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Die Maschinen rattern ihren fehlerlosen Takt. Marie sitzt in der schmalen Seitenhalle und steppt. Auf jede Frage hat sie geantwortet: Es geht besser! Aber rot wie ein Hahnkamm ist sie vor Zorn und Abwehr gegen die Lüge.
Durch die breiten Fenster des Werkraums glänzt ein sonniger Tag. Sie sitzen, wie Frösche in einem Aquarium, hinter dem mächtigen Glas. Frei sind draußen die Bäume, die wie vornehme Passanten in einem zoologischen Garten die seltsamen zappelnden Geschöpfe hinter den Scheiben betrachten. Dies tempoartige Herumdrehen des Schuhes beim Steppen, was ist es anders als das ruckartige Mückenfangen der Frösche im Gehäus! Nahrungshaschen!
Marie spannt die Brust! Sie möchte die Scheibe, die sie von Luft und Freiheit trennt, mit einem Faustschlag zertrümmern! Weshalb tut sie es nicht? Wer hindert sie? Sie wagt nicht einmal ins Kontor zu treten und bei Herrn Hunschringer sich melden zu lassen. Sie steht schon in der Lohnabteilung, doch da überfällt sie's plötzlich: Wie … wenn er schon die Blutspenderin hätte? Er hat sie! – »Ich biete tausend Mark, und morgen mittag stehen zwanzig Frauen in Kolonne!«
Sie muß aufspringen und Atem holen. Sie muß schreien, es dauert gar nicht mehr lang, dann muß sie schreien wie ein Tier, das man in einer Tonne ersticken will! Der Ekel steht ihr am Hals! Es geht nicht mehr, die Tretmühle, das Pfennigschuften, das Einszweidrei! Schon schauen die Kameradinnen: »Was ist dir?«
»Dreck ist mir!«
Sie rennt aus dem Saal … fort! Fort! In den Fluß! Vor den Zug! Nur ein Ende! Ein Ende!
»Hallo! So wild!«
Direktor Hunschringer prallt von dem Lauf des Weibes unter der Ausgangstür eine Stufe zurück; »Sie arbeiten wieder?«
Sie schaut ihn mit glühendem Antlitz an.
»Sie arbeiten wieder?«
»Ich muß.«
*
Marie steht im Privatkontor nahe der Tür.
Der Direktor schaut durchs Fenster. Der Anprall war zu plötzlich. Sie müssen erst Atem gewinnen. Auch der Direktor zittert, ist außer Form. Er verschränkt die Hände.
Er wendet sich: »Nehmen Sie Platz, Frau Nädele! Sie haben Glück! Es kamen da einige Freiwillige: Kellerpflanzen, Graugesichter, Wasserleichen! Na also, die Agglutination taugte nichts. Der Medizinalrat tobte: Unbrauchbar alle! Jetzt sage ich: zum Glück!« – Er hielt inne und holt Luft. »Bitte, nehmen Sie doch Platz! Nun sind Sie da, das ist ein anderer Fall, eine freudigere Sache! Ich bin wirklich erbaut, Sie zu sehen! Welche Überraschung auch für meine arme Frau! Sie sind ein senkrechter gesunder Mensch, es wird Sie nicht reuen!« Er gibt ihr fast gerührt die Hand.
»Das beste ist, wir fahren gleich zu unserer Kranken,« meint der Direktor offenbar erleichtert, »nicht wahr, Frau … nun sagen Sie mir auch Ihren Vornamen … sehr schön, also Frau Marie! Einen Augenblick, Sie gestatten!« Er greift zum Telephon und ruft den Wagen.
Marie steht wie im Traum. Bricht auf einmal das Glück herein? Kommt der Segen wie eine Lawine? Sie ballt in jubelnder Kraft die Fäuste, spannt die Brust und schaut durch das Fenster in den lichtgleißenden Himmel.
Der Wagen fährt vor.
»Haben Sie nichts … ich meine … einen Mantel?«
»Ein Kopftuch! Im Saal!«
»Lassen Sie! So etwas finden wir schon und noch anderes!« Er lächelt und freut sich förmlich, das einfache Weib durch besondere Höflichkeit zu verwöhnen und zu entschädigen.
Sie legt sich in die Polster zurück.
Endlich beginnt das Leben, das wahre Leben! Der Aufstieg! Die Freiheit! Die Not hat jetzt ein Ende, das Pfennigfuchsen, Rechnen, Hungerleiden, Im-Dreckschurz-Dastehn! Wo ist sie in ihren Gedanken? Ja, auch Dionys soll es nicht schlecht haben: er wird Gärtner in der Villa draußen … oder Chauffeur … das Glück ist auf dem Weg!
