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Als das letzte Schwalbennest leer war, zog der Herbst ins Land, dann wagte er es zu kommen, früher nicht. Im Schauer saß nun die scheckige Katze allein und lauerte auf Mäuse, die ebenso wie die Katze zum Winter daheim blieben, denn sie hatten keine Flügel wie die Schwalben, um in ferne warme Länder davonzufliegen.
Das neue Semester nahm seinen Anfang mit viel Leben und Unruhe vom Morgen bis zum Abend und manchmal auch vom Abend bis zum Morgen. Die Türglocke schellte in einem fort, als sei sie elektrisiert, was sie doch keineswegs war, die alten Schüler kehrten wieder wie die Zugvögel und brachten zahlreiche neue mit.
Schon einige Wochen früher war Herr Miilinömm eingetroffen, ein früherer Schüler, der in Deutschland seine Bildung vervollständigt hatte. Bei Maurus hatte er die Schule freilich nicht ganz beendet, aber Deutschland war nun mal solch ein Land, daß man dort seine Bildung immerhin vervollständigen konnte. Man reist bloß hin, und dort findet es sich schon, wo, wie und worin man seine Bildung vervollständigen kann. Als Miilinömm nach Deutschland reiste, trug er einen Scheitel links, aber nun, mit vervollständigter Bildung zurückgekehrt, kämmt er seine hübschen braunen Haare nach hinten, so daß sie ein wenig emporstehend sein wohl rasiertes Gesicht viel länger und schmaler erscheinen lassen, als es tatsächlich ist. Und diese Tatsache soll allen, auch Miilinömm selbst, beweisen, daß er aus Deutschland als Langschädel zurückgekehrt ist, nicht als Rundschädel. Als Langschädel kam Miilinömm nun also wieder zu Herrn Maurus zurück, um sich hier eine Beschäftigung zu suchen, die ihm sein tägliches Brot sichern würde, bis er eine gute, passende, feste Anstellung fände, denn in Herrn Maurus' Lehranstalt fand sich für solche Leute mit vervollständigter Bildung stets eine Beschäftigung.
Da sich ein besonderes Zimmer für Herrn Miilinömm nicht fand, zog er zu Herrn Koovi. Beide waren ruhige, stille Menschen, und darum nahmen sowohl sie selbst als auch Herr Maurus an, daß sie gut miteinander auskommen würden. Sonderbarerweise gestalteten sich die Gespräche zwischen diesen beiden ruhigen, stillen Menschen von vornherein sehr lebhaft, ja man könnte sagen erregt, als seien sie im Begriff, sich in die Haare zu geraten. Aber hierfür lag auch nicht der geringste Anlaß vor, vielmehr handelte es sich bloß um die Erörterung verschiedener wissenschaftlicher Fragen, das war alles. Und wer von diesen Dingen auch nur eine Ahnung hatte, dem war es sogleich klar, daß es nicht gut möglich ist, ganz nüchtern und gleichgültig zu bleiben, wenn man beispielsweise vom Marxismus und vom Übermenschen spricht. Und das erst recht, wenn man mit diesen beiden Problemen frisch vollgepumpt ist, wie dieses mit Herrn Miilinömm der Fall war. Er wußte selbst eigentlich nicht ganz genau, wovon er mehr erfüllt war, von Nietzsche oder Marx, und wenn ein Mensch von einer Sache so erfüllt ist, dann möchte er sie auch anderen mitteilen, um sich mit seinem Reichtum zu brüsten, denn der Mensch begnügt sich nun mal nicht damit, etwas zu besitzen, vielmehr wünscht er, daß auch die anderen wissen möchten, was er besitzt.
