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XI

In der Folge begann eine neue Erscheinung als flüchtiger Sonnenstrahl dann und wann diese drückende Atmosphäre zu vergolden. Das war die Tochter des Direktors, die alle immer nur kurzweg das Fräulein nannten oder die Prinzessin. Wenn an Indrek die Reihe war, Brot aufzuschneiden und den Tisch zu decken – denn auch diese Aufgabe fiel ihm neben so mancher anderen alle paar Tage zu –, erschien manchmal auch das Fräulein im Speisezimmer, um sich hier aufs Fensterbrett oder gar auf die Tischkante zu schwingen und ihre langen, schlanken Beine baumeln zu lassen, denn auf einer Bank oder einem Stuhl mochte sie niemals sitzen, wohl weil sie zu niedrig waren, um mit den Beinen zu schlenkern. Anfänglich erregte ihr Erscheinen bei Indrek ein gewisses Mißbehagen, denn es war ihm peinlich Brot zu säbeln oder mit dem Geschirr zu klappern, wenn jemand jede seiner Bewegungen mit den Blicken verfolgte. Besser war es in dieser Hinsicht schon, wenn Frau Malmberg, die Tante des Fräuleins, ebenfalls im Zimmer war, denn die jagte das Fräulein entweder fort, oder sie ermahnte sie wegen ihres Betragens.

»Wo sitzt du wieder!« rief Frau Malmberg gewöhnlich. »Da ißt man doch! Schämst du dich nicht?«

»Warum sollte ich mich schämen?« versetzte das Fräulein. »Meine Kleider sind ja doch rein.«

»Hat man dich das in der deutschen Pension gelehrt?«

»Das haben wir da selbst gelernt, immer saßen wir auf irgendeinem Tisch oder sonst einer erhöhten Stelle«, erklärte das Fräulein.

Einmal, als die Tante nicht da war, fragte sie Indrek:

»Sie haben doch nichts dagegen, daß ich hier sitze?«

»Ich eß da nicht, Fräulein«, versetzte Indrek.

»Wo essen Sie denn?«

»Wie es gerade kommt, aber nicht da; da ißt Herr Ollino.«

»Früher hat er doch nicht hier gegessen«, rief das Fräulein und sprang vom Tisch herab. »Pfui, wie Sie mich erschreckt haben! Wenn er das gesehen hätte, dann hätte es von Papa wieder eine Predigt gesetzt. An welcher Stelle ißt denn Wutt?«

»Hier«, zeigte Indrek.

»Dahin setze ich mich, dahin setze ich mich unbedingt«, erklärte das Fräulein. Aber noch ehe sie ihre Absicht ausführen konnte, kam die Tante mit der Nachricht, daß der Papa nach Hause gekommen sei, und das Fräulein verschwand wie gescheucht aus dem Speisezimmer, denn der Aufenthalt hier war ihr streng untersagt.

Ein anderes Mal, als sie wieder im Speisezimmer saß und ihre Beine schlenkerte, sagte sie zu Indrek:

»Sie haben doch eigentlich ein herrliches Leben!«

»Meinen Sie?« fragte Indrek verwundert.

»Habe ich denn nicht recht?« fuhr das Fräulein fort.

»Eher hat wohl das Fräulein ein gutes Leben«, meinte Indrek.

»Ich? Ich langweile mich, langweile mich ganz entsetzlich. Ich darf ja gar nichts tun oder reden. Und auch gehen darf ich nirgendshin, immer nur in Gesellschaft der Tante oder sonst jemandes.«

»Und ich kann nirgendshin gehen, denn ich habe dazu weder die Zeit noch die Möglichkeit«, sagte Indrek.

»Sie müssen unten sein, nicht wahr? Sie können Papa nicht zahlen, nicht?«

Indrek schwieg und klapperte mit den Tellern, Messern und Gabeln.

»Wozu sind Sie eigentlich hier? Um Brot zu schneiden und den Tisch zu decken?« fragte das Fräulein.

»Um zu lernen«, versetzte Indrek.

»Wann lernen Sie denn eigentlich, wenn Sie immer zu tun haben, irgendwohin rennen müssen oder unten im Zimmer sitzen? Sie haben ja nicht einmal in der Nacht Ruhe, dann klingelt es ja beständig, man kann es sogar oben hören. Und Sie müssen doch öffnen? Nicht?«

»Freilich, das muß ich«, versetzte Indrek.

»Sehen Sie, ich weiß alles, aber wann lernen Sie denn eigentlich?«

»Dafür findet sich Zeit genug!« prahlte Indrek, um seine Lage doch nicht gar zu kläglich erscheinen zu lassen.

»Was mögen Sie am meisten? Lateinisch, wie Papa sagt, was? Papa ist immer der Ansicht, daß alle nur Lateinisch lernen wollen. Aber ich mag es nicht, denn was fange ich damit an. Ich liebe Deutsch, das ist am schönsten. Sie verstehen kein Deutsch? Wie schade! Dann brauchten wir nicht russisch zu sprechen. Warum lernen Sie nicht Deutsch? Wollen Sie, ich lehre es Sie. Ich werde mit Ihnen von nun an nur noch deutsch sprechen. Jeder gebildete Mensch spricht doch deutsch, denn ohne Deutsch kann es doch gar keine Bildung geben. Das sagen alle – Papa, die Tante, alle, alle, die ganze Welt. Und was können wir gegen die ganze Welt? Verstehen Sie?«

Und sogleich begann sie auch mit dem Unterricht, indem sie einen Teller ergriff, ein Messer oder eine Gabel und fragte: »Was ist das?« worauf Indrek die deutsche Benennung sagen mußte.

»So verlieren Sie keine Zeit: tun Ihre Arbeit und lernen gleichzeitig Deutsch. Was machen Sie da?« fragte sie, als Indrek sich daran machte Brot zu schneiden. »Ich habe es mir zur Lebensaufgabe gemacht, die Jungen Deutsch zu lehren. Dann mache ich mich doch auch etwas nützlich«, meinte das Fräulein erfreut. »Vor allem sollen Sie aber Deutsch lernen, denn die estnische Sprache ist ja unmöglich.«

»Wieso?« fragte Indrek.

