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Wenn es Indrek gelungen war, in den Kreisen der revolutionär gesinnten Jugend Aufnahme und bei dieser Vertrauen zu finden, so verdankte er das neben seinen literarischen Beziehungen zur Redaktion des »Volksfreund« vor allem auch dem äußeren Beweise seiner Zuverlässigkeit – der von einer Kosakenknute herrührenden Narbe am Halse, mit der selbst seine Wirtin, Frau Lohk, gegenüber den Nachbarn zu prahlen liebte, gleichwie auch mit der rein geistigen Tätigkeit Indreks, der nicht nur Nachhilfestunden in verschiedenen Fächern erteilte, sondern auch so schrecklich viele Bücher las.
Eine gewisse Rolle war Indreks geheimnisvolle Halsnarbe auch zu spielen berufen, als die Tochter seiner Wirtsleute, Kristi, vom Lande in die Stadt heimkehrte, ein sechzehn, siebzehnjähriges Mädel mit zwei hübschen Zöpfen, die es aber um jeden Preis abzuschneiden wünschte, da sie ihr angeblich überall im Wege waren. Durch die Türe hindurch war Indrek häufig Zeuge diesbezüglicher heftiger Auseinandersetzungen zwischen Mutter und Tochter, wobei erstere immer wieder darauf zurückkam, daß den Frauen auch noch andere von Gott erschaffene Dinge eigen seien, die ihnen vielleicht unbequem sein könnten, aber wie ließe sich in diesem Leben denn alles Unbequeme vermeiden. Und dann meinte sie: »Haare sind doch ein Schmuck, sie machen ein Mädchen doch nur hübscher.«
»Ich will aber gar nicht hübsch sein«, ereiferte sich Kristi, »damit die Jungen wie die Raben hinter einem her sind.«
»Deswegen bist du wohl auch so früh vom Lande wieder in die Stadt gekommen?« fragte die Mutter.
»Frag lieber gar nicht«, versetzte die Tochter störrisch, aber damit war die Unterhaltung keineswegs abgeschlossen, bewegte sich vielmehr weiter um das Thema Haare, Schönheit und Jungen, bis endlich der Vater erschien und, nachdem er gehört, worum es sich handle, erklärte:
»Lern du erst mal Englisch und fahr dann nach Amerika, da magst du dir den Schädel meinetwegen mit Nummer Null rasieren, aber hier darfst du deine Zöpfe nicht anrühren. Der Mutter verdankst du sie, und wenn die wünscht, daß sie bleiben, dann bleiben sie eben.«
»Aber wenn ich Englisch gelernt habe, dann darf ich sie abschneiden?« bohrte die Tochter weiter.
»Englisch und dann hinüber nach Amerika, dann meinetwegen. Und die Haare, die schick dann hübsch zurück, damit man dann doch noch wenigstens so viel von seinem Kinde hat«, sagte der Vater, und der Ton seiner Stimme schien Indrek bei diesen Worten weder mit seinem großen schweren Leibe noch mit seinen kleinen, glitzernden Augen zu harmonieren.
»Wenn ihr nicht wollt, dann brauche ich auch gar nicht zu fahren«, erklärte Kristi gleichsam tröstend.
»Was wirst du denn hier anfangen?« fragte der Vater. »Besser schon du verläßt unser altes Revolutionsnest hier.«
»Aber ich will gar nicht aus diesem Revolutionsnest hinaus«, erklärte die Tochter.
»Was, willst du etwa auch mitmachen? Das wäre wohl das letzte, was man einem Menschen raten könnte.«
Und so sollte denn das Töchterchen mit seinen hübschen Zöpfen über den Ozean reisen, um diesen weiblichen Schmuck auch dem fernen Onkel zu zeigen, wo dann entschieden werden sollte, ob sie ihn noch weiter tragen solle, zur Freude ihrer Mitmenschen. Und zusammen mit den Zöpfen sollten auch die ähnlich denen der Mutter offen und ruhig, beinahe nachdenklich blickenden blauen Augen reisen, die ein wenig zu breiten Schultern, die schmalen, noch jugendlich eckigen Hüften, die schon leicht sich wölbenden Brüste und die etwas zu langen und großen Arme und Hände, die aussahen, als wären sie von woanders hergenommen und diesem Körper angeleimt, oder als sei der Leib im Wachstum zurückgeblieben, während die Arme ihr natürliches Wachstum fortgesetzt hätten. Aber in diesen ungeschlachten Armen und Händen lag viel Herzlichkeit, weit mehr als in den Augen, es sei denn, daß in diesen ein besonderer Strahl aufleuchtete, der sie warm und vertraut erscheinen ließ. Diese Herzlichkeit der Hände hatte Indrek schon bei der ersten Begrüßung empfunden. Ein wenig groß geraten war außer Armen und Händen an dieser ganzen Person nur noch der üppige Mund.
