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Unter dem Eindruck dieses Briefes des Bruders nahm das erste Semester seinen Anfang. Und diese Stimmung paßte auch gut zu den Verhältnissen, denn von den großen Hoffnungen, mit welchen Indrek im Frühling in der Stadt geblieben war, hatten sich nur lächerlich wenige erfüllt: die wenigen Stunden, die er gefunden, nahmen gar bald ein Ende, und eigene Lektüre und Studien mußten hinter allerlei kleinen Abenteuern und neuen Bekanntschaften zurücktreten.
Tag für Tag wartete Indrek auf den Augenblick, wo Herr Maurus ihn mit gekränkter Miene nach oben in sein Zimmer rufen oder sonstwo beiseitenehmen würde, die eine Hand in der Hosentasche, die andere ausgestreckt, den Daumen gegen den Zeigefinger reibend, was zu bedeuten hatte: Geld! Und wenn dieser Augenblick gekommen sein würde, dann würde Indrek nicht mehr vollberechtigter Schüler sein, sondern Laufbursche, Brotaufschneider, Tafeldecker, Aufpasser, Türsteher, wie ein Jahr zuvor, nur daß dieses alles ihm jetzt viel schwerer fallen mußte als damals.
»Sie sind mein Minister«, erklärte Herr Maurus, Indrek aufs neue in seine alten Ämter einsetzend, »denn Sie sind länger als die anderen, wie Saul, als Jehova ihn zum König ausersah. Zum König kann ich Sie freilich nicht machen, denn das bin ich hier im Hause selbst, aber ich unterstelle Ihren Befehlen zwei, deren König Sie sein sollen.«
Einer dieser beiden war der fromme Wainukägu, dessen Eltern an Geld zu kurz zu kommen begannen, bevor der Sohn noch Pastor oder doch wenigstens Küster geworden war. Aber für seine Bügelfalten sorgte der Sohn nach wie vor. Und auch mit der Schriftverlesung machte er noch dann und wann Versuche.
»Sie sind mir verantwortlich, daß alles in Ordnung ist«, erklärte Herr Maurus zu Indrek gewandt, »und diese beiden hier tragen die Verantwortung Ihnen gegenüber«, fuhr er fort, auf die beiden Gehilfen weisend. »Denn irgend jemand muß doch die Verantwortung tragen, wenn Herr Maurus selbst hierfür keine Zeit hat. Im übrigen: Kopf hoch und Brust heraus!« ermahnte er Indrek, der stets mit gesenktem Kopf etwas vornübergebeugt dastand, als trage er schwer am Leben.
Mit diesen Vermahnungen machte sich Indrek wiederum an die Ausübung seiner häuslichen Pflichten, die ihn sofort in den Strudel des Alltags stürzten. Im Speisezimmer traf er Frau Malmberg, die von Ramilda zu erzählen begann.
»Sie fragt, ob Sie immer noch hier seien«, berichtete sie und fügte hinzu: »Sie fragt überhaupt nach allen alten Bekannten. Mit ihrer Gesundheit geht es nun schon besser, und wenn es so weitergeht, dann wird sie vielleicht im Frühling schon heimkehren können.«
Indrek wußte hierauf nichts zu erwidern, lächelte bloß verlegen und ein wenig geniert, als erzähle man ihm unpassende Dinge.
»Ich werde ihr schreiben, daß Sie hier nach wie vor mein Stab und Stütze sind und es inzwischen fertiggebracht haben, sämtlichen Tassen die Henkel abzubrechen.«
»Aber das habe ich doch gar nicht getan!« rief Indrek über und über errötend, als habe man ihn bei einem Verbrechen ertappt.