»Im Estnischen haben alle hübschen und alle häßlichen Worte ein S, darum. Aber im Deutschen haben sie kein S: Ich liebe dich, ich bin verliebt! Ring! Brautring! Wie schön das klingt! Also vor allem müssen Sie Deutsch lernen, und ich werde Sie es lehren. Mit dem größten Vergnügen, nur wegen dieses schrecklichen S.«

»Warum mögen Fräulein denn das S nicht?« fragte Indrek.

»Das kann ich Ihnen nicht sagen«, versetzte das Fräulein, leicht errötend. »Der Tante habe ich es wohl gesagt, aber sie lacht mich nur aus. Die Tante ist nicht sehr feinfühlig, sie hat oft nicht das geringste Verständnis für meine Empfindungen. Sobald ich mal selbständig geworden bin, werde ich auf Reisen gehen, unbedingt, und werde eine Sprache suchen, in der es kein S gibt, denn eine solche Sprache muß es doch irgendwo geben. Es ist doch nicht denkbar, daß es auf der ganzen Welt nicht ein so feinfühliges Volk geben sollte. Verstehen Sie – auf der ganzen Welt!«

Einmal fragte das Fräulein Indrek:

»Wie gefällt Ihnen mein Name – Ramilda. Ist er nicht schön?«

»Sehr schön!« lobte Indrek.

»Und wissen Sie, was das ist? Das ist doch Miralda. Mein richtiger Name ist nämlich Miralda. Aber der gefällt mir nicht. Ramilda ist viel schöner. Und feiner, vornehmer. Wenn ich volljährig bin, werde ich meinen Namen unbedingt ändern, und wenn ich beim Kaiser eine Bittschrift einreichen sollte. Aus Miralda kann man viele schöne Namen machen, aber Ramilda ist doch der schönste. Passen Sie mal auf: Miralda, Marilda, Rimalda, Ramilda, Ridalma, Radilma, Diralma, Darilma, Ramaldi, Maraldi, Ramidla, Rimadla, Maridla, Miradla – unzählige. Aber wegen der anderen würde ich keine Bittschrift einreichen, nur wegen Ramilda. Die Bittschrift habe ich übrigens schon fertig. Natürlich nicht auf dem Papier, sondern im Kopfe. Jeden Abend vor dem Einschlafen lese ich sie dem Kaiser in Gedanken vor, damit es besser wirkt, wenn ich sie einmal wirklich abschicke. Was glauben Sie, wird der Kaiser mir erlauben, mich Ramilda zu nennen, anstatt Miralda?«

»Das weiß ich nicht, Fräulein«, versetzte Indrek.

»Aber was glauben Sie? Ich möchte ja bloß Ihre Meinung wissen.«

»Ich glaube, er wird es erlauben«, meinte Indrek schließlich.

»Glauben Sie wirklich?«

»Ja, wirklich«, bekräftigte der Junge.

»Nicht wahr?« rief Ramilda erfreut, »denn was sollte der Kaiser wohl dagegen haben. Und darauf Ihre Hand.« Und mit diesen Worten sprang sie mit beiden Füßen zugleich vom Fensterbrett herab und streckte Indrek die Hand entgegen. Als sie diese gedrückt hatte, sagte sie:

»Tigapuus Hand ist größer als die Ihre. Er ist kleiner als Sie, aber seine Hand ist größer und stärker. Noch einmal! Drücken Sie ordentlich, daß ich es auch spüre.«

Und Indrek mußte aufs neue ihre Hand drücken, worauf sie erklärte:

»Aber Tigapuu ist doch stärker. Und er spricht deutsch, ganz nett schon, wie ein richtig gebildeter Mensch. Ihm gefällt es hier so gut. Gefällt es Ihnen hier?«

»Gewiß gefällt es mir«, antwortete Indrek.

»Nicht wahr, es ist lustig? Papa ist mit den Jungen in Not, sie sind gar zu unartig. Sind Sie auch manchmal unartig?«

»Ich glaube kaum«, meinte Indrek.

»Natürlich, Sie sind ja schon groß, darum. Aber Tigapuu ist unartig; ich weiß, daß er es ist. Was war denn eigentlich mit Goethe und Schiller? Erzählen Sie mir das doch. Ich fragte Tigapuu, aber der sagte, er wüßte es nicht. Aber Sie können es mir doch sagen. Ich erzähle es bestimmt nicht weiter. Weder der Tante noch Papa. So daß nur wir beide Bescheid wüßten. Ich würde so gerne wissen, wie das eigentlich war, denn unartige Jungen gefallen mir gar zu sehr, überhaupt Jungen! Sie sind so nett, so männlich. Mädchen sind immer neidisch, furchtbar neidisch. Und boshaft! Auf mich sind sie neidisch und so böse. Sie behaupten, ich sei dumm. Aber ich glaube, es gibt noch viel dümmere Mädchen als mich. Was meinen Sie, gibt es dümmere? Sprechen Sie ganz ehrlich und offen.«

»Ich kenne die Mädchen nicht«, sagte Indrek.

»Das ist hübsch von Ihnen; die Mädchen sind alle so schrecklich albern. Ich bin auch albern. Aber was glauben Sie, bin ich wirklich so dumm, wie die anderen aus Neid behaupten? Was meinen Sie? Über die Bittschrift an den Kaiser äußerten Sie doch Ihre Ansicht, warum denn nicht auch über meine Dummheit. Nun, was meinen Sie?« bettelte Ramilda.

»Ich denke – wohl nicht«, sagte Indrek schließlich, den Kopf zur Seite wendend.

»Nicht wahr!« rief Ramilda erfreut. »Wäre wohl jedes Mädchen auf eine Bittschrift an den Kaiser verfallen oder hätte es verstanden, aus Miralda Ramilda zu machen? Ich bin so glücklich, daß Sie meine Ansicht teilen. Aber Deutsch müssen Sie lernen, das müssen Sie unbedingt. Das wünscht Ramilda, Rimalda, Radilma, Darilma, Ramaldi, Maraldi, Ramidla, Miradla ...«

Zwitschernd wie ein Vögelchen verschwand sie durch die Türe. Aber Indrek empfand in seinem Herzen eine sanft betäubende Schwere, ein seltsam beglückendes, schmerzvolles Zucken.