Der Direktor neben ihr hat stillgesessen, mit seinen Gedanken beschäftigt, mit seinen Gedanken kämpfend. Auch er spürt etwas Neues, Ungewohntes, Mächtiges, das in seiner Nähe.
Der Wagen hält. Sie sind einen Hügel hinaufgefahren, durch ein Tor. Der Pförtner steht, die Mütze gezogen, vor der breiten Treppe.
Marie tritt mit völliger Sicherheit in die große Diele, folgt Hunschringer über die schweren Läufer und Matten in einen kleinen Salon. Er verschwindet, seiner Frau zu melden.
Marie sitzt auf einem mit grauer Seide bezogenen Rokokostuhl, rings stehen Spiegelschränke mit seltsamen Sächlein, ovale Bilder hängen an grauseidenen Wänden. Eine hohe, ganz gefensterte Flügeltür führt auf eine Estrade und schaut auf den sonneschimmernden Park. Marie spürt keinen Hauch von Scheu oder Fremdheit. Hier ist sie zu Haus.
Hunschringer kommt und bittet zu folgen. Sie schreiten durch viele Gänge, in denen hohe Spiegel und alte Bilder hängen; immer wieder geräuschlos über die schweren Läufer.
»Möchten Sie sich ein wenig erfrischen, Marie?«
Sie lacht unbändig, ohne zu wissen, was er will.
»Da ist ein Zimmer … hier Kamm, Spiegel, Seife!«
Sonne strahlt in den lichten Raum. Ein Blick über die ganze Ebene. Drinnen ein Bett aus hellem Ahorn, mit seidenen Decken, ein hoher eingelassener Spiegelschrank, in einem nischenartigen Nebengelaß ein gekacheltes Bad mit Waschmuschel und Toilettengerät auf Glasborden. Marie staunt, tut einen Schritt, staunt. Doch schnell beherrscht sie die Lage. Das Haar ist gestrählt, das Gesicht erfrischt, das Kleid gestrafft. Sie reckt die Arme und möchte jauchzen. Sie fühlt, wie gesund und stark sie ist. Soll die Welt nicht den Starken gehören?
»Sprechen Sie stets leise, Marie! Lautes Sprechen erregt meine Frau!«
Sie stehen in dem Vorzimmer zum Krankenraum. Es ist halb abgeblendet. An einer kleinen elektrischen Kochplatte sitzt eine Pflegerin, röstet Toast und siedet Tee. Eisbeutel sind dort, ausgepreßte Zitronen, es riecht nach Eukalyptus und Kampfer.
»Kommen Sie!«
Sie treten auf Zehenspitzen in einen hohen, durch gelbe Gardinen ganz abgeblendeten Raum. Ein schwerer Teppich fängt ihre Schritte. Von der mittleren Wand ins Zimmer hinein steht ein Katafalk von Bett, Stufen führen hinan, ein viereckiger gelber Himmel schattet darüber. Auf diesem Turm von edlem, goldhellgelacktem Holz, Daunenkissen, resedenen Seidenplumeaus liegt die Kranke! Aufgebahrt! Sie hat einen flachshaarigen, nordischen Langschädel mit sehr blasser, farbloser Haut und forschenden, hilfesuchenden, graublauen Augen. Der Blick ist angespannt der Tür zugewandt.
»Da sind Sie! Da sind Sie!« sagt sie leise, als habe sie Marie lange erwartet.
»Ja, da ist Marie!« bestätigt der Direktor.
»Sie wollen mir helfen?« flüstert die Kranke und macht einen vergeblichen Versuch, sich aufzurichten.
»Gehen Sie doch heran! Sie will Sie begrüßen!« drängt Hunschringer Marie zum Bett.
»Sie wollen mir helfen?« fragt dieser Hauch von Mensch noch einmal und hat plötzlich des Weibes schwere Hand gefaßt.
Marie sieht in dem Halbdunkel das schöne, leidende, verlangende, lebenshungrige Gesicht der Frau; ein anderes Gesicht taucht gleich daneben auf, ein Männerantlitz im Krankenbett mit gleichen hellen, feinen Haarsträhnen: Dionys. Dionys! Auch ihm wird sie helfen, der Frau, dem reichen Mann neben ihr, allen! Macht und Erfolg machen gut, Armut und Not machen schlecht!
»Gern! Gern will ich Ihnen helfen!« antwortet sie ruhig.
»Gern?« Die Kranke klammert sich an diese Hand, sie spürt die widerspruchslose, zielströmige Macht.
»Die Läden müssen auf, die Gardinen zur Seit!« Wer gab der Fabriklerin diese Keckheit.