»Natürlich nicht, aber schreiben kann ich das doch deswegen immerhin, sie wird es nicht krummnehmen. Denn irgend etwas muß ich ihr doch schreiben. Sie plagt mich ja zu Tode, daß ich ihr schreiben soll, immerzu schreiben, über alles und alle, je mehr, desto besser, je unwichtiger, desto interessanter – so meint sie.«
Das Milieu des großen Zimmers hatte sich ein wenig verändert, denn der vierschrötige Herr Slopaschew hatte den Staub von seinen Füßen geschüttelt und war ausgezogen. Der Verlust dieses Freundes hatte Woitinski gleichsam in einen Schatten verwandelt, der seinen Herrn verloren hat: von ihm war kaum noch etwas zu hören und zu sehen. Es war, als bemerkte man ihn überhaupt nicht mehr. Nur wenn er von einem Besuch bei Slopaschew zurückkehrte, belebten sich seine trüben Augen, und er konnte gelegentlich so lebhaft und gesprächig werden, daß er eine größere Schar Schüler um sich versammelte.
In Slopaschews früherem Zimmer wohnt nun der magere, pockennarbige Kulebjakow, der an nervösen Zuckungen im Gesicht leidet. Er gibt in den höheren Klassen Geschichte und leitete in Indreks Klasse seinen Unterricht mit einer schwungvollen Schilderung der großen französischen Revolution ein, die überhaupt sein Steckenpferd darstellte. In der Begeisterung des Vortrags verdoppelten sich seine Zuckungen, und seine Augen wurden feucht.
Wie sich im Verlaufe des Unterrichts herausstellte, bevorzugte dieses stille, magere Männchen mit dem sanften Blick und der schwachen, klanglosen Stimme in der Geschichte die großen, gewaltigen Ereignisse, Schlachten, Revolutionen, Erschütterungen und Krisen aller Art. Dann konnten sich seine kleinen mageren Händchen krampfhaft zu Fäusten ballen, in denen er irgend etwas Großes, Hartes, Zähes zu zerquetschen schien. Dabei war er überzeugter Friedensapostel und grundsätzlicher Pazifist.
»Aber der Frieden, der ewige Frieden wird nicht eher kommen, als bis die Mordtechnik des Krieges ihr Maximum erreicht hat. Verstehen Sie – ihr Ma-xi-mum«, wiederholte er jede Silbe gedehnt betonend, als könne dieses den Anbruch des ewigen Friedens fördern. »Verstehen Sie, was das zu bedeuten hat?« fragte er. »Nein, das können Sie natürlich nicht verstehen, das begreift genau genommen heute noch überhaupt niemand. Aber soviel läßt sich doch immerhin schon heute behaupten, daß es durchaus kein Erbarmen oder Mitleid geben darf, wenn das Friedensideal wirklich triumphieren soll. Der Krieg muß so furchtbar gemacht werden, so entsetzlich und unheimlich, daß auch nur der bloße Gedanke an ihn die Herzen der Menschen erstarren läßt. Heute erteilt man Friedenspreise an Schriftsteller, die vom Frieden schwatzen, aber ich sage Ihnen, der Tag ist nicht mehr fern, wo man denjenigen Friedenspreise zuerkennen wird, die irgendeinen neuen Sprengstoff, irgendwelche Todesstrahlen oder sonst ein Mittel erfinden werden, das die umfassendsten Vernichtungsmöglichkeiten bietet. Von Schutzmitteln lohnt es sich nicht zu reden, denn die Vervollkommnung der Vernichtungsmittel geht stets in schnellerem Tempo vor sich als die Entwicklung der Abwehrmittel. Damit fällt die letzte Möglichkeit fort, den ewigen Frieden durch die Psychologie der Feigheit verwirklichen zu wollen, vielmehr gibt es hierfür nur einen Weg – das Maximum der Vernichtung, das eo ipso den maximalen Friedenswillen gebären muß. Wir wollen den Frieden mit Worten stützen, mit den Worten dessen, den wir selbst ans Kreuz geschlagen haben. Aber was haben wir durch den Mund des Hohenpriesters dem Römer gesagt, diesem nüchternen Meister im Blutvergießen? Sein Blut komme über uns und unsere Kinder! Das haben wir gesagt. Und so ist es denn auch gekommen seit nun bald zweitausend Jahren, und so wird es auch in Zukunft bleiben, solange wir von Mitleid und Erbarmen schwatzen. Denn was helfen Worte, wenn der Mensch selbst blutdürstig ist. Das Menschengeschlecht kann nur durch Erbarmungslosigkeit und Roheit gerettet werden, durch die auch die Erlösung vollzogen wurde. Jehova war ein alter, kluger Gott, er wußte das. Alles andere ist Märchen und Legende, denn homo homini lupus.«
