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Das Schwert über den Feldern

.His verläßt das Haus.

Er schreitet dem Dorf zu.

Diese stählerne Härte, diese Kettenspannung des Lebens mit Arbeit, Gewinn, Leistung, Sicherheit, Aufstieg, diese exakte Gleichung macht ihn unfroh und müde. Er hat sich bisher immer dieser kopflosen, sorglosen Fabrikarbeit gefreut, dieser reinen Körperhaftigkeit des Lebens, dieses Erdendaseins gleich den Blumen auf dem Felde; und jetzt – statt kraftvoll und mächtig als echte Proleten Kinder zu zeugen – wurde auch dies schöne einfache Körperdasein erhöht, verfeinert, zum Vertiko emporgeläutert.

His stolpert auf der regenfeuchten Straße vorwärts. Die Bewegung tut ihm wohl. Der Mond schaut durch Wolkenballen. Dies Antlitz! Weshalb steht jetzt dies Antlitz vor ihm? War es bleich und still und menschenfern wie diese blasse Scheibe an den Wolken? Im Norden, Westen und Süden erheben sich wie eine schwarzblaue kantige Mauer die Felswände der Berge. Von Osten kämmt ein scharfer Wind und fegt prickelnd ein Gemisch von Hagel und Eisgrieß an die Haut. Die Straße knirscht, Schotter kommt, das Dorf.

Aus einem Haus klingt Geige, Okarina und Ziehharmonika. Die Italienerkolonne, Erdarbeiter aus Umbrien und Toskana, ist zum Durchbruch des neuen Bahntunnels herangezogen worden. Sie haben ein Haus gemietet – »Albergo Isabella« steht über der Tür – und führen eigene Wirtschaft. Aber sie schenken den italischen Wein auch an Fremde.

His tritt ein.

Die Nachtkolonne rüstet gerade zum Aufbruch. Arom gerösteter Fische, siedenden Öls, Pistazien, Artischoken und der Duft des Umbrierweins mischen sich mit dem Petroleumqualm der Hängelampen des niederen Raumes. His sitzt nieder. Rechts und links ißt man noch hastig, schwatzt, bläst die Tonpfeife, einige haben nach Art der Kohlenträger den Rupfensack als Schutz gegen die Nässe des Tunnels schon über Kopf und Schulter gestülpt. Ja man würfelt noch in aller Eile und die Geige tönt aus einem dunklen Winkel von einer Bank zwischen dem Büfett und einem rechten Wandtisch. Doch immer mehr Gestalten erheben sich, werfen die Säcke über, schnallen das Handleder an und treten zur Tür. Sie warten auf den Rottenführer. Nur neben dem Geiger an der rechten Seitenwand steht wie erstarrt ein junger Arbeiter mit blassem Gesicht und scheint zu zählen. Ob er den Würflern nachzählt oder aus eigenem Trieb, er zählt von eins bis zehn, immer wieder die Skala von eins bis zehn.

Plötzlich wird im Hintergrund die Tür aufgerissen. Ein riesenhafter starker Mensch springt heraus mit schwarzer Mähne, weinrotem Gesicht und schwarzem Schnauzbart, mit einem Kopf wie eine glühende Lokomotive.

Il braccio!

Er blickt sich wütend um und ruft: es sei noch Zeit!

Hinter ihm steht ein Mädchen mit offenem schwarzen Haar und sucht ihn zu beruhigen. Eine Weile schweigen die Stimmen. Nur die Geige schwingt weltfern.

Dann brüllt es durcheinander: »Eviva Isabella! Bravo Il braccio!«

»Der Arm«, so heißt der schwarze Gigant, weil er an seinem in die freie Luft gestreckten Arm zwei klimmzügemachende Männer halten kann. Einer hebt jetzt das Glas mit rotem Umbrierwein ihm entgegen und grinst den Braccio unterwürfig an … da zerklirrt es wie auf einen Geisterschuß in seiner Hand. Lachsalve und Händeklatschen! Ein Würfler hat mit dem Würfel das Glas zerschmettert.

»Es sei noch Zeit,« brüllt achtlos Il braccio, »dreitausendmal Zeit, drei Mädels zwischen Büfett und Türangel, zwischen Jacke und Handlederanstreifen zu lieben!« Er wirft das Mädel auf seinen linken Arm hoch und trinkt ihm mit der Rechten zu.