»Es ist doch ein Jammer, daß wir nicht einige tausend Jahre später leben«, klagte Miilinömm, »dann würde es vielleicht schon den Übermenschen geben. Und was würde er wohl sein? Ein berühmter Schriftsteller oder Philosoph, Dichter oder Gelehrter? Wäre ich der Übermensch, dann würde ich unbedingt Gelehrter werden und alle Probleme lösen, damit man doch endlich über alles Klarheit hätte und die Wissenschaft an ihrem Ziel angelangt wäre. Marxismus, Darwinismus, Lamarckismus, Nietzscheismus, Kant mit seinem Ding an sich – alles würde ich endgültig klären, um zu sehen, was der arme Teufel von Mensch dann beginnen würde, wenn es überhaupt keine Probleme mehr zu lösen gäbe.«
»Lieber würde ich an deiner Stelle doch dann reich heiraten und mein Leben genießen«, meinte Koovi freundlich. Aber das war ein Stich in Miilinömms Wespennest, denn er war der Meinung, daß kein vernünftiger Mensch hier auf Erden arbeite, dieses vielmehr andern überlasse. Ein vernünftiger Mensch erbt, gewinnt oder heiratet reich und richtet sich sein Leben dementsprechend ein.
»Warum denn gleich reich heiraten?« fragte Miilinömm, als verstünde er nicht. »Man kann ja auch sonstwie zu Gelde kommen, ein vorteilhaftes Geschäft betreiben, beispielsweise, mit teurem Pelzwerk, Straußenfedern, Elfenbein, Opium handeln.«
»Und wie steht es dann mit dem Marxismus?« fragte Koovi ironisch.
»Bist du aber ein gemeiner Mensch!« rief Miilinömm. »Ich phantasiere, aber du stichelst und provozierst, mal mit der reichen Partie, dann wieder mit dem Marxismus.«
»Das ist es ja eben, daß du bloß phantasierst«, sagte Koovi. »Von Dingen phantasierst, die vielleicht nie eintreten werden. Denn vielleicht kommt es überhaupt nie zum Übermenschen oder zum Marxismus, ebensowenig wie es zum rechten Christentum gekommen ist. Von Christus haben wir nun schon zweitausend Jahre geredet, wie du selbst zugibst, und weil uns das nun schon zu langweilen beginnt, so reden wir nun vom Sozialismus, vielleicht ebenso wieder zweitausend Jahre, so daß wir also viertausend Jahre nutzbringend hingebracht hätten. Hat das nun einen Zweck, was meinst du? Meines Erachtens durchaus, denn merk auf: Christus war ein Jude, Johannes der Täufer war ein Jude, Marx war ein Jude gleich seinem Apostel Engels. Christi Lehre bestand darin, die Massen zum Himmel aufblicken zu machen, damit die Reichen an ihrer Krippe nicht gestört würden. Und sollte nicht der Marxismus zum selben Zweck erfunden sein? Der Himmel zog nicht mehr, der war zu hoch und fern, und darum erfand ein anderer Jude den Marxismus, der nicht mehr den Himmel verheißt, sondern die Erde: wartet nur bloß zwei weitere Jahrtausende, dann sind alle geschlossen organisiert, und es kann auch der arme Mann an die Krippe heran. Fein, was?«
»Herrgott noch mal, wie du alles zu verdrehen weißt!« rief Miilinömm außer sich. »Als ob wir mit den Händen im Schoße dasäßen, wir kämpfen doch!«
»Aber wozu dann dieser ganze Marxismus?« fragte Koovi.
»Der Mensch muß ein festes Ziel vor Augen haben, darum handelt es sich.«
»Des Menschen festes Ziel ist der Tod«, sagte Koovi.
»Nihilist!« rief Miilinömm empört, aber das ließ Koovi kalt.
