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XXIV

Indrek wäre nun am liebsten direkt zu Krösus gegangen, berichten, welche Früchte sein so schroff verurteilter Schritt getragen. Aber nach einigem Nachdenken begnügte er sich damit, bei Wiljasoo vorzusprechen, der seiner Sache aber wenig Interesse entgegenbrachte, indem er ganz und gar von seinen eigenen Angelegenheiten erfüllt war.

»Können Sie sich vorstellen«, rief er, ohne auf den Inhalt des Briefes, den er nur flüchtig überflogen hatte, näher einzugehen, »was mir neulich passiert ist. Also ich trete in Maries Zimmer, und wen finde ich da? Einen wildfremden Mann, der mit Marie bestens bekannt zu sein schien. Sie saßen gerade bei Tisch und speisten behaglich für mein Geld. Nur die Schnapsflasche hatte der Gast vielleicht mitgebracht. Die Kinder wollten mir entgegenlaufen, aber ein Blick der Mutter genügte, um sie zurückzuhalten.« Wiljasoo rümpfte nachdenklich die Nase.

»Na, und dann?« fragte Indrek neugierig.

»Dann«, sagte Wiljasoo, »dann machte ich, daß ich fortkam.«

»Ohne irgend etwas zu sagen?« fragte Indrek ungläubig.

»Was sollte ich denn sagen? Ich wollte mir vorher überlegen, ob ich überhaupt etwas sagen sollte oder nicht. Und nun habe ich beschlossen, die ganze, dem seligen Bystryi gehörige Summe seinen Erben auszuzahlen, auch den Teil, den ich schon für Marie und ihre Kinder verwandt habe. Ich mache es wie Sie: ich zahle die ganze verschwendete Summe zurück. Verstehen Sie, die verschwendete Summe.«

»Das Geld, das Sie auf die Kinder verwandt haben, kann ich nicht als verschwendet ansehen«, sagte Indrek.

»Ich aber wohl«, versetzte Wiljasoo, »denn nur um diesen Lümmel mit seiner Schnapsflasche dort vorzufinden, dafür ist mir das Geld meines verstorbenen Gesinnungsgenossen denn doch zu schade. Ich wollte die Angelegenheit mit Vernunft betreiben, das heißt Marie ein wenig Zeit geben, denn ihr erster Mann ist ja im Grabe noch nicht einmal von den Würmern verspeist worden. Aber mit Weibern läßt sich ja nichts vernünftig betreiben. Auf die muß man entweder Sturm laufen oder sie überhaupt in Frieden lassen, aber beides liegt mir nicht. Und überdies mag das mir eine Lehre sein, daß man fremdes Gut nicht nach Belieben verteilen soll. Die Revolutionen pflegen auch daran zu scheitern, daß man fremdes Gut aufteilt. Das kann nicht gute Frucht tragen. Ich habe nun meinen Lohn dahin, nun sind die andern dran.«

»Ich verstehe nicht recht, von was für einem Lohn Sie sprechen«, sagte Indrek.

»Da ist nichts zu verstehen«, versetzte Wiljasoo, »die Sache ist doch sonnenklar. Anfangs dachte ich, ich würde geben und helfen, ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Aber der Mensch ist anscheinend nun schon mal so geschaffen, daß er nichts tun kann, ohne sich das als Verdienst anzurechnen. Aber was dann, wenn dieses Verdienst nun nicht anerkannt wird? Dann ist man beleidigt und glaubt sich benachteiligt. Genau genommen ist es doch unglaublich, was für ein Egoist der Mensch ist: für die mit dem Gelde seines verstorbenen Freundes geleistete Dienste verlangt er Anerkennung, sonst ist er gekränkt, denn ich werfe Marie ja wohl eigentlich nichts vor, aber ...«

