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Inzwischen fuhr man unermüdlich mit der Veranstaltung von aller Art Versammlungen, die die Revolution vertiefen sollten, fort. Man sprach sich die Kehle wund und die Zunge steif und disputierte erbittert darüber, was an die Stelle der alten Ordnung zu setzen sei, ohne sich daran zu kehren, daß diese nach wie vor höchst lebensfähig fortbestand. Es war viel von Machtergreifung die Rede, aber tatsächlich wurde sie keineswegs ergriffen. Krösus versicherte zwar stets aufs neue unbeirrt, daß bisher die Regierung das Blut des Volkes vergossen habe, das Volk daher nunmehr das Blut der Regierung vergießen müsse, denn das fordere die einfache Logik, aber das Volk blieb dessenungeachtet so tugendhaft und menschlich, wie man es nicht sein darf, wenn man die Hand nach der Macht ausstreckt.
Nur einige Dutzend entschlossene Männer hatten zu ihren Dolchmessern und Gewehren gegriffen und waren aufs Land gezogen, als sei es nur dort möglich, mit der Machtergreifung Ernst zu machen. Und so behielt der Krämer Wesiroos gewissermaßen recht mit seiner Behauptung, daß, wenn es mal wirklich losginge, es dann nur gegen die Gutsbesitzer gehen würde. Vollkommen recht hatte er mit dieser Behauptung freilich insofern doch nicht, als die Ausschreitungen auf dem Lande sich nicht nur gegen die Güter richteten, sondern auch gegen die staatlichen Branntweinläden, als bildeten auch diese eine Art Mittelpunkt der Macht. Die, in deren Händen bisher Macht und Gewalt sowohl als auch die Freiheiten und Rechte gelegen hatten, beeilten sich nun darzulegen, daß man sich nun davon überzeugen könne, wie arg das Volk seine junge Freiheit mißbrauche, die nichts weiter sei als Vergewaltigung, gleichwie sein Recht nichts weiter als schreiende Ungerechtigkeit. Die Freiheitsapostel ihrerseits versicherten zwar, daß sie mit den Plünderern nichts zu tun hätten und man daher die Freiheit aus dem Spiele lassen solle, aber keiner schenkte derartigen Erklärungen Glauben, so sehr war der Wert des Wortes in dieser Zeit gesunken, denn alle empfanden dunkel, daß man das Wort nicht im Interesse von Wahrheit und Recht führte, sondern um sich Vorteile zu verschaffen. Ja, im Grunde genommen sei Wahrheit und Recht eigentlich nichts anderes als das, was einem Vorteil bringe.
In diesen end- und uferlosen Redeschlachten stellte es sich nun auch endlich heraus, was denn eigentlich der Sozialismus sei und wer ein Sozialist. Dieses ganze Problem wurde hierbei gleichzeitig von zwei Seiten beleuchtet, so daß es nun tatsächlich völlig klarwerden mußte. Einerseits waren diese paar Dutzend aufs Land gezogenen Männer doch zweifellos Sozialisten, denn warum anders sollten die Leute sich in Haufen zusammentun, rauben, sengen und brennen. Angesichts der zunehmenden herbstlichen Dunkelheit nahmen nämlich auf dem Lande sowohl die Feuerschäden als auch die Speichereinbrüche zu, wodurch doch wohl absolut einwandfrei der Beweis erbracht war, daß das ganze Land in Sozialismus ertrank. Aber andrerseits war es doch auch wieder sonnenklar, daß der Sozialismus nichts anderes darstellte als die christliche Lehre vom Paradiese auf Erden, das die Menschen mit Essen und Trinken selig macht, wenn man ihnen nur genügend hiervon bieten kann. Luther habe den alleinseligmachenden Glauben für die Könige, Fürsten und sonstigen Mächtigen dieser Welt wiederhergestellt, Marx für alle Bauern und Arbeiter, Armen und Elenden. Daher auch der bittere Grimm der Großen und Mächtigen gegen die neue Lehre, daher aber auch die selbstverständliche Wahrheit, daß Sozialist sein heiße, ein Vorkämpfer der Mühseligen und Beladenen sein, ein Schutzengel der Unterdrückten.