»Und was meinst du, wenn man nun des Marxismus' auch überdrüssig geworden sein wird, was wird dann kommen? Wieder etwas von irgendeinem Juden? Nun schon zum dritten Male.«
»Irgend etwas wird schon kommen«, erklärte Miilinömm zuversichtlich. »Der Mensch braucht nun mal irgendeinen Trost. Die anderen Tiere leben ohne das dahin, aber der Mensch nicht. Wenn man bloß an diesen Schächer am Kreuz denkt, der Kerl raubt, mordet, aber zu sterben versteht er nicht, ohne Trost zu suchen; will in den Himmel. Hast du etwas Tolleres gehört? Etwas Entwürdigenderes für den Menschen? Daraus kannst du doch ermessen, wie jämmerlich der Mensch ist und wie sehr wir des Übermenschen bedürfen. Wenn du als Räuber gelebt hast, so stirb auch als Räuber, wie es sich gehört. Aber nicht erst andere morden und es dann angesichts des eigenen Todes mit der Angst bekommen. Mit einem Wort – lasset die Kindlein zu mir kommen und so weiter. Feigling! Kein Mensch! Pfui Teufel!«
Miilinömm spie kräftig aus, so sehr verachtete er in diesem Augenblick den Menschen und sehnte er sich nach dem Übermenschen.
Aber Herrn Maurus wollte es nicht gefallen, daß seine »ehrlichen, anständigen« Jungen derartige Gespräche mit anhören mußten, in denen der Mensch getadelt, und der Übermensch gelobt wurde. Darum ersuchte er die Herren, daß sie ihre wissenschaftlichen Probleme etwas leiser lösen möchten, denn nicht nur die Kunst, auch die Wissenschaft kann junge Menschen verderben, wenn sie plötzlich zu viel davon einfiltriert bekommen, so daß sie die Portion nicht ordentlich verdauen können. »Sie wissen doch«, erklärte Herr Maurus, »daß sogar auch destilliertes Wasser der Gesundheit schädlich sein kann, wenn man es in großen Mengen zu sich nimmt, und so ist es mit allem. Ihre Wissenschaft mag ja noch so reine Wissenschaft sein, reiner als destilliertes Wasser ist sie doch keinesfalls.«
Und zu seinen Jungen sagte Herr Maurus:
»Ihr hört ja, was dieser Mensch redet. Immer nur von Marx und dem Übermenschen, als hätte er sonst nichts zu sagen. Aber was haben wir mit dem Übermenschen zu tun? Und wozu soviel über eine Sache reden, die niemand von uns gesehen hat und wohl auch nie zu sehen bekommen wird? Wie sieht dieser Übermensch aus? Ist er lang oder kurz, dünn oder dick? Das weiß niemand von Ihnen, auch Herr Maurus weiß es nicht, denn auch in Deutschland gibt es keine Übermenschen. Nicht einmal in Rußland. Das ist doch einmal ein großes Land, da könnte doch in irgendeinem Winkel der Übermensch geboren werden, sollte man meinen. Da ist neulich sogar ein Kalb mit zwei oder gar drei Köpfen geboren worden, aber Übermenschen kommen dort nicht zur Welt. Gibt es irgendwo eine Schule, wo Übermenschen erzogen werden? Nein, solche Schulen gibt es nicht. Einbrecher und Übermenschen hat niemand nötig, darum gibt es für sie auch keine Schulen. Und wissen Sie, wer sich den Übermenschen ausgedacht hat? Ein Deutscher, der an einer schlimmen, schmutzigen Krankheit litt, und als er durch diese Krankheit anfing verrückt zu werden, dachte er sich den Übermenschen aus. Aber was hat Herr Miilinömm mit dem Übermenschen zu tun? Ist er auch verrückt? Nein, noch nicht. Will er verrückt werden? Hat jemand gehört, daß Herr Miilinömm verrückt werden will? Nein, niemand? Aber Herr Maurus weiß, was Herr Miilinömm will: nach Sibirien will er, nicht unser Sibirien hier oben, aber in das andere Sibirien, da hinter dem Ural. Aber dahin will er nicht allein, er will uns dahin mitnehmen, und darum redet er vom Übermenschen und vom Marxismus. Denn Marxismus und Sozialismus und Sozialisten schickt man nach Sibirien. Will jemand von Ihnen dahin? Nein, niemand? Herr Maurus auch nicht. Lieber schon verrückt als nach Sibirien, lieber Übermensch als Sozialist, denn ein Übermensch wird bloß ins Irrenhaus gesperrt, wo er seine warme Stube hat, aber ein Sozialist erfriert in Sibirien, wo vierzig Grad Kälte sind, mehr noch, fünfzig Grad. Was hilft da aller Sozialismus? Darum Vorsicht! Mag Herr Miilinömm nach Sibirien gehen, wir wollen lieber mit dem Übermenschen ins Irrenhaus.«
Herr Maurus lachte, aber im selben Augenblick klingelte es an der Haustür, und es erschien ein Bote, der Herrn Miilinömm ein Buch überbrachte, das dieser aus Deutschland bestellt hatte.