In diesem Augenblick wurde die Türe aufgerissen, und Marie stürzte mit schreckerfüllter Miene ins Zimmer, schlug die Türe hinter sich zu und lehnte sich dagegen, als wolle sie jemanden daran hindern, das Zimmer zu betreten. Wiljasoo sprang hinter seinem Tisch zwischen den Bücherstapeln auf und starrte auf die Tür. Aber bevor er noch irgend etwas sagen oder tun konnte, erklangen im Korridor schwere Schritte und machten vor der Tür halt, die gleich darauf ungeachtet Maries Widerstand langsam aufgeschoben wurde, und auf der Schwelle erschien ein dem Äußeren nach dem Arbeiterstande angehörender Mann, dessen unsicherer Blick deutlich den Berauschten verriet, die Haare unter dem Mützenschirm auf die Stirne herabhängend, den Leib wie zum Sprunge vorgebeugt. Wiljasoo erkannte in ihm denselben Mann, den er vor ein paar Tagen bei Marie angetroffen hatte.

»Was wünschen Sie?« fragte Wiljasoo.

»Wo ist sie hingelaufen?« fragte der Mann, ohne Wiljasoos Frage zu beachten, »hinter dieser Tür verschwand sie.«

Nun trat Marie hinter der Tür hervor, die sie versuchte zuzuschieben, während sie den Mann anschrie:

»Laß mich in Frieden! Was willst du von mir! Ich kann gehen, wohin ich will!«

Aber der Mann schob die Tür vollends auf, trat über die Schwelle ins Zimmer, faßte die Frau am Arm und sagte:

»Was?! Du kannst gehen, wohin du magst? Und darf ich das etwa nicht? Ich möchte doch mal bloß sehen, was das hier für ein Ort ist, und was das hier für Männer sind.«

»Laß mich los«, schrie die Frau, indem sie aus aller Kraft bestrebt war, ihren Arm freizumachen.

»Nur Geduld!« grinste der Mann.

Inzwischen war Wiljasoo hinter dem Tisch hervor an die beiden herangetreten, und auch Indrek hatte sich erhoben.

»Gehen Sie hinaus!« sagte Wiljasoo in befehlendem Tone, »sonst rufe ich die Polizei.«

»Oho!« rief der Mann schmunzelnd. »Die Polizei? Jetzt, in Revolutionszeiten, die Polizei! Was sind Sie für ein Kerl, daß Sie sich hinter einem Polypen verstecken? Sehen Sie mich mal an: mit einer Hand halte ich das Weib, die andere ist für Sie, und mit dem Bein empfange ich den Polypen, solch ein Kerl bin ich, und solch ein Kerl muß man in Revolutionszeiten sein.«

Aber er hatte kaum geendet, als Wiljasoo ihm auch schon einen Faustschlag unters Kinn versetzte, daß er gegen den Türpfosten taumelte und die Hand der Frau fahren ließ. Er raffte sich zum Gegenangriff zusammen, aber Wiljasoos Faust, und sein in den langen, breiten Überrock gehüllter Körper machten ihre Sache so prompt, daß der Mann alsbald über die Schwelle in den Korridor hinausflog, worauf die Türe hinter ihm zugeschlagen und ins Schloß gedreht wurde. Man hörte den Mann draußen fluchend sich vom Fußboden erheben und die andern, auf den Korridor mündenden Türen sich öffnen, denn alles hatte natürlich den Lärm gehört und wollte sehen, was denn hier eigentlich los sei. Im nächsten Moment rannte der Mann auch schon mit tierischem Gebrüll auf die verschlossene Tür Sturm, indem er erst mit beiden Fäusten, dann auch mit den Beinen darauf losschlug und schwor, er würde die Türe einschlagen, wenn man ihm nicht öffnen würde. Da er keinerlei Antwort erhielt, drohte er, sich einen Stein oder sonst irgendeinen schweren Gegenstand holen zu wollen, um sich damit den Weg zu bahnen. Aber kaum war er auf den Hof hinausgetreten, als auch schon die Haustür hinter ihm verschlossen wurde, so daß er nun zu allererst diese hätte einschlagen müssen. Fluchend begab er sich durch den Hof auf die Straße an die Straßentür des Hauses, um aber auch diese verschlossen zu finden. Wütend schmiß er den Stein mit aller Wucht gegen die Türe, um dann fluchend kehrtzumachen und zu verschwinden.

