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XXIII

Aber hier kam er offensichtlich zur Unzeit, denn gerade als er die Redaktion betrat, schrie Josua Sillamäe an:

»Sie vergessen die Hauptsache. Sie vergessen, daß er seine Finger in die Revolutionskasse gesteckt hat, was so gut ist, wie an die Revolution selbst Hand anlegen.«

»Revolutionen haben überhaupt keine Kassen«, widersprach Sillamäe eifrig. »Revolutionen werden von Hungerleidern, Lumpen und Strolchen gemacht, oder es ist überhaupt keine Revolution, sondern einfach bloß Königsmord, wie in England. Revolutionen werden ohne Kasse gemacht, aber die Kassierer nutzen die Revolutionen aus.«

»Das bezieht sich nur auf bürgerliche Revolutionen«, versetzte Josua. »Hier aber haben wir es mit einer rein proletarischen Revolution zu tun, und eine solche ...«

»Kann ohne Kasse nicht auskommen?« unterbrach Sillamäe. »Ein Proletarier muß also immer eine Kasse haben, ein Bürger kann auch ohne Kasse Revolution machen. Aber weißt du, was ich dir sagen werde: Nicht alle sind Proletarier, die sich dafür halten, aber viele von ihnen sind Kassierer der Proletarier. Das sind die Raben, die sich mit den Früchten der Revolution den Bauch vollschlagen.«

Aber diese Bemerkung ereiferte Josua derart, daß er die Stimme immer lauter erhob und seine Haare nur so flogen, was Indrek um so peinlicher war, als er ja doch zu diesem ganzen Streit den Anlaß gegeben hatte. Darum hielt er es für richtig, den Kämpen mit der Bemerkung ins Wort zu fallen:

»Wenn ich vielleicht die Ursache dieser ganzen Diskussion sein sollte, so kann ich den Herren mitteilen, daß ich meine Schuld an die Revolutionskasse soeben beglichen habe.«

Diese Bemerkung schien die erhitzten Gemüter in der Tat für den Augenblick ein wenig abzukühlen, aber schon nach einer kurzen Weile rief Josua erregt:

»Und so soll man ein Blatt redigieren! Indem man Menschen zusammensetzt und arbeiten läßt, die zueinander passen wie Feuer und Wasser. Wie soll man denn unter solchen Umständen irgendwelche Grundsätze herausarbeiten!«

»Warum begründen Sie dann nicht ein eigenes Blatt?« fragte Sillamäe, »wo Sie auf Ihren Grundsätzen herumreiten könnten so viel Ihnen beliebt. Vor allem würde ich Ihnen empfehlen, auch die Unglücksfälle und Verbrechen grundsätzlich aufzustutzen, namentlich aber die Inserate. Und wenn es keine Inserate gibt, dann annoncieren Sie selbst – grundsätzliche Annoncen gesucht.«

»Was willst du eigentlich von mir?« fragte Josua nun gereizt.

»Daß du mit deinem ewigen proletarischen Geschwätz endlich einmal aufhörst, wo wir doch beide aus dem bürgerlichen Trog schlecken«, erwiderte Sillamäe, »sonst muß ich dich für einen Dämelack oder einen Schelm halten.«

»Meine Weltanschauung und meine Grundsätze verkaufe ich für kein bürgerliches Linsengericht«, sagte Josua, und fügte nach einer Weile hinzu: »Aber du bist ein Erzreaktionär und ein Speichellecker der Bourgeoisie.«

»Ich bin selbst ein Bourgeois«, erklärte Sillamäe freimütig.

»Vielleicht beruhigen sich die Herren nun allmählich«, mischte sich nun Kuru ins Gespräch, »denn nun wissen wir ja alle, was Sie sind, der eine ein Dämelack oder Schelm, der andere ein Erzreaktionär oder Bourgeois. Und die Druckerei würde es gewiß gerne sehen, wenn Sie außerdem auch noch Journalisten wären, denn sonst wird das Blatt sich sicherlich wieder verspäten.«

Und so steckten denn der Bourgeois und der Proletarier ihre Nasen in ihre Papiere und machten sich daran, ein radikales Blatt zusammenzustellen, während Indrek die Redaktion mit dem Gefühl verließ, daß er der Dämelack und Schelm sei, von dem eben die Rede gewesen war. Nur für einen Erzreaktionär und Speichellecker konnte er sich nicht halten. Nein, das war er gewiß nicht.