Diese Ansichten war auch Wiljasoo bestrebt in seinen Werken zu propagieren, und auch mündlich vertrat er sie immer wieder mit Nachdruck. Mit Indrek, als seinem Mitarbeiter, über diese Probleme redend, erklärte er einmal:
»Wenn Gott seinen eingeborenen Sohn in die Hände der Juden überantwortete, damit sie ihn für die Erlösung der Menschheit ans Kreuz schlügen, warum sollen die Sozialisten dann nicht irgendein Gut oder eine Branntweinkasse ausrauben, wenn sie dem Menschen das Paradies auf Erden bringen wollen?«
Während dieser weisen Betrachtung saß er selbst gerade bei seinem Mittagsmahle, das Marie ihm hierher in sein Büro gebracht hatte. Denn Wiljasoo hatte seinen Scherz vom Beerdigungsabend tatsächlich wahrgemacht und in seiner Junggeselleneinsamkeit eine Revolution heraufbeschworen, indem er sich eine Frau mit zwei Kindern genommen hatte, denselben, die Indrek damals heimtragen geholfen hatte.
Marie hielt die Sache freilich auch eben noch immer für einen Scherz, nur jedesmal, wenn sie Wiljasoo wieder sein Mitragessen brachte, glaubte sie für ein kurzes Weilchen, daß es am Ende doch Ernst sein könne. Und da dieses alle Tage geschah, so wurde ihr schwacher Glauben immer wieder aufs neue gefestigt.
Mitten zwischen seinen Bücherstapeln behaglich sein Mitragessen schmausend, fuhr Wiljasoo, seine Nase rümpfend, fort:
»Ja, also, der liebe Gott hat seines eingeborenen Sohnes nicht verschont, um die Menschheit zu erlösen, aber als Abraham seinem Sohne ans Leben wollte, um sich die Seligkeit zu sichern, so taugte das nicht, und er mußte sich mit einem Ziegenbock begnügen. Was folgt hieraus? Daß dir mehr erlaubt ist, wenn du etwas für einen andern tust als für dich.«
Wiljasoo schwieg, rümpfte die Nase und setzte seine Mahlzeit mit offensichtlichem Appetit fort. Indrek saß auf dem Diwan, umringt von Büchern, in denen er gedankenlos herumblätterte.
»Bis heute habe ich mit meinen Büchern Revolution gemacht«, fuhr Wiljasoo nach einer Weile fort, »aber dabei habe ich doch immer eigentlich nur an mich gedacht. So machen wir es ja alle: Revolution für die anderen, das Leben für uns selbst. Aber nun habe ich in dieser Revolution eine Revolution angezettelt, indem ich nun beginne, für andere zu leben. Herzensgüte, Teilnahme, Barmherzigkeit, Christensinn, was?«
Wiljasoo legte sein Besteck beiseite und begann, sich die Zähne zu stochern.
»Der Mensch ist ein verflucht unglückliches Vieh in unseres Herrgotts Trottelstall«, fluchte er. »Sogar einem Krokodil putzt ein Vögelchen die Zähne, während es in der Sonne seine Siesta hält, aber der Mensch muß das selbst besorgen. Das kommt vermutlich daher, daß der Mensch ein Gewissen hat.« Wiljasoo machte eine kleine Pause und fuhr dann fort:
»Sie denken eben wohl, wozu ich vom Krokodil und dem Gewissen anfange zu reden ...«
»Ich denke gar nichts, ich höre bloß zu«, sagte Indrek.
»Aber ich habe dabei meine besonderen Gedanken«, sagte Wiljasoo, »wenn ich von Teilnahme, Krokodilen und Gewissen rede. Ich denke dabei nämlich an mich selbst.«
»Wieso?« fragte Indrek interessiert.
»Ich fürchte nämlich. Sie könnten mich mißverstehen«, erklärte Wiljasoo.
»Ich kann Sie absolut nicht verstehen«, sagte Indrek offen.
»Ich rede von Marie und ihren Kindern, die wir damals am Abend nach Hause trugen. Sie müssen sich ja damals zweifellos gefragt haben, was denn eigentlich in meinem Oberstübchen los sei, daß ich um eine Frau anhalte, die mit ihren beiden Kindern von der Beerdigung des Mannes kommt.«
»Etwas sonderbar war das schon«, sagte Indrek lächelnd.
»Und als Sie dann eine Erklärung für mein Betragen suchten, da kamen Sie vermutlich auf den Gedanken, daß ich ein sehr weiches Herz haben müsse, nicht wahr?«
»Ob nun gerade ein weiches Herz, wollen wir nicht näher erörtern, aber von einem gewissen Mitleid sind Sie doch wohl kaum freizusprechen«, sagte Indrek mit Überzeugung.
»Das habe ich gefürchtet, daß Sie so denken könnten.«
»Warum denn gefürchtet?« fragte Indrek, das letzte Wort betonend.