»Das ist verboten!« belehrt Hunschringer.
»Laß sie! Sie wird es tun!« entscheidet schon fanatisch die Kranke. Sie will sich dem Fenster zuwenden, stöhnt aber vor Schmerz und Schwäche.
Hunschringer ruft die Pflegerin.
Doch schon hat Marie die Frau unterfaßt – wer lehrt sie das? wer gibt ihr diese Sicherheit? – und hebt sie zart und federleicht empor. Und während sie die schwache, zerbrechliche Kreatur hochhält, zieht sie das schon durchsichtige Leben, dünn wie Seidenpapier, an ihre Brust, überrieselt es mit Strömen der Wonne, überwölkt es mit Wärme, spornt es mit pochendem Blut. Mit diesem winzigen Augenblick, mit diesem einzigen Griff, diesem Stallhilfgriff – gebraucht bei sonst in Stroh und Geburtsweh sich windender Kreatur – hat Marie Besitz ergriffen von dieser in Seide gehüllten hilflosen Frau.
Die Fenster sind geöffnet. Warme Sonnenluft strömt ein.
»Seht ihr! Seht ihr!« strahlt die Leidende. »Dieser gesunde Sinn, dieser gute Trieb!« Sie hält Maries Arbeitshand mit ihren porzellanweißen Fingern krampfhaft gefaßt.
Auch Hunschringer geht umher und strahlt.
»Hab ich Wort gehalten, Emely?« spricht er. »Ist sie nicht ein Niagara von Energien?«
»Sind Sie hungrig?« fragt die Kranke, ohne den Mann zu beachten.
»Nein!« lacht Marie.
»Doch! Gewiß!« Sie klingelt und befiehlt der Pflegerin: »Eier! Ein Frühstück! – Sie sind müde?«
»Nein.«
»Wann standen Sie auf?«
»Um fünf.«
»Früh?«
Marie lacht und wird blutrot.
»Denkst du, Schatz, sie stehen zum Fünfuhrtee auf oder zum Theater?«
Auch Hunschringer ist mächtig belustigt.
»Aber beginnt die … Fabrik schon … um fünf?«
»Kind!« Das ist fast peinlich.
»Laß mich!« wehrt sie dem Mann. Ist es möglich, daß sie nie darüber nachgedacht über die Menschen, die tagaus und tagein an ihrem Fenster vorbeiliefen? Doch jetzt beschäftigt sie das mit einem Schlag und mit ganzer Macht.
»Was arbeiten Sie … dort?«
»Ich steppe.«
»Gibt das Kraft und Blut?«
»Manchem … manchem nicht.«
Plötzlich fragt die Kranke mit einem Gedankensprung: »Haben Sie Kinder?«
»Eins.«
»Nur eines?«
»Von früher.« Marie ist wie mit Purpur übergossen.
»Es lebt nicht mehr?«
»Doch! Es ist nit vom jetzigen Mann.«
»Der erste war ein Kerl! Unehelich!«
Schweigen.
»Wir haben gar keins«, sagt jetzt die Kranke.
Nun kommt das Frühstück. Marie muß essen. Die Kranke will es. Soviel ist schon zwischen ihnen geschehen. Sie ist der Fabriklerin in den wenigen Minuten nähergekommen wie mancher Freundin in jahrelangem Verkehr. Auch Marie ist still und nachdenklich. Sie ist jetzt die Gehorchende. Die kranke Dame gießt ihr duftenden Kakao ein, streicht ihr schlanke, noch lohwarme Brötchen mit feinen Butterrosetten, legt hier Lachs, da Salami, dort geräucherten Schinken darauf. Sie rückt ihr wortlos den Eibecher zu, Salz, den kleinen Perlmutterlöffel. Und Marie nimmt halb in Gedanken, aber mit Ruhe und Anstand, als sei sie es nie anders gewohnt.
Jetzt tritt der Direktor vom Balkon wieder ins Zimmer. »Ich werde den Medizinalrat anrufen.«
»Heute nicht!« entscheidet die Kranke.
»Je schneller …«
»Nicht schneller! Still! Du wirst mir alles verderben! Laßt mir die Henkerszeit!«
»Henkerszeit?!«
»Ja, was dann kommt, ist Wissenschaft, Manöver, Technik. Jetzt aber, das sind die nur uns beiden gehörigen Minuten zwischen Blut und Blut! Was wollen Sie mir alles geben, Marie? Haben Sie's auch reiflich bedacht? Weshalb wollen Sie es tun? Ihr Blut in meines fließen lassen! Unsere Herzen sind plötzlich durch einen Lebensstrom verbunden wie Mutter und Kind! Wer ist das Kind? Wer erbt? Weshalb geben Sie mir Ihr Blut? Unmöglich um Geld?«
»Ist es nicht Menschenpflicht, dem andern zu helfen, wenn man kann!« baut der Mann schnell die Brücke.