So schlenderte er heim. Hier erwartete ihn ein Brief aus Wargamäe, in dem ihm mitgeteilt wurde, daß die Mutter schwer erkrankt sei, so daß man den Arzt hätte kommen lassen müssen. Aber der hätte nicht viel helfen können, denn die Schmerzen hielten an – in der rechten Hüfte, im ganzen Bein und in der Seite, namentlich in dieser. Der Arzt habe gemeint, das könne sich lange hinziehen, das heißt die Schmerzen und die Krankheit überhaupt. Und schließlich wurde Indrek gebeten, aus der Stadt eine bessere Arznei zu schicken – etwas Kräftigeres, das wenigstens die Schmerzen betäuben und dadurch der Kranken Linderung schaffen würde. Denn wenn es sich um eine Krankheit zum Tode handeln sollte, dann könnte eine Genesung auch durch die besten Arzneien ja nicht bewirkt werden.

Als Indrek diese Zeilen las, verstand er, daß die Not wirklich groß sein müsse, denn sonst hätte man wohl bei diesen grundlosen Herbstwegen nicht den Arzt kommen lassen. Aber wie hätte er hier helfen können? Was für eine Arznei hätte er zu verschaffen gewußt? Ihm fiel sein Schulkamerad Wiidik ein, der ihm noch neulich Medikamente angeboten hatte. Und an den wandte er sich denn nun auch. Aber Wiidik meinte, Indrek solle vor allem Näheres über die Krankheit in Erfahrung zu bringen suchen, etwa indem er sich ein vom Arzte verordnetes Rezept schicken ließe oder sonstwie.

Aber das war leichter gesagt als getan. Am einfachsten wäre es ja wohl gewesen, selbst nach Wargamäe zu reisen, um sich dort durch eigenen Augenschein über die näheren Umstände der Krankheit zu unterrichten. Aber gerade das ließ sich kaum machen, angesichts der weiten Entfernung, der unruhigen Zeiten, der herbstlichen Witterung und der grundlosen Wege, zumal Indrek auch für solch eine weite Reise über Land eigentlich nichts Rechtes an Leib und Füße zu ziehen hatte. Darum begnügte er sich schließlich mit einem Brief, in dem er um nähere Auskunft bat. Aber die Hoffnung auf eine Antwort mußte er alsbald aufgeben, denn gerade um diese Zeit setzte ein Streik der Postbeamten ein, der den Postverkehr vollkommen lahmlegte. Und inzwischen stürmten neue aufregende Ereignisse auf Indrek ein, die seine Sorge in den Hintergrund drängten.

Während zu Beginn der Revolution die Verteilung der Fronten klar genug gewesen war, indem die Regierung auf der einen, das Volk auf der andern Seite stand, begann das Bild sich nunmehr insofern zu verschieben, als sich in der Bevölkerung selbst Parteien und Gruppen zu bilden begannen, die sich schnell immer weiter zersplitterten. Nun gab es unter ihnen nicht mehr bloß Bourgeois und Proletarier, sondern erstere zerfielen wiederum in Radikale und Konservative, letztere in Sozialrevolutionäre und Sozialdemokraten, und diese ihrerseits in Minimalisten und Maximalisten. Und alle standen sie untereinander auf Kriegsfuß, so daß der Chefredakteur des »Volksfreund« sich eines Tages bitter über die außerordentliche Schwierigkeit seiner Lage beklagte, indem er folgendes ausführte:

»Man weiß einfach nicht mehr, was tun oder sagen. Bei jeder Gelegenheit wird man Bourgeois und Blutsauger geschimpft, aber Geld wollen die Kerle alle von einem haben. Und da frage ich: wer ist denn nun eigentlich der Blutsauger? Ich, der ich das Geld gebe, oder die, die es von mir annehmen? Da kann es doch nur zwei Möglichkeiten geben: entweder ich bin wirklich ein Bourgeois und Feind der Proletarier, und dann soll man mich in Frieden lassen, oder ich bin revolutionärer Mitkämpfer, dann soll man mich und meinesgleichen nicht schimpfen, wenigstens so lange nicht, als die bestehende Regierungsgewalt noch nicht beseitigt ist.«

»Die Kerle werden diese Gewalt nie stürzen«, meinte Sillamäe.

»Das kann man nicht wissen«, warnte der Chefredakteur, »wir sind keine Propheten.«

Aber Sillamäe blieb dabei, daß seine Augen diesen Regierungssturz nie sehen würden, andernfalls sei er bereit, seine alten Galoschen aufzufressen. Das hörte Josua und rief fröhlich:

»Ich habe wohl Tiere manchmal alte Stiefel knabbern sehen, aber einen richtigen Galoschenfraß – das habe ich noch nie erblickt.«

»Und wirst es auch jetzt nicht«, sagte Sillamäe ruhig.

»Wetten wir, ich bekomme es zu sehen«, sagte Josua.

»Früher wirst du in die Grube fahren, ebenso wie dein Marx.«

»Marx wird uns beide überleben.«

»Ist er denn auferstanden?« fragte Sillamäe erstaunt.

»Aber natürlich«, versetzte Josua, »Christus ist gestorben, aber Marx lebt.«

»Gott, machst du dir Wohl das Leben leicht«, seufzte Sillamäe. »Du ersetzt Christus einfach durch Marx, und die Sache ist in Ordnung – die Welt wieder mal gerettet.«

»Etwas heller ist sie immerhin geworden«, versetzte Josua.

»Selig sind die, die da glauben, denn sie sind anspruchslos«, sagte Sillamäe.

* * *

Einige Tage später erhielt Indrek von der Redaktion des »Volksfreund« die Nachricht, daß ein russischer Soldat dagewesen sei, nach Timofei gefragt, und versprochen habe, dann und dann wiederzukommen. Diese Nachricht machte Indrek überglücklich. Also hatte er sich nicht getäuscht, war nicht betrogen worden, nicht in eine Falle gegangen. Und seine Freude wuchs noch, als der Soldat ihm später bei einer Flasche Bier über seine Erlebnisse Bericht erstattete. Er war, nachdem er sich die Waffen besorgt, seiner Kompanie in eine Kreisstadt nachgeschickt worden, wo man ihn vor allem für eine Woche bei Wasser und Brot in Arrest gesteckt hatte. Kaum war er wieder frei, so ging er auch alsbald daran, seinen Kameraden darzulegen, wie es ihm ergangen und wer sein Helfer in der Not und sein Wohltäter geworden sei.

»Aber wie leicht hätten Ihre Kameraden Sie angeben können«, bemerkte Indrek.

»Nie im Leben hätten sie das getan«, rief der Soldat mit Überzeugung aus. »Wer gemeinsam in den mandschurischen Unterständen gefault hat, der hält zusammen, mag geschehen, was da wolle. Und als man uns dann aufs Land schickte, auf ein Gut, wo die Knechte streikten, da traf es sich zufällig so, daß wir gerade dort eine größere Menge mandschurischer Kameraden beisammen waren. Und da rief ich es diesen Kameraden nochmals ins Gedächtnis, sie sollten daran denken, was ich gelobt und warum ich das getan, und ihre Hand nicht gegen die Bevölkerung dieses Landes erheben, deren Sprache und Sitten wir nicht kennten. Mögen sie ihre Geschichten untereinander ausmachen. Und so kam es denn auch. Wir sollten die Knechte, die sich vor dem Gute versammelt hatten, auseinanderjagen, aber wir rührten uns nicht. Der Leutnant schrie uns an, schimpfte nach Noten, zog sogar seinen Revolver, schob ihn aber dann wieder hübsch in die Tasche, denn er wußte, unsere Gewehre waren scharf geladen.«

»Und wie endete denn diese Sache?« fragte Indrek erregt.