So gingen die Tage dahin, schwanden die Wochen, Indrek merkte es nicht. Es schien, als konzentriere sich sein ganzes Interesse nur auf einen Punkt: ob das Fräulein zur gegebenen Stunde im Speisezimmer erscheinen würde, um ihn Deutsch zu lehren oder nicht. Alle übrigen Lehrfächer drohten in Vergessenheit zu geraten, er büffelte ausschließlich deutsche Grammatik, las deutsche Bücher und ochste deutsche Vokabeln. Und wenn das Fräulein nicht im Speisezimmer auftauchte, dann war Indrek düster und melancholisch, namentlich wenn er noch erfuhr, daß Ramilda dagewesen war, um mit einem anderen Jungen zu plaudern.

Gleichwie Indrek wußten auch viele anderen Jungen, vielleicht alle, wie Ramilda zu ihrem Namen gekommen war und zu all den anderen Namen, die so schön klangen, daß man sie sich vielfach unwillkürlich leise vorsprechen mußte. Jeder hatte seinen Namen, den er besonders bevorzugte und zum Gegenstände seiner begeisterten Bewunderung machte. Aber hinter all diesen schönen Namen stand eine einzige Frau, die den Männern ihre zehntausend Namen vorgezwitschert hatte, und die berauschte Männerherde zwitscherte sie ihr nach. Da war es denn kein Wunder, daß auch Indrek mitzuzwitschern begann, mal bewußt, mal unbewußt, indem er immer neue und neue Kombinationen erfand, den Namen bis in die Unendlichkeit variierend. Das war ein Spiel und Zeitvertreib, der einem sogar die langweiligsten Schulstunden versüßte. Und dieses Spiel breitete sich mit einer solchen Geschwindigkeit aus, daß es drohte, das Liedchen des Grafen in den Schatten zu stellen, mit dem Unterschied bloß, daß man dieses Liedchen laut im Chore sang, während den Namen jeder still für sich wiederholte, so daß man das Lied des Grafen als einigendes Moment hätte bezeichnen können, den Namen des Fräuleins dahingegen als ein trennendes.

Das kam Indrek eigentlich erst zum Bewußtsein, als es einmal mit Tigapuu wegen dieses Namens einen Zusammenstoß gab.

»Was babbelst du da?« fragte Tigapuu Indrek nahezu zornig, als dieser wieder mal still vor sich hin murmelte: Rimadla, Ramidla, Maridla, Miradla.

»Das alte Schwalbenlied: Midli-Madli, Kidli-Kadli«, versetzte Indrek schnell gefaßt.

»Mir klang es anders«, knurrte Tigapuu.

»Aber wie denn, Herr Gott noch mal!« rief Indrek, den Tigapuus Ton erregte.

»Ich habe genau das gehört, was du gesagt hast, und ich verbiete dir das hiermit, hast du verstanden«, sagte Tigapuu drohend.

»Was? Du willst mir das verbieten? Zum Verbieten sind hier andere Leute da.«

»Du bekommst das, wenn du sonst nicht hören willst«, sagte Tigapuu und streckte Indrek die Faust unter die Nase.

»Und du bekommst eins über den Schädel, wenn du mit der Faust kommst«, sagte Indrek.

»Überall gibt es keine losen Tischplatten«, grinste Tigapuu.

»Es findet sich schon überall etwas, dir eins über den Schädel zu geben«, versetzte Indrek.

Die letzten Worte hatte Herr Ollino aufgefangen, und er fragte scherzend:

»Wem gibt denn der Paas da schon wieder über den Schädel?«

»Immer Tigapuu«, erklärte Indrek, »denn der kriecht mir mit der Faust unter die Nase, wenn ich das Schwalbenlied singe: Midli-Madli, Kidli-Kadli.«

»Flunker nicht!« rief Tigapuu zornig.

»Warum bist du so wütend?« fragte Ollino Tigapuu.

»Paas lügt!« rief Tigapuu.

»Was ist denn dabei, daß er lügt«, meinte Ollino, »wir alle lügen doch manchmal.«

»Zwischen Lüge und Lüge ist ein Unterschied«, erklärte Tigapuu.

»Was hat der Paas denn gesagt?«

»Es ist nicht meine Sache, das zu wiederholen«, knurrte Tigapuu.

Ollino schmunzelte.

»Ihr könnt ja alle lachen, wenn ihr wollt, aber meiner Meinung nach ist es keineswegs hübsch, wenn mit dem Namen eines jungen Mädchens so umgegangen wird, als sei es ein Spielzeug, namentlich wenn dieses junge Mädchen die Tochter unseres Direktors ist«, erklärte Tigapuu nun.

»Aber dieses junge Mädchen geht vor allem selbst so mit ihrem Namen um«, widersprach Ollino.

»Mit seinem Namen und mit sich selbst kann jeder Mensch tun was er will, aber darum ist das doch anderen noch nicht gestattet. Mit einem Menschen darf man nicht spielen, man muß ihn ernst nehmen. Und ganz und gar nicht schickt sich das, wenn es sich um ein junges Mädchen handelt, das die Tochter des Direktors ist.«

Zur Antwort auf diese weise Erklärung summte Ollino ein Liedchen vor sich hin, nach der Melodie »O Tannebaum ...«

»O Tigapuu, o Tigapuu,
Du bist ja ganz verliebt.«

»Ich bitte ernste Sachen nicht ins Lächerliche zu ziehen«, rief Tigapuu zornig.

»Seit wann läßt du es dir eigentlich angelegen sein, die Rechte der Menschen zu verteidigen?« fragte Ollino. »Was meinen Sie dazu, Paas? Ist Tigapuu schon mal auch für Sie eingetreten?«

»Nicht daß ich mich entsinnen könnte«, versetzte Indrek und erachtete den Augenblick für geeignet, hinzuzufügen: »Das Geld, das er von mir geliehen hat, habe ich jedenfalls bisher nicht zurückerhalten.«

»Was hat das Geld mit den Rechten der Menschen zu tun!« rief Tigapuu. »Und was schwatzt du da überhaupt? Wann hätte ich jemals etwas von dir geliehen?«

»Vor langer Zeit schon«, antwortete Indrek. »Im Herbst, bald nachdem ich hierher gekommen war.«

»Ich dich angepumpt?« verwunderte sich Tigapuu.