Herr Kulebjakow trug diese Gedanken mit so sanfter, weicher Stimme vor, daß man hätte meinen können, er wünsche eigentlich lieber überhaupt nicht gehört zu werden. Aber in seinem schmächtigen Leibe schien gleichzeitig ein leidenschaftliches Feuer zu glühen, denn seine winzigen Äuglein blitzten wie Funken. Nach Schluß seiner Ansprache schwieg er eine Weile, um dann, seine vorigen Ausführungen gleichsam bedauernd, ja entkräftend, hinzuzufügen:
»Es versteht sich von selbst, daß die richtige, eigentliche Wahrheit, die maximale Wahrheit über den Menschen und seine Friedensbestrebungen eigentlich nicht hierher gehört. Aber ich habe mit Ihnen wie mit Freunden geredet, im Bestreben, schon in der Jugend den Glauben an das Ideal des Friedens zu wecken und zu festigen. Man verbirgt die Wahrheit vor uns, aber ich wollte sie Ihnen nicht vorenthalten. Es wird sich ja zeigen, wie Sie das zu schätzen wissen.«
Oh, die Jungen des alten Maurus wußten das zu schätzen, denn es war nicht das erstemal, daß sie von Dingen hörten, denen das Siegel des Geheimnisses aufgedrückt war, und Herrn Kulebjakows Enthüllungen über die Wahrheit blieben nicht die letzten. Das mußte namentlich der Wargamäe-Indrek erfahren, denn Herr Woitinski sorgte dafür.
Wie schon gesagt, erschien dieser nach Slopaschews Auszug gleichsam verwitwet. Anfangs machte er den Versuch, mit Kulebjakow ähnliche Beziehungen anzuknüpfen wie mit Slopaschew, aber dieser Versuch mißglückte vollkommen – vielleicht auch deswegen, weil es mit Woitinski geistig und körperlich ständig bergab ging. Alles, was er am Leibe trug, war bis zum äußersten schäbig und abgetragen, und seine Brust glänzte von den Spuren fettiger Speisereste. Und vor allem erging es ihm wie jedem kränkelnden Wesen: sein Leib begann in zunehmendem Maße anderen lebenden Organismen zur Speise zu dienen. Es blieb nichts anderes übrig, als allwöchentlich mit ihm und allem, was er am Leibe trug, eine gründliche »Remonte« vorzunehmen, indem man ihn in die Badestube brachte, dort seine Kleider im Schwitzraum aufhängte und hier eine solche Glut erzeugte, daß man hätte wähnen können, in der Hölle zu sein, worauf dann auch er selbst einer gehörigen Generalreinigung unterzogen wurde. Mit dieser verantwortungsvollen Aufgabe war Jürka betraut, der das als ausgedienter Soldat am besten verstehen mußte. Und er verstand es denn auch in der Tat, nur daß er Woitinski bei dieser Gelegenheit mit der rohen Sachlichkeit betreute, wie man etwa einen räudigen Hund zu kurieren bestrebt ist, worauf er, heimgekehrt, behaglich bemerkte: »Nun wird der Alte doch ein paar Nächte ruhig schlafen können, ohne sich zu kratzen.«
Eines Tages, als die Stunde des Aufbruchs in die Badestube sich näherte, begann Herr Woitinski sich in Indreks Nähe herumzubewegen, als habe er irgend etwas Besonderes auf dem Herzen. Endlich schien er Mut zu fassen und sagte:
»Herr Paas, ich hätte eine große Bitte an Sie.«
Indrek erfaßte sogleich, daß es sich um etwas Wichtiges handeln müsse, denn für gewöhnlich titulierte Woitinski ihn nicht mit »Herr«. So blickte er denn mit fragender Miene dem Lehrer ins Gesicht. Aber anstatt nun seine Bitte vorzubringen, begann der alte Mann nach Worten suchend hilflos zu mummeln und verlegen von einem Fuß auf den anderen zu treten.
