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Bald nach diesem Strafgericht über den Sozialismus und den Übermenschen erhielt Indrek einen Brief aus Deutschland, einen nur wenige Zeilen langen, schlichten Brief, der ihn indessen in eine unerhörte Erregung versetzte. Dieser Brief lautete wie folgt:
»Langweilen Sie sich auch zuweilen? Ich sehr. Furchtbar langweilig kann es manchmal sein! Und darum schreibe ich auch. Nehmen Sie mir das nicht übel und freuen Sie sich auch nicht besonders darüber, denn ich schreibe aus Langweile. Heute schreibe ich nur wenig, aber wenn es sich herausstellen sollte, daß es hilft, dann sollen Sie mehr von mir hören. Meine Adresse schicke ich Ihnen dieses Mal nicht, denn das ist nicht von Wichtigkeit. Und überdies reise ich wohl bald von hier fort, so daß die Adresse Ihnen nichts nützen würde.
Rimalda.«
Keine Anrede, kein Name, aus denen ersichtlich gewesen wäre, für wen diese Zeilen bestimmt seien, als sei es ganz gleichgültig, wer sie lese, wenn sie nur überhaupt gelesen würden. Aber auf dem Umschlag stand Indreks Name groß und deutlich geschrieben. Nach der Handschrift zu urteilen, wollte es Indrek scheinen, als rühre die Adresse von einer Männerhand her, jedenfalls nicht von Ramilda, denn die Schriftzüge des Briefs waren andere.
Immer und immer wieder las Indrek diese belanglosen Zeilen durch, jeden Satz, jedes Wort, ja jeden Buchstaben sorgfältig prüfend, als müsse sich in ihnen irgendein tiefes Geheimnis offenbaren.
Ihre Adresse hatte Ramilda nicht verraten, also wünschte sie keine Antwort. Und so war es auch besser – dachte Indrek, versuchte aber trotzdem sogleich eine Antwort abzufassen, nicht etwa um sie abzuschicken, sondern bloß so, um festzustellen, ob er imstande wäre zu antworten, falls das nötig wäre. Aber es wollte ihm nicht gelingen, auf keine Weise. Er verfaßte unzählige Antworten, um sie dann aber alle wieder zu zerreißen. Falls es ihm gelingen würde, die richtige Antwort zu finden, dann wollte er sie aufbewahren, sie etwa mit den Tassenhenkeln auf dem Boden seiner Kiste verstauen, um sie später gelegentlich hervorzuholen und zu betrachten und vielleicht auch jemand anderem zu zeigen, was man ihm aus dem Auslande geschrieben, und was er darauf erwidert habe. Aber daraus wurde nun nichts. Nach wochenlangen Bemühungen mußte Indrek resigniert feststellen, daß er schreiben mochte, was er wollte, das Richtige war es doch nicht.
Schließlich traf ein zweiter Brief ein, dieses Mal ein langer Brief, der die Unterschrift Ramilda trug, nicht mehr Rimalda. Schon dieser Namenwechsel schien Indrek bedeutsam. Wenn der erste Brief ihn in Erregung versetzt hatte, so raubte dieser zweite Brief ihm einfach den Verstand.
Dieser Brief war in der Hauptsache mit Bleistift geschrieben und anscheinend nicht in einem Zuge, ja nicht mal an einem Tage. Sein Inhalt lautete wie folgt:
»Sehen Sie, der erste Brief hat gute Wirkung getan, sonst würde ich nicht wieder schreiben. Genau genommen ist das überhaupt kein Brief, als vielmehr eine Art Zeitvertreib. Manchmal hat man so sehr das Bedürfnis zu schwatzen und dabei doch zu schweigen, weil man einfach zu faul ist, die Lippen zu bewegen, und dann schreibe ich Ihnen eben. Und darum schickte ich Ihnen in meinem ersten Brief auch nicht meine Adresse, denn wenn Sie mir antworten würden, dann wäre das eben nicht mehr das Richtige, dieses schweigende Schwatzen, worauf es mir ankommt. Nicht? Natürlich habe ich auch noch einen anderen Grund, warum ich Ihnen meine Adresse auch in diesem Brief nicht schicke, und das ist eigentlich der Hauptgrund; wie ich schon im vorigen Brief sagte, werde ich vermutlich bald von hier fort müssen. Darum gedulden Sie sich ein wenig, bis ich einen dauernden Aufenthaltsort gefunden haben werde, dann teile ich Ihnen bestimmt meine Adresse mit. Bis dahin müssen wir es schon so halten, daß ich schwatze und Sie zuhören, als seien Sie mein Freund. Tatsächlich, von allen Menschen auf der Welt eignen Sie sich am besten zu meinem Freunde. Denn ich tauge anscheinend nicht allzuviel, so daß niemand so recht mein Freund sein möchte und könnte. Und überdies bin ich häufig boshaft, und wenn man schon als junges Mädchen boshaft ist, wie soll das dann erst später werden? Aber Sie haben solche Augen, als verstünden Sie, warum ich häufig so böse bin, und darum werden Sie mir gewiß auch viel verzeihen, nicht wahr?«