Aber da zerknallt vom zweiten Würfelschuß sein Glas zwischen Mund und Mund. Er staunt, sieht, läßt fallen, springt über das Büfett, daß die Gläser klirren, steht am Würfeltisch, rotdampfend; alle sind gewichen. Der Geiger und der Zähler nur bleiben. Aber da liegt der Geiger schon über dem Bankbrett, flach wie ein willenlos Stück Tuch, über ihm reitet mit schmetternden Fäusten Il braccio. Willenlos gebannt sehen alle der furchtbaren Überwältigung zu. Willenlos stöhnend und blutend liegt unter dem Orkan der Hiebe der schuldlose Geiger.

Eintönig zählt der Zähler.

Wie er Zehn nennt und anhält, hält auch der Schlagende.

Der Geschundene stöhnt nicht mehr, er blutet stumm aus Mund und Nase und erbricht sich. Plötzlich nimmt einer die Geige, und wie man Schlangen und Dämonen bezähmt, spielt er ein weiches Lied, Ansätze einer Ninarella oder einer Barcarole. Die an der Tür summen es mit, sie singen es leise, und auf einmal singt es unter der wuchtend erstarrten Masse des Braccio … der Geiger unter dem Ungeheuer singt. Der Unhold, die schwarze Lokomotive, neigt sich zurück, lauscht, wiegt sich, summt, brummt und dröhnt mild von dem Lied. Dann nimmt er sein Opfer hoch, drückt plötzlich den blutenden Kopf schluchzend an seine Brust und bedeckt das Haupt mit Küssen, trunken, ächzend, überwältigt, hingerissen, täppisch und voller Leid.

*

His steht draußen.

Er läuft durch das dunkle, winddurchfegte Dorf. Was war nun das Leben? Rausch oder Rechenkunst? Woge oder Kniff? Feuer oder Eis? Trieb oder Bedenken? Gab es kein ruhiges Schwellen dazwischen? Kein Erglühen? Reifen? Gedeihen? Ihn hungerte nach zwei klaren stillen Augen, so rein und ruhend wie der Himmel der Landschaft. Er schreitet noch zu, schreitet mit der Sicherheit des Pferdes, das in der Nacht seinen Stall findet; seine Füße halten vor der niederen schweren eichenen Tür, Meister Ruoffs Gebäude.

Er tritt ein.

Der Alte sitzt am breiten Tisch, über ein mächtiges Papier mit Ringen, Pfeilen und Kreisbögen gebeugt. Es sieht zuerst aus wie die Konstruktion einer Türstrebung oder eines Kellergewölbes. Wie aber der Schreinermeister seinen Kopf und seinen langen schmalen Kinnbart etwas hebt, gleichsam zum Gruß, da sieht His, daß auf dem Boden die fünf Weltalter nach adventistischem Brauch eingezeichnet sind: vom paradiesischen Säkulum der ersten Heilszeitordnung bis zum Weltalter der zweiten Wiederkunft.

»Wahrhaftig, junger Herr, die Zeit ist nahe!« brummt Meister Graubart drohend. »Diese abgelebte Welt hängt über der Achse, die Hora der kommenden klingt schon an! Der Feigenbaum beginnt zu grünen!« Und er zirkelt an Hand des Buches Daniel und der Apokalypse weiter in seinem Aufriß der neuen Ära.

His ist es wohl und leicht geworden in diesem friedlichen Gelaß, das nach Wärme, Lack und Holz riecht, darin dieser alte, fleißige und nüchterne Tagwerker nach seiner Brotarbeit abends niedersitzt, sinniert und in die heiligen Urtexte, in den Rhythmus der Zahlen, in die Wölbungen, Schwünge und Kurven der höheren Welten sich versenkt. Und diese Versenkung des alten Mannes erhöht die lichte Ruhe des schweigenden nähenden Mädchens, das mit zerarbeiteter Hand und doch schlankem Finger an einem groben Männerhemd einen Flicken einsetzt und den langen Faden in eben so weichen, runden, wortlosen Kurven durch das Leinen sticht, hinaufführt, auffängt und wieder senkt.

Genovef hat His gegrüßt, ohne von der Arbeit abzustehen; nur schiebt sie ihm einen Stuhl hin.