»Was ist das für ein Buch?« fragte Herr Maurus den Boten.
»Ich weiß nicht«, versetzte dieser.
»Wie? Sie wissen nicht, was Sie überbringen?« fragte Herr Maurus vorwurfsvoll.
Der Bote zog das Begleitschreiben hervor und las laut:
»Soziologie.«
»Dieses Buch nehmen Sie wieder mit sich«, sagte Herr Maurus streng, »nehmen Sie es sofort wieder mit sich.«
»Warum, Herr Direktor?« fragte der Mann.
»Nicht fragen, wenn Herr Maurus befiehlt. Nehmen Sie Ihr Buch mit.«
»Herr Maurus, ich bin Angestellter, und es ist meine Pflicht ...«
»Sie sollen dieses Buch zurückbringen.«
»Aber Herr Miilinömm wohnt doch hier?« fragte der Bote.
»Das geht Sie nichts an«, donnerte Herr Maurus. »Nehmen Sie Ihr Buch!«
Aber der Mensch ließ das Buch auf dem Tische liegen und machte, daß er fortkam als sei ihm der Böse auf den Fersen. Herr Maurus lief ihm wohl bis an die Tür nach, um ihn zurückzurufen, während der kalte Herbstregen ihm ins Gesicht schlug, aber der Mann ging seines Weges als sei er stumm und taub.
Herr Maurus kam zurückgelaufen und rief:
»Paas, schnell einen Schirm, und bringen Sie das Buch in die Buchhandlung zurück!«
»Ich habe keinen Schirm«, versetzte Indrek.
»So ist es immer«, klagte der Direktor. »Wenn Herr Maurus etwas nötig hat, dann ist es nicht da. Wer hat einen Schirm?«
Aber niemand hatte einen, und wenn einer einen besaß, dann war er ausgeliehen.
»Ich werde ohne Schirm gehen«, erklärte Indrek. »Ich ziehe meinen Mantel an.«
Aber das paßte Herrn Maurus nicht, der für die Reputation seines Hauses besorgt war. Darum sagte er:
»Kaufen Sie einen Schirm«, und gleichzeitig begann er, in der Tasche nach Geld zu suchen, doch wollte sich die erforderliche Summe nicht zusammenfinden. Darum fragte der Direktor: »Wer hat Geld? Wer kann Herrn Maurus borgen? Aber schnell, Herr Maurus hat keine Zeit zu warten.«
Aber niemand hatte Geld, oder wenn einer vielleicht welches hatte, so wollte er es nicht zeigen. Von oben Geld zu holen, das war Herrn Maurus zu umständlich und zeitraubend, darum sagte er:
»Dann geben Sie mir Papier und Feder. Oder findet sich das vielleicht auch nicht in Herrn Maurus' Hause? Kein Schirm, kein Geld, kein Papier, keine Feder, keine Tinte, nichts!«
Aber nein, Papier fand sich. Sogar ein Briefumschlag. Der übrigens gar nicht nötig war. Herr Maurus riß aus dem Papier einen dreieckigen Fetzen heraus, auf den er in deutscher Sprache folgende Worte kritzelte: »Einen Schirm für Herrn Maurus. Billig und gut. Ich warte. Herr Maurus.« Dieses Papier faltete er mehrfach zusammen und übergab es Indrek.