»Womit könnte ich Ihnen dienen, Herr Woitinski?« fragte Indrek endlich.
»Wir brechen bald in die Badestube auf«, begann Herr Woitinski, um dann zu stocken und wieder hilflos mummelnd Indrek anzublicken. »Ich muß mit Jürka gehen«, fuhr er nach einer Weile fort, »aber das ist mir zuwider. Verstehen Sie, zuwider!«
»Aber warum gehen Sie denn nicht allein, Herr Woitinski?« fragte Indrek.
»Das gestattet Herr Maurus nicht«, versetzte Woitinski. »Jemand muß mit mir gehen, und es findet sich niemand außer Jürka, diesem rohen Burschen. Ich dachte daran, Sie zu bitten, ob Sie vielleicht ...«
»Daß ich an Jürkas Stelle mit Ihnen kommen soll?« kam Indrek dem verlegen Stockenden zu Hilfe.
»Entschuldigen Sie, ja, gerade darum wollte ich bitten«, fuhr Woitinski in so unterwürfigem Tone fort, daß Indrek direkt einen körperlichen Schmerz zu verspüren glaubte, und er nicht gleich eine Antwort finden konnte. Im selben Augenblick erschien auch schon Jürka mit seinem Bündel auf der Bildfläche.
»Nun, fertig?« fragte er barsch.
Woitinski ließ die Augen bittend von Jürka zu Indrek gleiten.
»Heute werde ich Herrn Woitinski begleiten«, sagte Indrek.
»Sie?« fragte Jürka beleidigt in herausforderndem Ton.
»Ja, ich«, versetzte Indrek.
»Um so besser«, sagte Jürka und fügte dann, sich schon zum Gehen wendend, hinzu: »Aber gehen Sie dann auch wirklich, sonst krieg ich vom Alten wieder Schimpf. Und wenigstens hundert Grad, sonst hilft es nichts.«
»Ich gehe schon, seien Sie ohne Sorgen«, erwiderte Indrek.
Das Gespräch zwischen Indrek und Jürka wurde in estnischer Sprache geführt, die Woitinski nicht beherrschte. Aber als er sah, daß Jürka mit seinem Bündel sich davontrollte, erfaßte er, daß seine Bitte Gehör gefunden hatte, und griff mit zitternden Fingern nach Indreks Hand, während ihm die Tränen in die Augen stiegen. Und auch Indrek packte die Rührung, denn Herrn Woitinskis Finger gemahnten ihn an die verkrümmten Hände des Vaters, obgleich sie ungleich zarter und geschmeidiger waren.
In der Badestube wurde Indrek Zeuge eines menschlichen Elends, wie er es bisher noch nie zu beobachten Gelegenheit gehabt hatte. Und dieses Elend erschütterte ihn derartig, daß er die diesem Elend anhaftende ekelhafte Unsauberkeit nicht einmal richtig bemerkte. Alles vom Hemd bis zu den Socken war bis zur letzten Möglichkeit abgenutzt, zerlumpt, und überall krochen die kleinen Tierchen, die dem Unglücklichen weder bei Tag noch bei Nacht Ruhe gaben und ihrerseits einen so jämmerlichen, schwächlichen, lebensmüden Eindruck machten, als vermöge der Besitzer seine Herde nicht mehr recht zu ernähren. Oh! Indrek hatte ganz andere Exemplare von Tierchen gleichen Schlages gesehen, ganz andere. Er mußte an die alte Lause-Kai denken, eine große halbblinde, halbstumme alte Jungfer, die als Gemeindearme nach einem bestimmten Turnus die einzelnen Höfe abmarschierte, die ihr jeder je eine Woche Unterkunft und Verpflegung zu gewähren hatten. Und jedesmal, wenn sie nach Wargamäe kam, dann hatte die Mutter sie wie ein eigenes Kind aufgenommen und gepflegt, so daß aus der einen Woche oft ein Monat oder gar zwei wurden, denn am Ende der Woche vergoß die Alte aus ihren blinden Augen so heiße Tränen, daß die Mutter es nicht übers Herz bringen konnte, sie fortzuschicken. »Nun ist sie sauber, mag sie noch eine Woche bleiben«, meinte sie, aber es nützte nur wenig, daß sie noch eine weitere Woche bleiben durfte und dann noch eine, – mit jammervollem Heulen verließ sie jedesmal Wargamäe, die Mutter beim Abschied mit ihren sonderbar vorquellenden, erloschenen, weißen Augäpfeln anstarrend mit den Worten: »Wenn Gott mich doch die Bäuerin noch einmal erblicken lassen würde!«
An diese Lause-Kai mußte Indrek denken, als er Woitinskis Elend so unverhüllt vor sich erblickte, und er beschloß in seinem Herzen, Woitinski dasselbe zu sein wie seine Mutter der Lause-Kai.
