die Rührung. Denn diese Haare erinnerten ihn an seinen Vater, als sie sich einmal bei windigem Wetter irgendwo am Rande des Moors, nachdem es tagelang wie aus Kübeln gegossen hatte, während der Heuzeit damit abgeplagt hatten, um nur die verlorene Zeit doch irgendwie zu nutzen, Weidenbüsche und Zwergbirken zu roden. Und wie dann schließlich die Wolken zerrissen und die Sonne hervorkam, der Vater sich aufgerichtet, die durchweichte Mütze vom Kopf genommen, sich mit der Hand über die Stirn gestrichen und gesagt hatte: »Gott sei Dank, endlich einmal doch ein Sonnenblick!« Und dabei hatte der Wind seine Haare gezaust, und erst jetzt, beim Anblick der Haare des Direktors, fiel es Indrek ein, daß auch die Haare des Vaters damals schon ein wenig ergraut waren, gerade wie Herrn Maurus Haare. Und bei dieser Erinnerung wurde sein Herz plötzlich weich und seine Zunge geschmeidig, so daß er dem Direktor alles berichtete, wie es sich zugetragen.

Und Indreks weiche Stimmung schien den Direktor anzustecken, denn er erklärte zum Schluß gerührt und geheimnisvoll:

»Wir müssen zusammenhalten. Die Esten müssen zusammenhalten, denn sie sind gering an Zahl. Aber der Este hält sich leider nicht zum Esten, er hält sich lieber zum Deutschen oder Russen. Sogar national gesinnte Esten tun das und vertrauen dem Deutschen oder Russen mehr als dem Esten, setzen ihre Hoffnungen nicht auf diese, sondern auf jene. Kreutzwald, ja, der hoffte auf die Esten, aber er ist tot; auch Jakobson hoffte ein wenig, aber auch er ist tot. Alle sind gestorben, die ihre Hoffnungen auf die Esten setzten ... Aber nun gehen Sie. Niemand darf etwas davon wissen, nur wir beiden estnischen Männer, in deren Händen das Schicksal Israels liegt«, lachte der Direktor Indrek nach, als dieser schon die Treppe hinabstieg, als sei alles nur ein dummer Scherz gewesen.

Aber Indrek empfand es nicht als Scherz. Mit jedem Tage wuchs bei ihm die Empfindung, als versinke er immer tiefer und hoffnungsloser in einen sumpfigen Abgrund. Der Kopf wird einem dumm, die Ohren klingen, die Glieder erschlaffen, so daß man weder Hand noch Fuß mehr regen mag.


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