»Halten Sie es in der Hand und stecken Sie die Hand in die Tasche, dann wird es nicht naß«, sagte er. »Und laufen Sie geschwind, daß man doch endlich einmal auch von Ihren langen Beinen Nutzen hat. Und den Schirm nicht öffnen, Herr Maurus will ihn selbst ausprobieren!« Die letzten Worte wurden Indrek schon von der Tür aus auf die Straße nachgerufen.
Mit dem Schirm zurückkehrend traf Indrek an der Haustür Miilinömm, und sie traten zusammen ein. Beim Anblick Miilinömms vergaß der Direktor den Schirm völlig und stürmte auf den verdutzten Lehrer zu.
»Was ist das?« fragte er, auf das auf dem Tische liegende Buch weisend, »was ist das für ein Buch?«
»Das ist eine Soziologie, die ich mir bestellt habe«, versetzte Herr Miilinömm, das Buch näher betrachtend.
»Wer hat Ihnen erlaubt, solche Bücher in Herrn Maurus' Haus zu bestellen?«
»Da ist doch gar keine Erlaubnis nötig«, versetzte Miilinömm. »Das ist doch kein verbotenes Buch.«
»Dieser Mensch versteht kein Deutsch«, sagte Herr Maurus, sich in estnischer Sprache an die Jungen wendend. »Er hat wohl in Deutschland seine Bildung vervollständigt, aber Deutsch versteht er nicht. Herr Maurus fragt ihn kurz und klar: wer hat die Bestellung gestattet? Und er antwortet: Es ist nicht verboten.«
Durch diese Worte fühlte Herr Miilinömm sich beleidigt und sagte auf estnisch:
»Herr Maurus, was wollen Sie eigentlich von mir?«
»Ich will von Ihnen eine kurze, klare Antwort auf die Frage: wer hat Ihnen gestattet, sich ein solches Buch in mein Haus kommen zu lassen? Ist das klar genug?«
»Freilich«, versetzte Miilinömm.
»Dann antworten Sie, bitte, ebenso klar: wer hat es gestattet?«
»Aber, Herr Maurus, dafür ist doch gar keine Genehmigung erforderlich«, sagte Miilinömm.
Diese Antwort ließ den Direktor auffahren wie von der Tarantel gestochen; zu den Jungen gewandt schrie er:
»Haben Sie gehört? Haben Sie gehört? Dieser Mensch ist verrückt! Der Übermensch hat ihn verrückt gemacht, ebenso wie diesen anderen. Der Übermensch macht alle Menschen verrückt. Ich frage, wer hat es erlaubt, er antwortet, es ist gar keine Erlaubnis erforderlich.«
»Aber so verhält es sich doch in der Tat«, erklärte Miilinömm, »das Buch ist doch in Rußland nicht verboten.«
»Nun hören Sie selbst, daß dieser Mensch total verrückt ist«, schrie der Direktor zu den Jungen gewandt. »In Rußland nicht verboten, folglich also in Herrn Maurus' Hause gestattet. Schön! Wunderschön! Mist ist in Rußland nicht verboten, und daher kann jedermann mit seiner Mistfuhre zu Herrn Maurus' Türe hereinfahren. Nicht wahr? Sagen Sie doch nun bitte selbst, ist dieser Mensch verrückt, wenn er so redet, oder nicht?!«
»Herr Maurus, ich habe meine Bildung in Deutschland vervollständigt und weiß sehr gut, was Mist ist, aber dieses Buch ist kein Mist, denn sonst hätte ich es nicht bestellt, denn Mist haben wir hier ohnehin genug«, sagte Miilinömm mit erhobener Stimme.