Das Zimmer ist an den Wänden ganz mit heller Tanne verschalt. Rings um den Raum laufen zwei Holzsimse; ein schmäleres, auf dem in handhohen, holzgeschnitzten Figuren die ganze Weihnachtsgeschichte aufgebaut, der Stall zu Bethlehem, die heiligen drei Könige, die Flucht nach Ägypten. Auf einem höheren und viel breiteren Sims sitzen die Hühner. Es ist ihr Winterplatz, gewiß ungewöhnlich, aber Meister Ruoff braucht die Tiere um sich, die selbst im Lampenlicht schlafen; er braucht – die acht Kinder im Haus genügen nicht – das Leben in fühlbarer Nähe.

Er ist ein eigener Kauz. Er zirkelt und mißt auf dem großen Bogen und fragt so über die Hand weg: »Im Haus alles recht?«

»Alles recht«, erwidert His.

»Wird noch gebaut?« Der Alte meidet den Neubau der Tochter und des Tochtermannes.

»Nur außenum,« gibt His eintönig zurück, »der Geißstall, der Holzschopf.«

»Sind fleißig beinand?«

»Schuften recht.«

Es ist ein trockenes, nicht sehr frohes Gespräch. Genovef sieht His mit großen Blicken an, die nur das eine flehen: sprecht nicht mehr davon! Der Vater ist das Abbild der Güte und Ruhe; doch das Geldscharren, die Großmannssucht und die Herzensstarre der ältesten Tochter treiben ihm immer das Blut hoch, sobald er von den Neuanschaffungen und dem »eisernen Haus auf tönernen Füßen« hört. Sie hatten gegen seinen Rat nicht gar viel Holz verwendet beim Bau, sondern als Stützen und Unterzüge eiserne Träger einmontiert.

»Es erfüllet sich, junger Herr,« knurrt jetzt der Alte und kommt sogleich auf sein Lieblingsthema – der Winkel und das grobe Zimmermannsblei fahren wie wilde Keiler über die Dreiecke und Weltallsabschnitte – »es erfüllet sich! Wir stehen im Säkulum der eisernen Schenkel und tönernen Füße. Das goldene Haupt glänzt noch in der Sonne der Vergangenheit; aber Brust und Arme des Kolosses matten schon ab und sind aus Silber, das ist die Evangeliumszeit von Jesu Taufe bis zur Vollendung der Kirche, die da ist sein Leib, und siehst du« – jetzt schaut er mit großem flammendem Blick auf – »siehst du, nun kam der eherne Bauch, die ehernen Lenden, das tausendjährige Reich, das sollte Frucht und Samen bringen, daß das Erz bis in den Grund griff. Aber brachte es Frucht? Schlug es Wurzel? Gewann es den Boden, auf dem der Herr wandelte, litt, daraus er emporfuhr? Nein und abernein! Er starb den zweiten Tod, da er wiederkam, ungemeldet, ungefeiert, unerkannt! Denn aus Ton sind die Füße des Kolosses, der da heißet Menschheit, riesenhoch aufgerichtet, doch der nächste Stein, der niederrollt, er schlägt an die Füße, und der ganze Goliath stürzt wie eine Puppe!« Er stößt den Dreikantblei in den Boden der silbernen Heilszeitordnung, daß ein Riß entsteht von der Sintflut bis zu Jakobs Tod und der »ersten Ernte«. Seine grauen Haare fallen über die rotflammende Stirn, sein langer schmaler Kinnbart steht steif gegen den Tisch, als stütze er das erregte Haupt.

Genovef ist aufgestanden und geht ins Nebengemach. Sie kommt mit dem Zweijährigen, über dessen Geburt die Mutter starb, ins Zimmer. Das schlaftrunkene Köpfchen des Bruders liegt wackelnd auf ihrer Schulter. Sie zieht ein Töpfchen unter der Bank hervor, schlägt dem Kleinen das Hemdlein hoch, nimmt ihn auf die Hände und macht nun lockend das Geräusch des zu erwartenden Wässerleins. Alle schauen aufmerksam dieser uralten Handlung zu. Das Büblein schläft ruhig weiter, während das Brünnlein von ihm rinnt. Es ist still und feierlich. Nun kommt das ältere vierjährige Brüderlein dran. Die Handlung wiederholt sich ohne Scheu und Stocken.