»Wenigstens um den Rubel für die Decke.«

»Aber dafür hast du doch Decke und Kissen benutzt.«

»Nicht eine Nacht, du nahmst sie ja gleich wieder zurück.«

»Warum gabst du sie?«

»Du sagtest mir doch, die Sachen gehörten nicht dir.«

»Warum glaubtest du das denn?«

»Dann hast du mich also betrogen?«

»Warum läßt du dich betrügen?«

»Das ist also dein sogenanntes Recht.«

»Gewiß, wenn ein anderer so dumm ist.«

Diese kurzen Sätze warfen sich die beiden Partner hastig, nahezu gleichzeitig gegenseitig ins Gesicht. Ollino stand dabei, die Hände in den Hosentaschen und beobachtete die beiden Jungen. Auf Tigapuus letzte Worte sagte er schmunzelnd, sich gewissermaßen an Indrek wendend:

»Tigapuu ist verliebt, das steht fest. Denn wenn jemand der Ansicht ist, daß er das Recht hat, einen anderen zu betrügen, dann ist er zweifellos verliebt.« Und damit begann er im Zimmer auf und ab zu spazieren, als sei nun die ganze Frage erledigt. Indrek wußte nicht, ob er seine Worte als Ernst oder Scherz auffassen sollte. Erst nach Jahren hätte er erfassen können, wieviel Wahrheit hinter Ollinos Worten steckte, aber da hatte er diese Worte schon längst vergessen.

Aber am nächsten Tage im Speisezimmer fragte das Fräulein:

»Ist es wahr, daß Sie sich wegen meines Namens mit Tigapuu in die Haare geraten sind?«

»Wegen Ihres Namens nicht«, flunkerte Indrek, während ihm Ollinos Worte einfielen; der Verliebte glaubt immer, daß er das Recht hat, zu betrügen.

»Weswegen denn?« fragte Ramilda, und in ihrer Frage lag offensichtlich Bedauern.

»Ich sang bloß das alte Schwalbenlied Midli-Madli, Kidli-Kadli.«

»Verhielt es sich wirklich so?« forschte Ramilda und blickte Indrek gleichsam enttäuscht an. »Dachten Sie denn nicht an meinen Namen, als sie so sangen?«

»Ich kann mich nicht recht entsinnen, aber ich glaube nicht.«

»Besinnen Sie sich doch«, fuhr Ramilda hartnäckig fort. »Rimadla, Ramidla, Miradla, Maridla, Ridla, Radla, Ridli, Radli, Kidli-Kadli, Midli-Madli. Unbedingt verhielt es sich so, nicht wahr?«

»Ich weiß nicht, es mag sein.«

»Ganz gewiß, so war es!« erklärte Ramilda mit Bestimmtheit und fügte dann gleichsam zu sich selbst hinzu: »Also Tigapuu hatte doch recht! Tigapuu hatte recht!«

Und mit diesen Worten tänzelte sie aus dem Zimmer, als beeile sie sich, irgend jemandem eine Freudennachricht zu überbringen, und Indrek wiederholte gedankenlos ihre letzten Worte: »Tigapuu hatte recht, Tigapuu hatte recht.« Und dabei empfand er im Herzen eine schwere Last, die seinen ganzen Leib schwül zu durchströmen schien. Und dann sah er sich in Gedanken plötzlich in der Dämmerung unter dunklen, rauschenden Fichten an der Ecke eines Friedhofs stehen, wo jemand vor ihm stand, der dann plötzlich davonlief, während er blieb. Auch heute war wieder jemand davongelaufen, immer läuft jemand fort, jemand anderes, nur er bleibt, er allein.

So phantasierte Indrek vor sich hin, während er Brot schnitt, als plötzlich Frau Malmberg eintrat und sagte:

»Wie schneiden Sie denn heute Brot?«

»Das Messer scheint stumpf zu sein«, meinte Indrek.

»Dann schleifen Sie es, sonst verbröckeln Sie mehr als Sie aufschneiden.«

Auch die Teller und die Messer und Gabeln gingen heute ihre eigenen Wege, fielen Indrek aus den Händen, klirrten und klapperten.

»Was haben Sie denn heute eigentlich?« fragte Frau Malmberg. »Sind Sie verschlafen oder krank?«

»Heute nacht wurde so viel geklingelt«, entschuldigte sich Indrek. »Ich habe kaum geschlafen.«

»Armer Junge!« bedauerte ihn die Frau. »Aber auf diese Weise wird von den armen Tellern und Tassen bald nichts mehr übrig sein. Sehen Sie, die Teller haben ohnehin an allen Rändern Sprünge, und die Tassen haben überhaupt keine Ohren mehr.«

»Das ist eigentlich auch viel bequemer«, meinte Indrek, »so passen sie besser ineinander.«

»Aber wie sieht das denn aus, Tassen ohne Ohren!« sagte Frau Malmberg belehrend. »Wie würde ein Mensch ohne Ohren aussehen. Das wäre ja schrecklich! Und das gilt auch für Tassen – sie müssen Ohren haben, wie sollte man sie sonst fassen.«

»Ja natürlich, Frau Malmberg«, erklärte sich Indrek einverstanden.

»Aber warum schlagen Sie denn den Tassen die Ohren ab, wenn Sie selbst doch welche haben?«

»Ich schlage sie doch gar nicht ab, sie brechen von selbst«, versetzte Indrek. »Wenn die Ohren der Menschen ebenso zart wären wie die Tassenohren, dann wären vermutlich alle Menschen ohne Ohren.«

»Das wäre nur gerecht«, meinte Frau Malmberg. »Denn warum soll der Mensch Ohren haben, wenn die Tassen ohne sie sein können.«

»Aber die Tassenohren hören doch nicht«, versuchte Indrek zu replizieren.

»Hören denn alle Menschenohren?« fragte Frau Malmberg. »Meines Vaters Ohren hörten schließlich nichts mehr, aber hat jemand sie deswegen abgerissen? Zusammen mit seinen tauben Ohren ist er ins Grab gestiegen und wird er am Jüngsten Tage auferstehen.«

»Aber für Tassen gibt es doch keine Auferstehung«, wandte Indrek eigensinnig ein.