»Ist es so?« fragt die Kranke und hängt an Maries Mund. »Ist es so? Tun Sie es aus Christenpflicht? Ist es so?«
»Ja!« bringt Marie grad heraus.
»Es ist gut … jetzt bleiben Sie bei mir!«
»Das heißt, sie hat noch einen kranken Mann zu Hause, Emely!« versetzt Hunschringer.
»Und der läßt Sie gehen?«
»Wir brauchen Geld.«
»Geld? Ja so!« Die Kranke faltet die Stirn. »Doch nicht Geld für …«
»Nein! Nein!« fährt der Direktor dazwischen. »Was quälst du dich unnütz? Sie kann es durch ihrer Hände Arbeit verdienen! Was sie dir tut, ist freiwillig, steht auf einem ganz andern Blatt!«
»Sie Gute! Beste!« Die Kranke zieht plötzlich überwältigt Maries Hände zu sich und preßt ihre weißen Lippen darauf.
*
Man hat sich geeinigt, daß Frau Emely sich zwei Tage an ihre Blutschwester gewöhnen soll.
Abends nach Fabrikschluß wird Marie zu ihrem kranken Mann mit Hunschringers Wagen bis in die Nähe des Hauses zurückgefahren und morgens ebenso abgeholt. Dionys erfährt vorerst von all dem nichts. Morgen mittag soll Marie mit Herrn Hunschringer zur Stadt zur zweiten Blutentnahme. Fällt die Gerinnung gut aus, wie zu erhoffen, so wird am dritten Tag die erste Übertragung durch den Arzt vorgenommen.
Dies ist der Plan.
Marie verbringt den Tag bei der Kranken. Frau Emely ist frisch und lebhaft wie nie, sie ist dankbar wie ein Kind, fragt alles Tausendste aus dieser unbekannten Wunderwelt der Pfennig um Pfennig werkenden Fabriklerin, hört staunend, wie dieses Weib in der dunklen Morgenkälte hinaus muß, vorkochen noch, dann bei jedem Wetter den Weg zur Bahn, in den Arbeitssaal: acht, neun, zehn Stunden gesteppt, wieder den weiten Weg heim, und jetzt wartet erst das Haus, die Wirtschaft, das Vieh, das Essenbereiten, Feldumschoren, Jäten, Grasen, Melken, Waschen, Nähen! Schaffen, pausenloses Händewerk von Dunkelheit zu Dunkelheit!
Rührung packt die Kranke. Was kann sie tun? Geld geben, ach, das ist gemein! Das verdirbt die Menschen! Das macht nur gierig! Plötzlich zieht sie einen herrlichen Smaragd von ihrer Linken und will ihn an Maries Finger stecken. Doch lächelnd läßt sie sogleich das Bemühen. Sie gebietet, aus einem Schrank eine Schatulle zu holen: Ein Gewirr von goldenen Ketten, Anhängern, Ringen, kostbaren Steinen. Jetzt steckt ein großer Rubin, von sechs flachgeschliffenen Diamanten gestützt, an Maries Hand.
Bald heulen die Sirenen.
Werkschluß.
Marie schreitet wieder langsam durch die Gänge. Der Direktor hilft ihr in ihrem Zimmer in einen dunkelblauen Mantel, mit schwerem Pelzwerk gefüttert. Sie läßt es geschehen, geht hinab, tritt in den Wagen. Der Chauffeur grüßt, der Direktor verneigt sich, der Wagen fährt.
Noch sitzt sie da, reglos, gelangweilt, eine Dame. Sie saust an den Arbeitertrupps vorbei, an ihren Kolleginnen, die schleunigst vor dem Direktorswagen zur Seite springen … hei, da erwacht sie, braust es über sie, schleudert sie die Rolle, die sie gespielt hat, ab … barbarischer Triumph! Sieg!
Sie schlägt den Mantel auf, mit Biber gefüttert und breitem Opossum besetzt. Was ist das? Sie zieht aus der Tasche einen Brief! Wie? An sie? Sie reißt ihn auf: »Anliegende dreihundert Mark als vorläufige Entschädigung für Lohnausfall und für häusliche Zwecke!«
Dreihundert Mark? Der Lohn eines Vierteljahrs!
Doch »Lohnausfall«? Wer schleudert ihr dies Wort ins Gesicht? Lohnausfall!
Wütend knüllt sie die Scheine, doch erfaßt sie noch rechtzeitig: die Hypothekenschuld … das Vertiko … Tonys!