Vor allem gab Indrek den Kleidern seines Begleiters hundert Grad, wie der sachkundige Jürka es vorgeschrieben hatte. Dann war er dem Alten selbst behilflich, das schmale Treppchen empor auf die erhöhte Badebank zu klettern. Nie noch glaubte Indrek einen so jammervoll ausgemergelten Leib gesehen zu haben, der nur aus Haut und Knochen zu bestehen schien und jeder Rundung ermangelte, mit der die Natur das dürre Skelett verschönernd umkleidet. An diesem elenden Leibe war jeder einzelne Knochen, wie an einem präparierten Skelett, deutlich zu unterscheiden: die Rippen, Schulterblätter, Rückenwirbel, die Ansätze der Hüften, Knie, Knöchel und Zehen, um welche die bloße Haut schlotternd niederhing. Ja, sogar einen Bauch schien der Alte überhaupt nicht mehr zu haben, wodurch in Indrek die Erinnerung an eine alte Heiligenlegende wachgerufen wurde, die er mal irgendwo gelesen, in der von einem Fanatiker berichtet wurde, der so arg abgemagert war, daß man seine Rückenwirbel durch seinen Bauch hindurch zählen konnte. Sicherlich ist das auch bei Herrn Woitinski der Fall, dachte Indrek, und es wollte ihm wunderlich erscheinen, daß der Mann hier auf der Badebank Woitinski hieß und diesem Namen noch ein Pan oder Herr vorgesetzt würde. Auch Woitinski selbst schien etwas Ähnliches zu empfinden, denn er sagte:
»Herr Paas, nennen Sie mich nicht Herr Woitinski, sondern einfach Iwan Wassiljewitsch. Wenn Menschen zusammen in der Badestube gewesen sind, dann sind sie sich nicht mehr Fremde, nein, nahezu Freunde. Die Badestube macht alle gleich. Ganz wie das Grab.«
Und dabei blieb es denn auch in der Folge. Aber als Indrek den Alten mit einem weichen, duftenden Badequast, den er zu diesem Zweck sorgfältig ausgesucht hatte, zu quästen begann, meinte Iwan Wassiljewitsch:
»Ach Gott, wenn man nun ein Fläschchen Bier haben könnte! Aber das gibt es nicht. Weder Bier noch Geld. Herr Maurus, das Ekel, hält mich kurz. Zu offen bekomme ich ja, und meine Stube wird geheizt, aber Geld, nein, das gibt es nicht. Zigaretten läßt er mir holen, aber weder Bier noch Schnaps.«
»Wollen Sie, ich lasse Bier holen, Iwan Wassiljewitsch?« fragte Indrek.
»Christ ist erstanden, wenn das möglich wäre!« versetzte Iwan Wassiljewitsch freudig erregt.
»Das ist schon möglich«, erwiderte Indrek und holte eine Flasche Bier herbei. »Aber sie ist zu kalt«, warnte er.