»Gibt es die denn für alle Menschen?« fragte Frau Malmberg. »Wer wird die Juden oder Heiden wieder auferwecken? Wer? Niemand! Darum ist es auch ganz einerlei, ob sie mit oder ohne Ohren sterben. Aber sie haben sie doch, und warum sollten dann die Tassen ihre nicht behalten?«

So belehrte Frau Malmberg Indrek und machte ihm klar, daß Tassen unter allen Umständen Ohren haben müssen, wenn sie auch nicht sterblich seien wie Menschen – Christen, Juden und Heiden. Frau Malmberg liebte es überhaupt, nicht nur Indrek, sondern auch allen anderen jungen Menschen immer allerlei klarzumachen, während diese ihr nichts klarmachen konnten, so daß von diesen Gesprächen immer nur die Jugend Gewinn hatte, nicht aber Frau Malmberg. Aber dessenungeachtet liebte sie diese Diskussionen viel mehr als die jungen Leute, denn ihr war viel mehr daran gelegen, diese zu belehren, als diesen daran, zu lernen.

Aber dieses Gespräch über die Ohren der Tassen und der Menschen hatte doch eine verhängnisvolle Vorbedeutung. Das mußte gerade Frau Malmberg bald erfahren. Wenige Tage waren vergangen, als der Fürst sich einmal wieder zum Mittag verspätete, wie das nicht selten passierte. Aber heute war es besonders spät geworden, und da Frau Malmberg auf Ordnung sah, so erklärte sie, dem Fürsten nicht mehr das Essen geben zu wollen, indem von heute ab alle verspätet zum Mittag Erscheinenden ihrer Mahlzeit verlustig gehen sollten. Eine Ausnahme sollte nur für Ollino gemacht werden, der viel zu tun hatte, und für Paas, der um die Mittagszeit oft unten aufpassen mußte, während die anderen aßen.

Auch heute war Indrek gerade eben erst dabei, sein Mittagsmahl zu essen, als der Fürst eintrat, sich am Tische niederließ und zu essen verlangte mit den Worten:

»Ich bitte, mir hier zu servieren.«

Da der Fürst nur russisch sprach, das Frau Malmberg nicht verstand, so fragte sie Indrek, was der Fürst wünsche, und ließ ihm antworten, daß es heute kein Essen mehr geben würde. Aber der Fürst wollte davon nichts wissen, erklärte vielmehr:

»Ich bin hungrig, ich will essen.«

»Dann müssen Sie sich irgendwo anders zu essen suchen, nicht hier«, mußte Indrek dem Fürsten als Dolmetscher antworten.

»Ich rühre mich nicht eher hier vom Platz, als bis ich zu essen bekommen habe«, sagte der Fürst mit Bestimmtheit.

»Ich fürchte, Sie werden dann sehr lange warten müssen«, sagte Indrek.

Zur Erwiderung schlug der Fürst mit der Faust auf den Tisch, daß es dröhnte und rief:

»Erklären Sie dieser Altschen noch einmal, daß sie mir unverzüglich zu essen gibt, sonst kann ich für nichts einstehen.«

Als Indrek diese Worte höflich wiedergegeben hatte, erhielt er folgende Antwort zu verdolmetschen:

Frau Malmberg ist für ihre Handlungen verantwortlich, denn sie ist nicht aus fürstlichem Geblüt. Sie steht dafür ein und gibt dem Fürsten nicht zu essen, möge dieser tun, was er will.«

»Geben Sie mir sofort zu essen!« schrie der Fürst und donnerte mit der Faust auf den Tisch.

Indrek mußte den Fürsten nun ersuchen, daß er nicht schreien möge, denn hier sei er nicht Fürst, sondern bloß ein Schuljunge, der sich zum Mittag verspätet habe. Das war auch das letzte, was Indrek als Dolmetscher übermitteln konnte, denn nun nahm der deutsch-russische Wortwechsel ein derartiges Tempo an, daß eine Übertragung nicht mehr gut möglich war. Zornige Gebärden, blitzende Augen und entstellte Mienen sprachen ohnehin eine genügend deutliche Sprache. Schließlich standen der Fürst und Frau Malmberg sich am Tische gegenüber, auf dem die reinen Tassen und die vom Aufwaschen noch feuchten Teller aufgeschichtet waren und schrien sich gegenseitig Worte zu, deren Bedeutung sie mehr ahnten als verstanden.

»Ich frage Sie zum letzten Male, werden Sie mir zu essen geben oder nicht?« schrie Bebutow. »Ja oder nein?«

»Machen Sie, daß Sie hinauskommen, und schreien Sie hier nicht!« rief Frau Malmberg, indem sie mit der Hand nach der Türe wies. Aber nun geschah etwas, was wohl niemand erwartet hatte, wohl auch der Fürst selbst nicht. Es handelte sich augenscheinlich um eine Geste völliger Ratlosigkeit, einen reinen Zufall, daß die schwarzen, brennenden Augen des Fürsten, die suchend im Zimmer umherirrten, schließlich auf dem aufgestapelten Eßgeschirr haften blieben. Und so ergriff er denn den ersten besten Tassenstapel und schleuderte ihn krachend auf den Fußboden, während er Frau Malmberg anschrie:

»Geben Sie mir zu essen!«

»Sie sind verrückt!« schrie Frau Malmberg, ohne sich vom Fleck zu rühren.

Wieder krachte ein Stapel Geschirr zu Boden, in tausend Stücke zerspringend, die über das ganze Zimmer hüpften.

Die Magd floh entsetzt zur Türe und wimmerte von dort:

»Gnädige Frau, gnädige Frau, erlauben Sie doch, daß ich ihm zu essen bringe, er zerschlägt uns sonst alles!«

»Du halt den Mund!« schrie Frau Malmberg sie an, indem sie sich nun auch nach der Türe hin zurückzog. Und sich zu Indrek wendend, der ebenfalls aufgesprungen war, befahl sie:

»Erklären Sie ihm nochmals mit aller Bestimmtheit, daß er nicht zu essen bekommen wird, und wenn er das ganze Haus zusammenhaut.«

»So?« schrie der Fürst, »so? Das wollen wir doch noch mal sehen!« und damit riß er einen Stapel Geschirr nach dem anderen vom Tische, um es krachend auf den Fußboden zu schmettern. Er hätte vermutlich nicht ein Stück verschont, wenn nicht plötzlich Ramilda in der Türe erschienen wäre. Sie schien die erschrockenen Mienen der anderen gar nicht zu beachten, blickte vielmehr bloß nach dem Fürsten hin, der wie ein Unsinniger wütete.