Wiljasoo hatte unterdessen seine gute Laune wiedergefunden, als habe diese kleine Kraftanstrengung günstig auf diese gewirkt. Er setzte sich wieder an seinen Tisch, hinter die Bücherstapel, und sagte:

»Es ist doch immerhin eine ganz gute Sache, wenn der Mensch wenigstens zu raufen versteht. Denn stellen Sie sich doch bloß mal vor, was das für ein Skandal wäre, wenn wir Revolutionäre nicht einmal mit einem einzigen Betrunkenen fertig werden könnten, sondern deswegen uns an einen Polypen wenden müßten. Selbst kämpfen wir gegen die Regierung und die Polypen, aber wenn wir in Not sind, dann wissen wir nichts Besseres zu tun, als diese Schinder zu Hilfe zu rufen. Nicht? Sehen Sie mal, diese Erwägungen haben soeben unser ganzes Schicksal entschieden.«

So sagte Wiljasoo zu Indrek, ohne auch nur ein einziges Mal die Nase zu rümpfen, so zufrieden war er, seine revolutionäre Ehre gerettet zu haben, indem er selbst mit dem frechen Eindringling fertig geworden war.

Marie hatte sich auf einen Bücherstapel niedergesetzt, wo sie, den Rücken den Männern zugewandt, vornübergebeugt vor sich hinschluchzte. Wiljasoo sagte ihr kein Wort, warf ihr nur von Zeit zu Zeit einen Blick zu, aus dem eine Art Zufriedenheit zu blitzen schien, daß sie so auf seinen Büchern dasaß. Erst nach einer ganzen Weile fragte er:

»Marie, wo sind die Kinder?«

Die Frau wandte ihre grauen Augen dem Frager zu, als mißtraue sie dem Frieden, und sagte dann:

»Die Kinder sind zu Hause. Sie lassen niemand hinein, da braucht man nichts zu fürchten. Aber ich kann auf keine Weise zu ihnen kommen, denn der lauert mir gewiß auf, unbedingt, so ist er nun schon einmal.«

»Was ist das eigentlich für ein Kerl?« fragte Wiljasoo.

»Er ist Schlosser, in einer Fabrik angestellt, ein Freund meines Mannes. Schon bei dessen Lebzeiten gab er mir keine Ruhe, er hatte mich schon vor der Verheiratung gekannt, und nun ist er ganz wie von Sinnen. Ich hatte das gleich gefürchtet, als mein Mann ein so unglückliches Ende fand, und eben darum wollte ich auch, daß Sie mich gleich zu sich nehmen sollten, da ich sonst weder Tag noch Nacht vor ihm Ruhe haben würde. Und die Kinder fürchten ihn entsetzlich.«

Wenn Wiljasoo anfangs nur gutgelaunt schien, so wurde er nun direkt fröhlich. Er erhob sich, trat hinter dem Tisch hervor an Marie heran und sagte:

»Das hätten Sie mir schon längst sagen sollen, daß das solch ein Kerl ist; dann hätte ich das alles gleich arrangiert. Aber gehen wir nun nach den Kindern sehen.«

Marie erhob sich von ihrem Bücherstapel und blieb vor Wiljasoo stehen, das schlichte wollene Mützchen auf dem Kopf, die Augen immer noch feucht, um die Lippen noch ein leichtes Zucken, als wolle sie wieder in Tränen ausbrechen oder habe noch etwas zu sagen. Aber weder sie noch Wiljasoo sprachen ein Wort weiter, und so verließen sie alle drei schweigend das Zimmer.


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