»Wie sie endete?« schmunzelte der Soldat. »Nun, man beorderte uns zurück in unsere Quartiere, wo wir bis zum Abend bleiben mußten. Und dann, als es dunkel geworden war, wurden wir auf die nächste Bahnstation geführt und fuhren von hier per Bahn wieder in die Kreisstadt. Dort wurden wir alle umgeladen, und nun sind wir wieder hier. Wie verlautet, wird man uns als unzuverlässig nach Piter Burschikoser Ausdruck für St. Petersburg. zurückschicken und an unsere Stelle neues Militär senden, übrigens habe ich trotz Ihrer Warnung meiner Frau nach Hause geschrieben, und sehen Sie mal, hier ist die Antwort. Wenn Sie wollen, mögen Sie sie lesen.«

Indrek nahm den Brief und vertiefte sich in ihn. Nahezu drei Seiten des Schreibens waren mit namentlichen Grüßen von allerlei Verwandten, Freunden und Bekannten angefüllt, dann folgten auf der vierten Seite Meldungen über Geburten, Hochzeiten und Todesfälle, und erst ganz am Schluß der vierten Seite fanden sich die Worte: »aber was nun unseren Wohltäter anlangt, so habe ich schon gestern abend und heute morgen, zusammen mit Manja, Schura und Kolja für ihn und alle seine Verwandten, Freunde und Bekannten gebetet, und werde das zusammen mit den Kindern auch heute abend und morgen früh tun und so jeden Abend und Morgen, bis du selbst nach Hause kommst, und dann wollen wir mit dir zusammen bis an unseren Tod jeden Abend und jeden Morgen für unseren Wohltäter und seiner Seelen Seligkeit beten. Amen.«

Indrek konnte nicht anders, der ganze Brief schien ihm so sonderbar und rührend, daß ihm die Augen feucht wurden. Als der Soldat dieses bemerkte, stiegen auch ihm die Tränen in die Augen, und so blickten die beiden einander über den weißgestrichenen, einfachen Tisch hinüber an, auf dem zwei Bierflaschen und zwei kantige, derbe Gläser standen, als sei ihre Rührung durch einen kleinen Rausch bedingt. Nach einer Weile sagte der Soldat:

»Herr, dürfte ich Sie wohl um etwas bitten?«

»Und das wäre?« fragte Indrek.

»Behalten Sie diesen Brief zum Andenken.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Indrek schlicht, und schob den Brief in sein Taschenbuch.

»Und würden Sie mir nun vielleicht auch Ihren Namen und Ihre Adresse geben«, fuhr der Soldat fort.

Indrek erfüllte diese Bitte, und der Soldat erklärte nun auch gehen zu müssen, denn er habe eigentlich gar keinen richtigen Urlaub, vielmehr die Kaserne bloß für kurze Zeit heimlich verlassen. Irgendwo in einer engen, dunklen Gasse, hinter einer alten verfallenen Mauer verabschiedeten sie sich, indem sie sich krampfhaft die Hand drückten.

»Gott gebe, daß ich Sie vor Ihrem Tode noch einmal sehe, Herr«, stammelte der Soldat gerührt, und dann ließen sie plötzlich, wie verabredet, die Hände los und umfaßten und küßten sich, wie ein Liebespärchen, das sich hier zu einem heimlichen Stelldichein zusammengefunden.

»Gott behüte Sie«, sagte der Soldat.

»Und Sie desgleichen«, versetzte Indrek und machte mitten auf der Straße halt, um dem davoneilenden Soldaten nachzublicken. Als dieser unter der nächsten Laterne angekommen war, sah er sich um, aber Indrek, der im Dunkeln stand, konnte er nicht mehr wahrnehmen. Im nächsten Augenblick war er verschwunden.


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