»Wie lustig! Wie fein!« rief sie, in die Hände klatschend. »Solch einen herrlichen Lärm habe ich noch nicht einmal bei einem Feuerwerk gehört.«

Diese Worte waren in deutscher Sprache gesagt, und darum konnte der Fürst sie nicht verstehen, aber er hörte eine neue Stimme und sah sich um. Und als er Ramilda erblickte, die mit glücklichem Gesicht seine emsige Zerstörungsarbeit verfolgte, schien er wieder zur Besinnung zu kommen und hielt in seinem rabiaten Geschäft inne.

»Noch einmal!« rief Ramilda bittend in russischer Sprache. »Das war so fein! Trrrrach!« Aber der Fürst stand wie betäubt zwischen den Scherben des Geschirrs da und rührte sich nicht.

»Du misch dich nicht in meine Angelegenheiten!« schrie Frau Malmberg die Nichte an.

»Aber warum ist er denn so wütend?«

»Er bekam nicht zu essen«, versetzte Frau Malmberg.

»Also aus Hunger«, murmelte Ramilda. »Aus Hunger tobt er.« Und an den Fürsten herantretend, sagte sie:

»Wissen Sie, wenn Sie nur aus Hunger so toben, dann lassen Sie es lieber bleiben, die Tante gibt Ihnen doch nichts. Glauben Sie mir, ich kenne sie. Wenn sie mal etwas gesagt hat, dann bleibt es dabei.«

Ramilda sagte das so einfach und freundlich, als spräche sie zu einem Kinde. Der Fürst wußte darauf nichts zu erwidern, verbeugte sich bloß stumm und verließ das Zimmer.

»Dieser Mensch ist total verrückt«, sagte Frau Malmberg nun. »Seht, was er gemacht hat!«

»Aber wenn er so sehr hungrig war«, versuchte Ramilda den Fürsten zu verteidigen. »Ich würde auch verrückt werden, wenn ich sehe, daß es Essen gibt, aber nicht für mich. Etwas anderes wäre es noch, wenn wirklich nichts da wäre, dann würde man vielleicht nicht so verrückt werden.«

»Der war schon verrückt, als er herkam«, versetzte Frau Malmberg.

»Vielleicht hat man ihn auch zu Hause hungern lassen«, meinte Ramilda.

»Laß doch endlich einmal deine Dummheiten«, rief Frau Malmberg ärgerlich.

»Das ist keine Dummheit, liebe Tante«, verteidigte sich Ramilda. »Die Menschen werden nur deswegen nicht verrückt, weil ihre Not nicht so groß ist. Aber wenn erst eine wirkliche Not anbrechen würde, dann würden alle verrückt werden. So wie dieser zum Beispiel. Sahst du, was er für Augen machte? Weißt du, Tantchen, wenn wir in große Not gerieten, dann würden wir sicher auch solche Augen machen.«

»Der hat immer solche Augen, ob er zu essen bekommt oder nicht.«

»Dann gib ihm doch schon lieber zu essen, Tante« meinte Ramilda. »Denn was hätte das Hungern dann für einen Sinn, wenn er ohnehin immer solche Augen hat?«

»Ach, laß mich endlich in Frieden!« rief Frau Malmberg ungeduldig. »Ich weiß schon selbst, was ich zu tun habe. Geh jetzt, geh sofort!«

»Ich geh ja schon ... gleich«, versetzte Ramilda, machte dann aber an der Türe doch wieder halt und sagte: »Aber fein war es doch: immer mit beiden Händen die Teller hoch über den Kopf und dann plötzlich – trrrach! Und die Tassen! Die armen, alten Tassen! Sie hatten schon ohnehin keine Ohren mehr. Oder hatte eine noch eins?« wandte Ramilda sich fragend an Indrek.

»Einige hatten noch welche«, versetzte er.

»Die armen Ohren. Wenn man denkt, daß ...«

»So geh doch schon endlich«, rief Frau Malmberg. Aber als Ramilda gerade die Tür öffnete, traten ihr Herr Maurus und Ollino entgegen.

Als Herr Maurus die ganze Bescherung überblickt hatte, lächelte er zufrieden und bemerkte zu Ollino und Frau Malmberg:

»Schade, daß er nicht alles zerknallt hat, dann wäre alles neu angeschafft worden.«

»Er hätte wohl auch alles zerschlagen, aber Ramilda mischte sich ein«, sagte Frau Malmberg.

»Immer mischt sie sich in Dinge, die sie nichts angehen«, sagte Herr Maurus in einem Tone, als käme seinen Worten eine besondere Bedeutung zu.

»Aber ich habe zum Abend Geschirr nötig«, jammerte Frau Malmberg.

»Ja, natürlich ist Geschirr nötig«, erklärte sich der Direktor einverstanden. »Schreib auf, was nötig ist, ich gehe dann mit dem Fürsten die Sachen kaufen, denn er muß natürlich zahlen. Der Fürst muß zahlen.«

Aber der Fürst ging nicht mit dem Direktor Geschirr kaufen. Nein, das tat er nicht. Was aber die Zahlung anbelangte, so ließ er sich die Rechnung geben, um sie seinem Vater zu übersenden mit einem Begleitschreiben, das Herr Maurus durchlas, worauf er die Sendung eingeschrieben auf die Post gab. Und so erwiesen sich denn in der Folge alle an diesem Vorfall Beteiligten als zufrieden: der Fürst, der gezeigt hatte, daß er nicht mit sich spaßen lasse; Ramilda, die bewiesen hatte, daß sie ein mitleidiges Gemüt habe und sich auch über schlimme Dinge freuen könne; Frau Malmberg, die durch ihr unerschrockenes Auftreten wieder einmal bestätigt hatte, was ein charakterfestes Weib vermag, und Herr Maurus endlich, weil es ihm gelungen war, sich und anderen klarzumachen, daß sogar auch die sinnloseste Sache gute Folge haben kann, indem seine Jungen nun von neuen Tellern zu essen und aus beohrten Tassen zu trinken begannen, ohne daß er für dieses Vergnügen auch nur eine Kopeke hätte zu verausgaben brauchen.