»Alles!« rief Indrek, die Lektüre des Briefs halb unbewußt unterbrechend, leidenschaftlich aus. »Alles, alles!«
»Eigentlich hat es ja wohl keinen Sinn, Ihnen das zu schreiben. Und außerdem wollte ich Sie eigentlich etwas fragen. Diese Frage ist freilich ebenso sinnlos, aber ich stelle sie trotzdem. Und die Antwort geben Sie mir unbedingt in estnischer Sprache, denn ich habe die Beobachtung gemacht, daß der Mensch in seiner Muttersprache viel ehrlicher und aufrichtiger ist als in irgendeiner fremden. Darum müssen auch die Diplomaten – ich habe hier einen kennengelernt – fremde Sprachen beherrschen, denn sonst könnten sie nicht richtig flunkern. In seiner Muttersprache haben mit dem Menschen diejenigen geredet, die ihm am wenigsten vorgelogen haben, und darum ist die Muttersprache die ehrlichste. Und überdies sind dem Menschen gerade in der Muttersprache die allerherzlichsten Worte gesagt worden, so herzliche vielleicht, wie der Mensch sie später nie mehr zu hören bekommt. Und wie solltest du dann lügen in einer Sprache, in welcher du so viel Wahrheit und Zärtlichkeit erfahren hast. Und das ist auch der Grund, warum die Schriftsteller und Dichter ausschließlich ihre Muttersprache benutzen, denn das ist ihnen die Sprache der Wahrheit und Zärtlichkeit. Darum habe ich so große Furcht, ich könnte Ihnen etwas vorflunkern, denn ich schreibe Ihnen ja in einer fremden Sprache. Merken Sie auf – in einer fremden Sprache sage ich, denn ich bin zur Überzeugung gelangt, daß die deutsche Sprache für mich doch eine Fremdsprache ist: ich habe nämlich bemerkt, daß es mir in dieser Sprache viel leichter ist zu lügen als im Estnischen. Erinnern Sie sich, was ich Ihnen einmal von der deutschen Sprache und der Liebe sagte? Sie haben es vielleicht vergessen, aber ich entsinne mich dessen ganz genau, als wäre es erst gestern gewesen. Damals sagte ich, daß man seine Liebe eigentlich nur in deutscher Sprache erklären könne. Aber nun bin ich genau der entgegengesetzten Ansicht. Die Liebe ist das Wichtigste im Leben, davon bin ich fest überzeugt, und darum könnte ich einem Menschen, den ich gern habe, das nur auf estnisch sagen. Nur. Selbst wenn ich einen Deutschen liebgewinnen sollte und ihm schreiben würde, so würde ich den Brief mit den estnischen Worten › armas, kallis‹ (Lieber, Teurer) beginnen. Diese zwei Worte wenigstens müßte dieser Mensch lernen, wenn er mich liebt. Unbedingt!
Können Sie sich entsinnen, was ich Ihnen einmal über Goethe sagte? War das aber dumm! Nicht? Nun bin ich schon viel klüger geworden. Sehr viel! Jetzt denke ich so: Wie wäre es, wenn jemand zu mir käme und sagte: Ramilda Maurus, freuen Sie sich und werden Sie gesund, denn Goethe lebt noch und wird nächstes Jahr zur Kur hierherkommen, wo auch Sie sich aufhalten. Was glauben Sie, kann es solch eine Freude geben, die einen gesund macht? Sogar einen unheilbar Kranken? Es gibt ja solche Krankheiten, von denen es bekannt ist, daß sie unheilbar sind. Sie verstehen das wahrscheinlich nicht, denn Sie sind nie krank gewesen. Aber ich verstehe es schon. Nicht als ob ich so krank wäre, aber ich war so krank und muß es darum besser verstehen als Sie. Und wie wäre es, wenn Goethe im nächsten Jahre wirklich hierherkäme und ich ahnen würde, daß ich dann nicht mehr wäre? Verstehen Sie überhaupt, was ich sagen will? Ich will sagen, daß, wenn man mir heute oder morgen die Freudennachricht brächte, daß Goethe noch lebe und im nächsten Sommer unser Sanatorium hier aufsuchen werde, so würde ich so sehr um meine Gesundheit zu bangen beginnen, daß schon diese bloße Furcht mich töten würde. Unbedingt! Denn nur zu denken, daß Goethe irgendwo in einem Baumgang promeniere oder im Schatten eines Baumes auf einer Bank sitze und es dich nicht mehr geben könnte, wäre einfach schrecklich. Und darum ist es gut, daß Goethe nicht mehr lebt: ich brauche seinetwegen nicht zu sterben.