»Das ist gerade schön«, versetzte Iwan Wassiljewitsch, die Hand nach der Flasche ausstreckend, »kaltes Bier und heißes Bad – einfach göttlich!«
Auf der Badebank sitzend trank er in langen Zügen, während Indrek das Glas nachfüllte. Als die Flasche geleert war, legte er sich wieder nieder und bat Indrek, ihn gehörig zu quästen, nicht so zart und obenhin wie vorher. Auch reichlicher Dampf mußte Indrek durch Bespritzen des glühendheißen Ofens entwickeln, und als er dann mit Macht seinen Badequast schwang, krächzte der Alte verzückt:
»Sieh mal an, du Schinder, eine Flasche bloß, aber schon steigt die Geschichte einem zu Kopf.«
Auch Indrek wollte es scheinen, als sei das Bier Iwan Wassiljewitsch zu Kopf gestiegen, denn er wurde nun plötzlich sehr gesprächig. Während Indrek ihn kräftig mit dem Scheuerlappen bearbeitete, brummte er:
»Vorsicht! Nicht so energisch. Die alte morsche Haut hält das nicht aus, sie platzt, und ich verliere noch das wenige bißchen Blut, das ich habe.«
Die Warnung kam zur rechten Zeit, denn schon zeigten sich auf der welken Haut hier und da kleine Blutstropfen, namentlich da, wo die eckigen Knochenenden direkt unter der Oberfläche lagen, als drohten sie die Haut zu durchbohren, wenn man nur ein wenig fester auf sie drückte.
»Jürka, das Schwein, wusch mich immer so, daß ich über und über blutete«, fuhr Iwan Wassiljewitsch fort. »So, ja, so ist es recht! Vorzüglich! Dort, an jener Stelle etwas kräftiger, so, ja, prächtig! Es tut nichts, wenn die Haut hier und da ein wenig aufplatzt und Blut hervortritt. Denn was soll solch ein Kerl wie ich schließlich noch mit Blut anfangen? Sagen Sie aufrichtig: brauch ich überhaupt noch zu leben? Hat irgend jemand auf der Welt mich nötig? Wer fragt nach mir? Eher interessiert man sich für irgendeinen Hund als für mich. Bin ich überhaupt noch ein Mensch? Richtiger: kann man glauben, daß ich überhaupt jemals ein Mensch gewesen bin? Glauben Sie das? Glauben Sie, daß ich Fürsten und Großfürsten unterrichtet habe? Daß ich goldene Medaillen besessen habe? Daß ich zur Gesellschaft gehört, Bälle besucht habe, auf denen feine Damen mich unter den Arm gefaßt, ich mit ihnen getanzt habe, sie um den zarten Leib fassend, in der Mazurka dahingeflogen bin als bester Mazurkatänzer ganz Petersburgs, verstehen Sie, ganz Petersburgs – können Sie das glauben? Sie antworten nicht, denn Sie sind ein ehrlicher Mensch, der nicht die Unwahrheit sprechen will, und die Wahrheit wollen Sie ebensowenig sagen, weil sie beleidigend wäre. Die Wahrheit ist immer beleidigend, der Mensch braucht die Wahrheit nicht. Er gibt wohl vor, sie zu suchen, um andere glauben zu machen, daß er sie schätze. Aber die Wahrheit ist für den Menschen im Grunde doch dasselbe wie ein reißendes Tier oder eine tausenddornige Rose. Darum soll man dem Menschen nicht die Wahrheit sagen, sondern ihn lieben. Aber mir kann man schon die Wahrheit sagen, denn ich bin eben kein Mensch mehr. Noch im vergangenen Sommer spazierte ich mal zur Stadt hinaus an den Fluß und zog mich dort nackt aus. Und wollen Sie mir glauben, als ich dort auf dem Rasen, dem schönen grünen saftig weichen Rasen meinen Schatten erblickte, da erkannte ich ihn nicht, begriff nicht, daß es mein Schatten wäre. Ich blickte mich um, wer da wohl hinter mir stehen könne, der solch einen sonderbaren Schatten werfe. Und als ich da niemand erblickte, da erst erfaßte ich, daß ich kein Mensch mehr sei, denn ich habe ja nicht einmal mehr einen richtigen menschlichen Schatten. So ist es mit mir bestellt. Und darum können Sie mir die Wahrheit ruhig ins Gesicht sagen, das beleidigt mich auch nicht im geringsten, macht mir nur Spaß. Denn was wäre wohl an mir, was man beleidigen könnte? Haut und Knochen, weiter nichts. Kann man die beleidigen?«
Ein anderes Mal kaufte Indrek Iwan Wassiljewitsch zwei Flaschen Bier, weil er so sehr darum bat, und diese zwei Flaschen machten an Woitinskis geschwächtem Organismus ganze Arbeit. Seine Zunge drohte gänzlich zu erschlaffen, so daß er mehr lallte als deutlich sprach. Aber je undeutlicher seine Worte wurden, einen desto höheren Flug nahm seine kühne Phantasie.