»Ganz einfach, weil es nicht stimmt und mich in ein falsches Licht rückt. Ich habe noch nie einem Bettler auch nur einen Kopeken gegeben, es sei denn, daß ich überzeugt davon war, daß er sich dafür ein Schnäpschen leistet, wodurch mein weiches Herz dann alsbald zu einer lächerlichen Albernheit gestempelt wird. Aber was ist daran Lächerliches, daß ich den Kindern eine etwas bessere Ernährung ermögliche oder ihnen einige bessere Lumpen besorgt habe? Komisch genug kommt freilich auch das heraus, indem die Mutter, anstatt sich mit den Kindern zu freuen, zu heulen anfängt. Und wissen Sie warum? Weil ich keine Gegenleistung fordere, zur Nacht nicht dableibe. Alles im Hause glaubt natürlich, daß zwischen uns von Anfang an etwas gewesen ist, denn wer würde wohl sonst jemandes Kinder füttern oder ihnen Kleider kaufen. Marie hat den Nachbarn zornig erklärt, solche wie mich könne sie an jedem Finger zehn haben, im ganzen also hundert solche Alte wie ich, und dabei hat sie doch eigentlich nicht einmal mich. Daher eben dieses Geheul, denn sie hält etwas auf sich. Und sie hat recht, denn sie hat die rechten Ecken und Rundungen einer Frau. Sie brauchen nicht zu erröten, daß ich so junggesellenhaft von der Frau rede, schon als junger Mensch habe ich es nie so recht verstanden, über die Frauen zu reden.«
»Ich erröte durchaus nicht«, verteidigte sich Indrek.
»Sagen Sie das nicht«, fuhr Wiljasoo fort, »junge Leute erröten stets, wenn von Frauen die Rede ist, denn die Frau ist in ihren Augen entweder ein Wundertier, ein Skarabäus etwa, der aus Mist neue Welten zusammendreht, oder eine Heilige. Mir hat weder das eine noch das andere je eingeleuchtet. Und ebenso verstehe ich auch mit Kindern nichts Rechtes anzufangen. Ich habe immer die Empfindung, man könnte ihnen leicht etwas abbrechen, wenn man sie nur etwas fester anfaßt, aber Marie begreife ich natürlich, wenn sie sagt, sie käme sich mit ihren Kindern wie eine Bettlerin vor.«
»Aber warum handeln Sie denn so?« fragte Indrek.
»Was tue ich denn?« fragte Wiljasoo, um dann fortzufahren: »Marie und Sie mißverstehen mich durchaus, wenn Sie annehmen, es handle sich hier um ein Almosen. Daß Marie meinen Erklärungen keinen Glauben schenkt, ist ja gewiß verständlich, denn bei ihr steht ihr weiblicher Wert auf dem Spiele, und außerdem kann sie auf keine Weise fassen, daß die revolutionäre Tätigkeit und ihre Folgen auch auf die Weiber und Kinder auszudehnen ist. Verstehen Sie? Die revolutionäre Tätigkeit!« Bei diesen Worten konnte Indrek ein Lächeln nicht unterdrücken. Als Wiljasoo das bemerkte, fuhr er fort: »Natürlich. Sie lachen, weil Sie die näheren Umstände nicht kennen. Das Geld, das ich für diesen Zweck verwende, stammt vom alten Bystryi, der ein reinblütiger Este war, einen russischen Namen trug und im übrigen nahezu ein Deutscher war, abgesehen davon, daß er die Gendarmen und Kosaken nicht mochte. Und dafür mußte er auch im revolutionären Kampfe fallen. Bitte sehr, ich scherze durchaus nicht. Die tödliche Kugel, die ihn traf, war den Revolutionären bestimmt, und auch Bystryi war ein Revolutionär, denn weder sank er vor dem Sozialismus in Ohnmacht noch nahm er das heilige Abendmahl in der deutschen Kirche. So daß es also nur ganz in der Ordnung war, wenn ein russischer Soldat ihn auf einem Spaziergang herunterknallte. Verstehen Sie? Nun ja, aber vorher hatte er mir ein ganz hübsches Sümmchen geliehen, mit warmer Hand einfach sozusagen, ohne alles Schriftliche. Und nun, wo die Verwandten den Nachlaß verteilen, müßte ich ihnen als anständiger Mensch das Geld doch wohl auszahlen, denn nun gehört das Geld ja nicht mehr meinem alten Freunde Bystryi, sondern seinen Erben. Nun, und ich? Meinen Sie etwa, ich wäre hingegangen und hätte ihnen gesagt, so und so viel habe ich erhalten, und diese Schuld werde ich in Raten zu den und den Terminen abtragen? Nein, das habe ich natürlich nicht getan, denn dann hätten sie natürlich die ganze Summe auf einmal verlangt, und wo hätte ich die hernehmen sollen? Also