Indrek war Kristi von vornherein so begegnet, als seien sie schon lange alte gute Bekannte. Hatte die Mutter ihr doch schon aufs Land von Indrek geschrieben und nun, nach ihrer Rückkehr, überdies noch viel von ihm erzählt. Von den Kosaken und dem Halse und überhaupt alles. Und so kam sie Indrek nun eines schönen Tages mit dem Vorschlage, sie auf eine geheime Versammlung zu begleiten, denn auch sie, Kristi, gehöre zu einem Geheimkreise, in dem auswärtige Redner, richtige Propagandisten, die die Revolution vorbereiteten, Reden hielten. Die Eltern dürften davon natürlich nichts wissen, sonst würden sie sie sogleich nach Amerika schicken. Der Vater besuche zwar selbst geheime Arbeiterversammlungen, aber Kristi erlaube er überhaupt kaum allein auszugehen, allenfalls mit der Mutter ins Bethaus, wo es »Heulen und Zähneklappern« gebe, aber nicht auf Geheimversammlungen. Sie hatte schon ein halbes Jahr lang derartige Versammlungen besucht; was sie dabei eigentlich am meisten anzog – das elterliche Verbot, die Geheimniskrämerei oder die Versammlungen selbst, das hätte sie kaum zu sagen gewußt. Auf die Heimlichkeit legte sie jedenfalls besonders großes Gewicht, schon gleich beim ersten Male, als sie sich mit Indrek auf eine solche Versammlung begab. Unter ihrer Führung machten die beiden allerlei zwecklose Runden und Haken, schlüpften durch ein Tor in einen Hof, um diesen dann durch ein anderes Tor wieder zu verlassen und ihren Weg auf einer anderen Straße fortzusetzen.
»Das ist wegen der Spitzel«, erklärte Kristi.
»Sind die denn hinter uns her?« fragte Indrek.
»Nein«, versetzte Kristi, »jetzt wohl nicht. Das ist eher zu befürchten, wenn man allein geht. Darum wird auch immer empfohlen: kommt immer zu zweien, mit einem Kavalier womöglich, so daß es nach einer Liebelei aussieht. Das ist ungefährlich. Verliebte Leute pflegen die Grundlagen des Staates nicht zu unterwühlen, haben kein Interesse für die Freiheit.«
»So daß wir also heute ganz unnütz all diese Haken geschlagen haben«, folgerte Indrek.
»Das war nur so zum Spaß, um Ihnen zu zeigen, wie ich es mache, wenn ich allein gehe«, sagte Kristi. »Aber das heute, das war noch gar nichts. Wenn ich allein bin, dann gehe ich manchmal weit, weit hinaus, wo es dunkel und unheimlich ist, so daß einem der Atem stockt. Und dann versuche ich, mich leise irgendwo in eine knarrende Haustür hineinzuschleichen, oder ich reiße die Tür plötzlich dreist auf, als gehörte ich in dieses Haus. Auf der Treppe und im Korridor ist es finster. Ich tappe mich hinauf in den zweiten Stock oder bleibe irgendwo auf der Treppe stehen und lausche – lausche, manchmal einfach nur, um zu sehen, wie lange ich so auf einer fremden Treppe stehen und lauschen kann, bevor irgend jemand kommt. Manchmal schleiche ich mich in irgendeinen dunklen Hof und drücke mich dort in eine Ecke. Aber das werde ich nicht mehr tun.«
»Warum?« fragte Indrek.