Beide Männer haben still dieses mütterliche Besorgen Genovefs sich vollenden lassen. Nun ist sie hineingegangen und deckt die schlafenden Geschwister zu. Man sieht in dem anstoßenden Raum vier Kinderbettlein, Kante an Kante; die Fußteile von zwei großen Betten treten quer hierzu hervor. Die sechs kleineren Geschwister schlafen dort, sie liegen wie Brote im Backofen, Seite an Seite. Ein vielstimmiges Atmen, Hauchen, Stöhnen, Schnauben, Zähneknirschen, Schlafmurmeln dringt herüber, wie Geräusche in einem kochenden Kessel: eine Menschenmulde brodelnden Schlummers.

His schaut auf Vater Ruoff und meint: »Meister, Ihr arbeitet nicht auf den Weltuntergang, oder Ihr macht's dem rollenden Stein reichlich schwer!«

Der Alte demütig: »Wegen der drinnen?«

His wird ganz warm: »Ja, wegen der drinnen! Das sind keine tönernen Füße, das ist schnaubendes Leben, das ist in Eurem Bilde Erz, wenn nicht Gold! Wie soll diese Zeit untergehn! Es ist so vieles noch ungelebt!«

»Die armen Tröpf!« Vater Ruoff schaut nach der Kammertür, durch die Genovef wieder in die Stube tritt.

»Habt Ihr Reue?« fragt His.

»Reue?« wehrt der Alte erschrocken, »Reue? Wer sagt das!«

»Aber Ihr denkt doch seit Jahren schon über den Weltuntergang nach, Meister Ruoff, und seid gewiß, daß er in diesem Jahre geschehen soll! Habt Ihr nie daran gedacht, daß Ihr immer wieder einem Kind zu nahem gräßlichen Ende das Leben schenkt?«

»Ja, daran hab ich gedacht, junger Herr, doch was nützt alles Denken und Besorgen, wenn der Allmächtige meine Lenden peitscht? Ist das nit auch sein Geheiß? Kommt das nit auch von ihm? Läßt er nit die Wintersaat zum Frühjahr sprießen, da er schon das Schwert über den Feldern hält und die Schwefelfackel über den Hütten? Wir sind all in seine Hand gegeben! Wir müssen alle seinen Willen tun!«

»Und nicht nachdenken darüber?«

»Nein!«

»Ihr habt zehn Kinder?«

»Zehn, Herr, zehn! Ich weiß, was Ihr wollt: seine Frau ist darüber gestorben und wovon die sechs Kleinen sollen leben, da zerbricht er sich den Kopf nit! Herr, ich bin ein alter Mann und ein rechter Sündensack, weiß! Meine Kinder zahlen's mir heim, sind klüger, laufen mir davon und tragen die Nasen himmelhoch.«

Genovef hat ihr Zeug hingelegt und umfaßt von vorn den Alten: »Vater, ist das wahr?«

Der Alte streichelt ihr Haar: »Wahr und nit wahr, auch du wirst von mir gehn! Still, verschwör dich nit, Kind! Ich schelt dich nit, zürn dir nit, es wird alles heimgezahlt.«

»O Vater Ruoff,« fragt His traurig, »so reut's Euch doch?«

»Nix reut mich, Herr, was redet Ihr? Reue übers Leben, das ist Hadern mit Gott! Nein … nein … bewahr! Reut's denn die Tann, daß sie hochging und stark ward, wenn die Axt sie fällt? Aber sie stöhnt auf vor dem letzten Axthieb; das tut sie, Herr!«

Genovef ist zurückgetreten und gibt His ein Zeichen: »Vater, ich will dem Herre zünden!«

»Geht nur, Kinder, geht!« spricht der Alte und lächelt ohne aufzusehen, als habe er dennoch recht behalten.

Die Hühner schlafen auf dem Sims, leise schwankend in ihrer Haltung auf einem Bein, den Kopf im Gefieder; die bunten Holzfiguren der Weihnachtskrippe halten in der tieferen Zone Wache; auf und ab schwellend wie fernes Wasserrauschen dringt durch die Tür das Atemgeräusch der Kindermulde.

Leise sind His und Genovef ins Freie getreten.