Übrigens kann ich Ihnen von einer Dame berichten, die Goethe noch mit ihren eigenen Augen gesehen hat. Sie weilt zur Kur hier, an Stelle Goethes. Und wissen Sie, was ich glaube? Daß man Goethe, wenn er noch leben würde, sicherlich nicht so viel Beachtung schenken würde wie jetzt dieser alten Dame. Sie gilt hier direkt als eine Berühmtheit und kann vor Altersschwäche kaum mehr auf den Füßen stehen. Stets ist sie von einem Schwarm Damen und Herren umringt, die ehrfürchtig warten, ob sie nicht irgend etwas über Goethe zu berichten haben werde, den sie doch noch selbst gesehen hat. Aber die alte Dame ist äußerst zurückhaltend mit ihren Berichten, zum Teil wohl, um sich wichtig zu machen, zum Teil wohl aber auch, weil sie überhaupt nicht viel reden kann vor Alter. Und wissen Sie, was ich noch glaube?: diese Dame kann sich vermutlich Goethes überhaupt nicht mehr so recht erinnern, sondern erinnert sich sozusagen nur noch ihrer eigenen Erinnerungen. Verstehen Sie, was ich meine? Sie erinnert sich nur noch dessen, daß sie sich einmal erinnert und darüber anderen unzählige Male berichtet hat. Was glauben Sie, ist so etwas möglich? Diese Dame weiß nämlich so schrecklich wenig von Goethe, daß ich einfach nicht glauben kann, ein Mensch, der sich Goethes erinnert, könne sich seiner so wenig erinnern. Verstehen Sie? Ich meine, ein Mensch, der sich Goethes entsinnen kann, müßte von ihm so viel wissen, daß er überhaupt nie fertig würde mit Erzählen, oder aber er hat Goethe selbst schon längst vergessen und erzählt nur noch das, was er schon früher erzählt hat, und das muß mit den Jahren immer weniger und weniger werden, bis auch das letzte Endchen verschwunden ist, denn wie lange kannst du deine eigenen Worte schließlich behalten? Und dann kommt der Tod, zweifellos. Und da die Dame bald soweit ist, so mag sie sich meiner Ansicht nach kurieren, soviel sie will, dem nahen Tode entgeht sie nicht. Die arme alte Dame! Sie hat etwas Schönes und Großes gesehen, und nun muß sie sterben.
Haben Sie Menschen sterben sehen? Ich nicht. Wenn Sie es gesehen haben, dann schreiben Sie mir darüber. Einmal habe ich gesehen, wie ein Hund starb. Das war im Frühling auf dem Lande. Es war ein alter Hund, der schon lange hätte sterben sollen. Aber der Tod wollte nicht kommen. Da setzte man ihm ein besonders leckeres Fressen in seiner Schale vor, und als er gerade mit gutem Appetit fraß, setzte der Bauer ihm das Gewehr an die Schläfe und drückte ab. Der Hund brach zusammen, schlug mit den Beinen um sich und wollte sterben, aber der Tod wollte nicht kommen. Da sagte ich dem Bauern: schieß doch noch einmal, damit er ... Aber der Bauer trat an den Hund heran, stieß ihn mit dem Fuß, und als der Hund noch einmal seine alten, stumpfen Augen öffnete und den Bauern ansah, sagte dieser: es ist um das Pulver schade, er stirbt auch so. Was meinen Sie, ob wohl der Tod manchmal auch so mit dem Menschen umgeht wie dieser Bauer mit seinem alten Hunde? Ob er wohl auch sagen mag: es ist um das Pulver schade – und den Menschen warten läßt, neben seiner Schale warten? Das würde ich gerne wissen.
Ramilda
PS. Sie können natürlich nicht wissen, warum ich das vom Tode gerne wissen möchte, aber im nächsten Briefe erkläre ich Ihnen alles. Und wenn nicht gerade im nächsten, dann im übernächsten ganz bestimmt, jedenfalls dann, wenn ich Ihnen meine Adresse schicke.