So schien es wenigstens anfänglich. Später kamen für so manchen freilich die Folgen nach. Einer, der unter diesen Folgen zu leiden hatte, ohne daß er bei der Sache irgend etwas gewonnen hätte, war Indrek. Er mußte nach wie vor die alten Geschirre benutzen, denn die neuen deckte er, von oben angefangen, auf den Tisch, so daß sie, unten angekommen, zu Ende waren, und er und noch einige andere Kameraden sich mit den alten begnügen mußten. So schlürfte er denn seinen Kaffee und Tee nach wie vor aus einer Tasse ohne Ohr, obgleich doch Frau Malmberg gerade ihm klar gemacht hatte, wie wichtig das Ohr auch für eine Tasse sei. Und überdies mußten die Ohren der neuen Tassen noch mit ganz besonders großer Sorgfalt geschont werden. Wenn es bis heute möglich gewesen war, sich und den anderen zum Spaß mit den Geschirren gehörig zu klappern, so mußte nun im Speisezimmer eine Grabesstille herrschen, als decke man Holz- oder Gummigeschirr auf. Und um nach dem Rechten zu sehen, stand Frau Malmberg selbst dabei, während der Tisch auf- und abgedeckt wurde, damit nur ja nicht einem Teller ein Rand, oder einer Tasse ein Ohr abgeschlagen würde. Ja, sogar, wenn sie das Speisezimmer für einen Augenblick verließ, so ließ sie die Türen offen, die zu ihren Zimmern führten, um nur ja nichts zu überhören. So wurden die Zustände im Speisezimmer allen allmählich ganz unleidlich. Das galt sogar für Ramilda, die doch früher manchmal ungestört mit den Jungen im Speisezimmer hatte schwatzen können. Das war nun nicht mehr möglich: sie mußte das Zimmer entweder sofort verlassen, oder die Tante konnte doch zum mindesten jedes Wort hören, das sie mit den Jungen wechselte.

»Ich will doch bloß mal sehen, ob die Tassen ihre Ohren behalten oder nicht«, pflegte Frau Malmberg zu sagen, als habe sie mit irgend jemand über diese Frage eine Wette abgeschlossen. Aber davon war natürlich in Wirklichkeit keine Rede, vielmehr hatte sie einen so festen Charakter, daß sie eine Sache, die sie einmal begonnen, auch zu Ende führte, bis an ihr Lebensende, wenn es sein mußte, und wenn sie selbst auch am meisten darunter zu leiden gehabt hätte. So wie im gegebenen Falle zum Beispiel. Denn was hatte sie im Grunde genommen davon, daß sie im Speisezimmer aufpaßte wie ein Schutzmann? Nichts! Allenfalls die stolze Erinnerung, daß der Fürst damals doch ohne Essen das Speisezimmer hatte verlassen müssen. Aber die Tassen bewachen, das war der graue Alltag, der sich in endloser Folge vom Morgen bis zum Abend in ewigem Einerlei hinzog, ermüdend, langweilig, nervenaufreibend. Das verdarb auf die Dauer die Laune. Alle konnten bemerken, daß das neue Tafelgeschirr Frau Malmbergs Laune verdarb. Daher war es eigentlich überflüssig, daß Ramilda eines schönen Tages Indrek zuflüsterte:

»Die Tante ist sehr schlechter Laune wegen der neuen Tassen.«

»Wieso?« fragte Indrek.

»Weil sie alle ihre Ohren haben.«

»Aber die könnte man ja auch abbrechen«, sagte Indrek scherzend.

»Ja, das meine ich auch«, sagte Ramilda geheimnisvoll lächelnd. Und als hätten sie sich schon irgendwie verabredet, haschte sie aus Indreks Hand – direkt aus seinen Fingern – eine neue rosa Tasse und kickste das Ohr gegen den Tischrand, so daß es abbrach. So verlor die erste neue Tasse ihr Ohr, das Ramilda Indrek mit den Worten überreichte:

»Schieben Sie es in die Tasche und werfen Sie es später fort, wo niemand es sieht. Schnell!« drängte sie, als Indrek betroffen dastand. »Und ...« wollte das Mädchen hinzufügen, hob dann aber bloß wortlos den Zeigefinger an die Lippen. Und erst jetzt bemerkte Indrek, welch feine Finger Ramilda hatte. Und auch das bemerkte er, wie die Fingerspitze, die Nasenspitze berührend, auf dieser durch den sanften Druck einen kleinen, weißen Fleck zurückließ. Und jedesmal, wenn er den absichtlich abgebrochenen Tassenhenkel betrachtete, trat ihm dieser winzige Fleck auf Ramildas Nasenspitze wieder lebhaft ins Gedächtnis.

Als Frau Malmberg bald darauf das Speisezimmer betrat, lief Ramilda ihr auf der Schwelle entgegen und rief:

»Tante, liebe Tante, an einer neuen Tasse ist das Ohr abgebrochen! Komm sehen! Komm schnell!«

Und damit lief sie zum Tische und griff nach der Tasse, um sie Frau Malmberg zu zeigen, aber bevor sie ihre Absicht ausführen konnte, ließ sie die Tasse zu Boden fallen, wo sie in Scherben zersprang. Erschrocken, mehr aber noch enttäuscht, stand Ramilda da und ließ die Blicke zwischen Frau Malmberg und Indrek auf und ab wandern. Und Indrek hatte das Gefühl, als müsse er nun auch das Tassenohr aus der Tasche ziehen und es zu den übrigen Scherben auf den Fußboden werfen. Nur mit Mühe gelang es ihm, diese Idee nicht in die Tat umzusetzen.

»Es ist einfach schrecklich, wie fahrlässig du bist!« rief Frau Malmberg ärgerlich. »Nun hast du die schöne neue Tasse zerschlagen.«

»Aber sie hatte ja kein Ohr mehr!« verteidigte sich Ramilda. »Die neue Tasse hatte kein Ohr mehr, liebe Tante, das wollte ich dir ja bloß zeigen.«

»Nun hat sie natürlich kein Ohr mehr«, sagte Frau Malmberg resigniert.

»Nein, nein, sie war schon ohne Ohr, bevor sie fiel. Selbst war sie heil, aber das Ohr fehlte ihr.«

»Das glaube ich nicht, das ist unmöglich«, widersprach Frau Malmberg.

»Doch, es war möglich«, versetzte Ramilda. »Ich habe es doch selbst mit eigenen Augen gesehen, und Herr Paas kann es auch bestätigen.«

»Dann müssen Sie selbst das Ohr soeben abgebrochen haben«, sagte Frau Malmberg, sich zu Indrek wendend.