»Ich bitte, in meinem Hause nicht zu schreien!« rief Herr Maurus.
»Sie selbst schreien«, versetzte Miilinömm erregt.
»Ich kann hier schreien, denn das ist mein Haus, das sind meine Jungen, und ich bin ihr Direktor.«
»Darum sind Sie doch lange nicht mehr auch mein Direktor«, versetzte Miilinömm giftig.
»So lange Sie in meinem Hause wohnen, bin ich auch Ihr Direktor, und Sie dürfen hierher nicht solche Bücher bestellen, denn das verdirbt mir mein Haus. Verstehen Sie? Wer hier nicht Ordre parieren will, der schere sich zum Teufel aus meinem Hause.«
»Ihr Haus ist eine Mistgrube«, schrie Herr Miilinömm nun.
»Haben Sie gehört? Haben Sie gehört?« jammerte der Direktor. »Mein Haus eine Mistgrube! Aber dieser Kerl hier hat selbst nicht einmal eine Mistgrube, will Herrn Maurus' Haus dazu machen. Hinaus!« schrie er Herrn Miilinömm an, »hinaus aus meinem Hause!«
»Ich gehe schon«, versetzte dieser.
»Aber sofort!« schrie Herr Maurus.
Als Herr Miilinömm auf sein Zimmer gegangen war, seine Sachen packen, hielt Herr Maurus seinen Jungen folgende Rede:
»Dieser Mensch ist in der Tat völlig verrückt. Immer – es ist nicht verboten! In Herrn Maurus' Hause ist alles verboten, was Herr Maurus nicht erlaubt hat. Das hat nichts zu bedeuten, daß etwas in Rußland gestattet ist. In Rußland ist es beispielsweise nicht verboten, sich in die Finger zu schneuzen, denn das Russische Reich ist so groß, und da leben so viel Menschen, daß, wenn man alle mit Taschentüchern versorgen wollte, man an Stoff zu kurz kommen würde. Das weiß Seine Kaiserliche Majestät. Aber ist Herrn Maurus' Reich auch so groß, daß man an Stoff zu kurz käme, wenn man seine Jungen mit Taschentüchern versorgt? Nein, das ist hier nicht zu befürchten. Darum ist es in Rußland erlaubt, sich in die Finger zu schneuzen, in Herrn Maurus Haus aber verboten. Verstanden? Und warum ist es in Herrn Maurus' Hause verboten, Soziologie zu lesen? Darum, weil in Herrn Maurus' Hause niemand so recht weiß, wo die Soziologie endet und der Sozialismus beginnt. Aber wo der Sozialismus endet, das wissen wir nur zu gut. Der endet in Sibirien. Und darum soll niemand in Herrn Maurus' Hause Soziologie lesen, sonst kann er selbst und auch der alte Herr Maurus nach Sibirien kommen, wo fünfzig Grad Kälte sind. Verstanden? Denn bedenken Sie doch bitte selbst: das eine ist Sozio-, das andere Sozia-, das ist der ganze Unterschied, a und o, das ist alles. Nur die Endungen sind verschieden – ismus und logie. Aber auf die Endung kommt es nicht an, sondern auf die Wurzel des Wortes, in der sein Sinn verborgen liegt. Verstanden?«
Selbstverständlich verstanden Herrn Maurus' Jungen stets alles, was ihr Direktor ihnen selbst erläuterte. Sogar dann, wenn sie überhaupt nicht begriffen, wovon eigentlich die Rede war. Aber eins war ihnen doch unter allen Umständen klargeworden: Herr Miilinömm mußte wegen der Soziologie, oder wegen des Sozialismus, oder wegen beider das Haus verlassen, folglich mußte es sich hier um höchst interessante Dinge handeln. Und auch beim Übermenschen, der einen durch eine böse Krankheit verrückt macht.