»Wenn der Mensch jung ist, verstehen Sie, jung«, begann er behaglich mummelnd, »so kommt es ihm in erster Linie aufs Weib an, auf die Lust, die Leidenschaft, die Sünde, den Wahnsinn. Aber wenn der Mensch alt ist, verstehen Sie, nicht so wie ich, denn ich bin eigentlich gar nichts mehr, weder alt noch jung, verstehen Sie, rein gar nichts. Jedes Tier ist alt oder jung, aber ich bin gar nichts, denn ich stehe gewissermaßen außerhalb der Zeit. Ich bin wie ein Stern am Himmel, den der Mensch überhaupt nicht erreichen kann. Wie ein Stern, verstehen Sie. Betracht ihn aus der Ferne, mit dem Fernrohr, mit dem Mikroskop, wie du willst, ob in ihm noch irgendein menschliches Gefühl steckt. Aber es ist nichts zu finden. Weder mit dem Fernrohr noch mit dem Mikroskop. Aber wenn ein Mensch alt ist, was kann eine Frau ihm da noch bedeuten? Entsinnen Sie sich der Geschichte von Salomo? Der suchte sich im Alter ein junges Weib, um sich zu erwärmen. Um sich zu erwärmen, verstehen Sie, sonst nichts. Aber ist ein Hund etwa nicht warm? Warum nahm der weise Salomo denn nicht einen Hund auf den Schoß, um sich zu erwärmen. Was meinen Sie? Ist ein Weib denn ein Ofen oder eine Badestube? Sogar der Schnaps erwärmt einen alten Mann besser als ein junges Weib. Ja, der Schnaps erwärmt einen sogar auch noch dann, wenn man eigentlich nichts mehr ist. Hätten Sie meine Frau gesehen, dann würden Sie glauben, daß auch ich einmal ein Mensch gewesen bin, denn nur aus der Frau lernt man den Mann kennen. Sie ist die Manifestation des Mannes, verstehen Sie? Adam kam erst in Eva zur Erkenntnis, zur Selbsterkenntnis. Sie war sein Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Das ist, wenn der Mensch jung ist, verstehen Sie. Aber wenn ein Mensch alt ist, dann liebt er nur die Ruhe, den Frieden, das ist das einzige, was ein alter Mensch noch liebt. Den Frieden, verstehen Sie. Aber was sagt Kulebjakow? Erst Vernichtung, dann Frieden. Spreng meinetwegen die Erde in den Himmel, ins Sternbild des Herkules, wenn es anders nicht geht. Ein Idiot, nicht? Ein philosophischer Grützkopf, he? Maximale Vernichtung – maximaler Frieden. Verstehen Sie? Aber wo bleibt dann der Mensch, der ewige Mensch? fragt Slopaschew. Wo bleibt der, wenn die Erde in den Herkules fliegt? Oder ist der Mensch vielleicht gar nicht ewig? Aber was ist er dann? Ein Insekt, ein Sporenpilz, ein Staubkörnchen, he? So wie ich? So daß ich dann also doch immerhin noch ein Mensch wäre, was? Und meines Friedens wegen die Erde in den Herkules sprengen, wie?« Woitinski lachte tonlos, wandte sich auf den Bauch und bat, seinen Rücken nochmals gehörig zu quästen.