»Ich nicht«, versetzte Indrek.

»Nein, er nicht«, bestätigte Ramilda.

»Wie kannst denn du das so genau wissen?« fragte Frau Malmberg mißtrauisch.

»Aber ich war doch hier«, sagte Ramilda, »und ich sah, wie er die Tasse nahm und mir zeigte, daß sie ohne Ohr sei. Er bat mich noch, dir gegenüber zu bezeugen, daß nicht er das gemacht habe, denn Herr Paas weiß ja, wie sehr dir diese neuen Tassen und ihre Ohren am Herzen liegen.«

»Mir liegt vor allem die Ordnung am Herzen, und die möchte ich auch dir empfehlen«, sagte Frau Malmberg, zur Nichte gewandt, und dann fragte sie, sich zu Indrek wendend:

»Wer mag denn das Ohr abgebrochen haben? Wer könnte es wohl gewesen sein? Was meinen Sie?«

»Ich weiß da nichts zu sagen«, versetzte Indrek.

»Vielleicht war es schon beschädigt und sprang von selbst ab«, meinte Ramilda.

»Nichts springt von selbst ab«, erklärte Frau Malmberg weise. »Immer muß jemand da sein, der es abbricht oder abschlägt.«

Aber da Frau Malmberg nicht raten konnte, wer dieser Jemand gewesen sein könnte, so glaubte sie auch nicht, daß die zersprungene Tasse schon vorher ohne Ohr gewesen war. Und darum begann sie auf dem Fußboden unter den Scherben das Tassenohr zu suchen, wobei sie von Ramilda und Indrek eifrig unterstützt wurde. Und als dort doch nichts zu finden war, sagte sie schließlich:

»Dann muß also doch jemand es abgebrochen und beiseitegeschafft haben.«

»Natürlich!« rief Ramilda.

»Gott sei Dank, daß du auch die Tasse zerschlagen hast, so sind wir sie wenigstens los. Nun wollen wir eine neue holen, und dann möchte ich doch mal sehen, ob die Tassen ihre Ohren behalten oder nicht. Bei mir zu Hause hatten wir Kaffeetassen, die noch von der Großmutter stammten, und da fehlte auch nicht einer ein Ohr, und hier halten sie nicht einmal ein paar Tage vor. Mit Tassen muß man verstehen umzugehen! Das muß verstanden sein! Aber die meisten verstehen es eben nicht. Mein Mann lernte es zehn Jahre, aber schließlich starb er, ohne es gelernt zu haben. So sind die Männer schon mal. Wenn sie Kinder erziehen sollten, so würden wohl der Hälfte aller Menschen die Ohren und andere Gliedmaßen fehlen, von Tassen gar nicht zu reden. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nicht einer Tasse ein Ohr abgebrochen, und meine Nichte Miralda hier ...«

»Liebe Tante, ich bitte Ramilda, nicht Miralda, sonst fallen auch mir beide Ohren ab«, bat das Fräulein.

»Stör doch nicht, wenn ich einen jungen Menschen belehre«, sagte Frau Malmberg ärgerlich. »Jemand muß doch die jungen Leute belehren und ihnen Kinderstube beibringen, denn die hat man im Leben bitter nötig. Was hilft da alles Latein, wenn man nicht einmal mit einer Kaffeetasse so umzugehen versteht, daß sie kein Ohr verliert. Da hilft nicht einmal Deutsch. Denk doch mal selbst, was sollte wohl daraus werden, wenn wir alle höchst gebildet wären und deutsch sprechen, aber dabei den Tassen die Ohren abbrechen würden.«

»Herr Paas kann noch nicht ordentlich Deutsch, der kann deswegen ruhig mal einer Tasse ein Ohr abbrechen, nicht wahr, liebe Tante?« sagte Ramilda.

»Für dich ist alles immer nur Spaß und Unsinn, du weißt noch nichts vom Ernst des Lebens«, seufzte Frau Malmberg.

»Das werde ich schon noch lernen, liebe Tante, das kommt schon von selbst«, versicherte Ramilda. »Aber nun wollen wir die neue Tasse kaufen gehen, die ist doch dringend nötig.«

»Das hat doch Zeit«, meinte Frau Malmberg.

»Nein, nein, gehen wir schon lieber gleich, liebe Tante«, bettelte Ramilda und faßte Frau Malmberg unter den Arm, bis diese schließlich nachgab und sich aus der Türe ziehen ließ.

Schon nach einer kurzen Weile kam Ramilda wieder ins Speisezimmer gelaufen, schon im Mantel, und flüsterte Indrek zu:

»Nun sind Sie daran, nun müssen Sie. Schnell! Nun sind Sie an der Reihe, sonst lehre ich Sie nie wieder auch nur ein Wort Deutsch. Ein Tassenohr oder die deutsche Sprache!«

Sprach's und verschwand wie sie gekommen: leicht, schnell, unerwartet.

Nach dem Abendessen stellte sich heraus, daß wieder einer Tasse ein Ohr fehlte.

»Nun vertraue ich Ihnen, ganz und vollkommen, nur Ihnen«, versicherte Ramilda Indrek. »Und wissen Sie, was die Tante gesagt hat? Da haben wir es, hat sie gesagt, ist erst der ersten Tasse das Ohr abgebrochen, dann folgen die anderen sicher auch nach. Darum müssen Sie nach einigen Tagen noch einer Tasse ein Ohr abschlagen, damit sie selbst ihren Worten bestimmt glaubt. Der Glaube ist bei ihr die Hauptsache. Und die Ohren, die behalten Sie zum Andenken. Nicht? Wollen Sie das tun? Mir tut die Tante so leid, wenn sie immer so aufpassen muß. Nicht einmal in der Nacht hat sie Ruhe, träumt nur immerzu von Tassenohren. Die arme Tante! Also noch eins, das genügt für ihren Glauben, mehr ist nicht nötig.«

Ramilda hatte tatsächlich recht, denn als es sich herausstellte, daß schon die zweite neue Tasse ohne Ohr war, sagte Frau Malmberg in Indreks Gegenwart:

»Was plage ich mich unnütz damit, aus euch gebildete Menschen zu machen. Eßt und trinkt meinetwegen wie die Ferkel am Trog, wenn euch das Spaß macht.«


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