»Es könnte wieder ein Hund kommen«' versetzte Kristi. »Das letztemal kam es nämlich so: ich hatte mich in die dunkle Ecke eines Hofs gedrückt, stehe da und warte. Plötzlich fühle ich, wie jemand meine Kleider berührt, so in der Höhe der Knie, und höre deutlich Atemzüge. Ich fahre mit der Hand hin – und fühle die Schnauze, den Kopf eines Hundes. Ich wäre vor Schrecken und Furcht beinahe tot umgesunken. Wenn es nun ein böser Hund gewesen wäre, der vorher schnuppert und sobald ich mich bewege, nur den Versuch mache, mich zu bewegen, mich packt? Aber nein, es war zum Glück ein guter Hund, er wollte gestreichelt werden, rieb sich an meinen Knien und wedelte vor Freude mit dem Schwanze, als wäre er schon lange gestreichelt worden, nur ich stehe da und zittere vor Angst. Noch in der Pforte tätschelte ich ihm den zottigen Kopf, bevor ich ging.«
»Und nun wagen Sie nicht mehr, einen fremden Hof zu betreten?« fragte Indrek.
»Nein, das tue ich gewiß niemals wieder«, versicherte Kristi.
»Aber wenn Ihnen nun wirklich ein Spitzel auf den Fersen wäre?«
»Dann würde ich in irgendein Haus treten und meinetwegen sogar an einer fremden Wohnung schellen und irgend etwas fragen oder einfach erklären: ein Spitzel ist mir auf der Spur, lauert mir draußen auf, und darum machen Sie, was Sie wollen, aber erlauben Sie mir schon, hier ein wenig zu warten, bis der Kerl draußen verduftet ist.«
»Aber das könnte ja die Wohnung des Spitzels sein, wie können Sie das wissen?« fragte Indrek beharrlich weiter.
»Gott im Himmel, was für schreckliche Sachen Sie sprechen!« rief Kristi ganz entsetzt. »Sie meinen also, es könnte so kommen, daß ich in irgendeine Wohnung trete, man mir dort höflich einen Stuhl anbietet, sich mit mir unterhält, und das alles täten die Frau, die Kinder, die Verwandten des Spitzels. So daß der also eine Frau hätte und Kinder und alles.«
»Aber warum denn nicht?« fragte Indrek belustigt.
»Und die wissen, daß der Vater ... Nein, nein, das wäre zu schrecklich! Solche Sachen sollte man nicht reden. Einfach scheußlich! Wie können Ihnen nur überhaupt solche Gedanken kommen?« fragte Kristi entsetzt.
»Warum denn nicht?« fragte Indrek harmlos. »Gedanken können einem doch alle möglichen kommen. Gedanken sind zollfrei.«
»Ja, das ist richtig, Gedanken sind frei, Gedanken sind frei«, wiederholte Kristi vor sich hin. »So daß ich, wenn ich wollte, denken könnte, daß mein ... Aber nein, das kann ich einfach nicht denken. Meine Gedanken sind eben nicht frei, nicht so frei jedenfalls. Ich könnte nicht einmal denken, daß Ihr Vater ... einfach unmöglich, es bleibt mir einfach in der Kehle stecken. Wenn Sie nicht diese Narbe am Halse hätten, dann ginge es vielleicht, aber so ist es mir einfach unmöglich. Aber können Sie denn wirklich alles denken?« fragte Kristi schließlich Indrek ungläubig.
»Ja, das kann ich«, versetzte dieser bestimmt.
»Und können Sie auch von Ihren Eltern alles denken?« fragte das Mädchen.
»Warum denn gerade von denen?«
»Aha!« rief Kristi triumphierend. »Also Sie können doch auch nicht alles denken.«
»Doch«, versetzte Indrek ruhig. »Ich kann zum Beispiel denken, daß mein Vater ein Spitzel wäre.«
»Gott erbarme sich!« rief das Mädchen, und es klang, als wären ihr die Tränen nahe. »Sie sind furchtbar! Sie sind schrecklich! Ich beginne einfach Sie zu fürchten.«
»Sie mißverstehen mich«, erklärte Indrek nun. »Ich kann das ja wohl denken, aber ich brauche es darum doch noch nicht zu glauben.«
»Nein, nein«, widersprach Kristi eifrig, »wer so etwas denken kann, der kann das auch glauben. Wenn ich etwas längere Zeit denke, dann fange ich auch an zu glauben, daß es so ist, denn warum würde ich sonst wohl so denken.«