es wäre zur Auktion gekommen, zur Auktion meiner Bücher, die doch niemand kauft, so daß sie ohnehin nichts bekommen hätten, meine Bücher aber an die Heringsverkäufer verschleudert worden wären, die sie dann ja freilich Blatt für Blatt unters Volk gebracht hätten, Ihre unsterblichen Werke auch«, betonte Wiljasoo lachend und die Nase rümpfend, um dann fortzufahren: »das wäre doch eine Torheit gewesen, und so beschloß ich denn, das Geld für die Beschaffung von Waffen zu spenden. Aber auch hierfür wäre eine größere Summe auf einmal notwendig gewesen, und außerdem kam mir folgende Überlegung: nun schön, ich gebe das Geld, und die Waffen werden gekauft, aber wer wird sie benutzen? Ich komme dafür wohl nicht in Frage, meine Bekannten auch nicht, allenfalls noch Krösus, der wenigstens den Mut hat, den Revolver doch aus der Tasche zu ziehen, zu schießen wagt er auch nicht oder wenn er auch schießt, dann trifft er sicherlich nicht. Er trägt, seinen Revolver nur, um sich vor den andern wichtig zu machen. Und daher hätte auch solch eine Spende keinen Sinn gehabt. Ich dachte hin und her, was ich denn nun eigentlich mit dem Gelde dieses alten Revolutionärs beginnen sollte, und diese Sache ging mir auch damals am Abend, als wir von der Massenbeerdigung kamen, durch den Kopf. Und als wir dann plötzlich diese flennende Frau mit ihren Sprößlingen fanden – ich dachte anfänglich, es wären Jungen –, nun ja, als wir diese vermeintlichen Jungen zusamt ihrer Mutter fanden, da kam mir wie ein Blitz aus heiterem Himmel plötzlich der Gedanke, daß das Geld hier gut angewandt wäre, wenn ich damit diese Jungen erziehen und ihnen dann Gewehr und Dolch in die Hand drücken würde, mit denen sie dann schon wissen würden, was tun. Aber auch hier wieder fiel ich herein, wie Sie wissen, denn es waren gar keine Jungen, sondern Mädchen. Ein Mann rafft sich nun mal immer Mädchen auf die Arme, nie Jungen«, schmunzelte Wiljasoo, die Nase rümpfend, um dann fortzufahren: »Und nun sagen Sie mir doch bitte, wo kann hier von Mitleid, weichem Herzen oder Christensinn die Rede sein? Wo es sich doch bloß um ein ganz gewöhnliches Geschäft handelt, vorteilhafte Tilgung einer Schuld. Marie glaubt natürlich kein Wort von dieser ganzen Geschichte. Sie sagt mir einfach ins Gesicht: es ist dir einfach peinlich, daß ich und die Kinder dir dankbar sein sollten, und darum hast du dir diese ganze Geschichte glatt ausgedacht. Und wissen Sie, was sie neulich noch hinzufügte, wobei sie mich plötzlich siezte: Sie sind ein widerlicher Egoist! rief sie. Sie wollen der einzige sein, der andern Wohltaten erweist, aber für Sie soll niemand etwas tun dürfen. Nicht einmal dankbar darf man sein, gleich wird einem irgendein Toter unter die Nase gerieben, den man überhaupt nicht einmal kennt. Aber Marie, sagte ich zu ihr. Sie bringen mir doch mein Essen. Und Sie glauben, das wiege das auf, was Sie für mich tun? fragte sie direkt zornig. Nun schön, sagte ich, wenn du meinst, das sei zu wenig, dann magst du gerne auch noch meine Wäsche waschen und flicken, meinetwegen sogar auch meine Socken stopfen, wenn es durchaus sein muß. Aber darauf erwiderte sie überhaupt nichts, sondern ging flennend aus der Türe. Das war gerade eben, bevor Sie kamen, so daß ich nun noch nicht einmal weiß, wie das alles enden wird, ob sie anfangen wird, meine Wäsche zu waschen und die Socken zu stopfen oder nicht.«
»Natürlich wird sie das«, meinte Indrek.
»Das wäre ja ganz schön«, meinte Wiljasoo, »aber besser noch wäre es, wenn sie kapieren würde, daß ich nichts weniger bin als ein Wohltäter, sondern einfach ein Mensch, der eine Schuld abträgt, und zwar in einer Weise, die für ihn am leichtesten und vorteilhaftesten ist.«
»Das glauben Sie ja selbst nicht«, sagte Indrek.
»Doch, das glaube ich«, versetzte Wiljasoo, »und Ihnen sage ich es, damit Sie es auch glauben und mir helfen, Marie zur Vernunft zu bringen, denn Ihnen, als einem an der ganzen Sache nicht interessierten Menschen, wird sie eher Glauben schenken als mir.«