Sie gehen einen hartgefrosteten Pfad zum Wald hinauf. Doch im Steigen kommt eine unwiderstehliche Schwere und Müdigkeit über beide. Sie halten in halber Höhe, im Schatten eines Hohlwegs. Die Luft ist still und frostkalt, der Himmel überzogen, doch schimmernd vom Mond. Der Wald liegt hinter ihnen. Sie schauen nach vorn übers Dorf zum dunklen Gebirgsrand.

Genovef beginnt – sie hatten noch kein Wort gesprochen: »Der Vater quält sich … um die beiden.«

»Um Marie und ihn?«

»Ist er heute wieder über Nacht?«

»Glaub's.«

Schweigen.

Er blickt von der Seite zu ihr, sieht ihr reines, bleiches, magdliches Gesicht; eine strahlende Leichtigkeit geht von ihrem Körper aus, trotz der kräftigen Arbeitshände und der breiten Brust; es ruft in ihm: Hier ist der Weg! Hier ist der Weg! Eine große Wärme durchrinnt ihn.

Er tritt näher: »Was sorgst du dich um sie? Sie brauchen noch einiges für drinnen; im Sommer han sie alles beisammen; dann ist das Nest gar!«

»Er tut mir leid,« beharrt sie leise, »er schaut so krank und leibarm aus, wird von Tag zu Tag minder; was han sie nachher vom Nest, wenn …« sie faßt jetzt seinen Arm mit beiden Händen, »Herr, die Schwester hört auf Sie, die Marie schaut immer nach oben, sie wird Ihnen folgen; sagen Sie ihr's: der Mann dürft nit mehr Nacht- und Tagwerk tun! Es bringt ihn um! Sagen Sie ihr's, Herr!«

»Wills versuchen, Genovef! Aber zu verstehen wär's; hätt's selbst nit gedacht! Wenn ich ein Weib lieb hätt, unheilbar, unverwartbar, ich würd mir's Blut untern Nägeln hervorschaffen, Nacht und Tag!«

»Ich aber ließ den Mann nit totrackern!«

»Ha, das sagst du jetzt!«

» Ich schuftet lieber!«

»Und wenn's doch nit langte?«

»Wenn's nit langte?«

»So müßtest du warten, Vef!«

»Meint Ihr? … Herr?«

Stille.

Er findet kein Wort und keinen Mut. Sie steht jetzt vor ihm Brust vor Brust. His hält ihre Arme mit beiden Händen gefaßt, sein Blut braust, aber es hat seinen Kopf noch nicht erstürmt; sein Hirn ist noch zu klar. Er sieht die Folgen der leisesten Bewegung mit schmerzender Deutlichkeit. Und während es durch seine Adern wie eine Befreierschar an die Tore seines Schädels rennt, rechnet sein Hirn, erwägt, welche Schmach über das Mädchen komme, er grübelt, rechnet, sinnt und … verachtet sich aus tiefster Seele. Plötzlich stolpert er. Genovef hat ihre Arme weggezogen und ist von ihm getreten.

»Es ist spät«, sagt sie und schreitet schnell hinab.

Sie kommen vors Tor und wünschen einander Gutnacht. Genovefs Gesicht ist blaß, demütig und ohne Regung. Ein wildes Leid packt ihn, sinnlos und liebenswütig; er will sie halten, von der Schwelle reißen, er sieht ihren Mund. Und wieder spürt er den Todes- und Lebensengel – nur eine einzige huschende Sekunde – ein letztes übermenschliches Glück, in das man sich hineinstürzen muß, ohne Algebra, mit ganzer Kraft!

Sie hat die Tür schon geöffnet.

Er fürchtet den Vater zu wecken.

Jetzt knirscht der Riegel im Holz.

Er rennt, rennt die Straße zurück; es schlägt erst neun. Der Mond steht eine riesige Scheibe am hellgrünen Himmel, umkreist von einem mächtigen Hof. Jenseits des weißen Walles treiben Wolkenreste wie Eisschollen in einem Strom gegen die schwarzrandigen Ufer der Berge. Auf der offenen Straße wirft His mitten im Lauf die Arme auseinander und stößt einen schmetternden Schrei aus. Zu dem nächtig strahlenden Himmel wirft er die Arme empor und ruft dreimal aus berstender, harter, weitgeöffneter Kehle: Volo! Volo! Volo!


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