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His liegt auf seinem Lager, ausgestreckt. Das Fenster steht offen. Die Abendluft schlägt in kühlen Wellen zu ihm hinein. Die Bergkämme zacken in schwarzer Bläue aus dem vergilbenden, goldenen Himmel. Die Welt da drunten zirpt wie eine große Grille aus der Tiefe herauf. Ein Zugpfiff, kaum hörbar, verhallt in den Schluchten des Landes.
Grabesstille.
His liegt ausgestreckt auf seinem Lager, schwerelos. Alles ist wie ein Traum, unfaßbar und doch da: das schöne, reiche, junge Weib, das sich vor ihm geöffnet und aufgesprungen wie eine Muschel, die ins Meer geschleudert, diese kluge, unnahbare Frau, die ihre Fabriken mit der Zielkraft eines Mannes leitet, an deren Weisungen die Direktoren kein Jota zu ändern brauchen, sie hat vor ihm, dem Federfuchser und Habenichts, sich verloren, überwältigt von der einen Macht.
Zwei Wochen erst sind vergangen.
Damals hatte er bei allen Bekannten straßauf und straßab um das Darlehen für Dionys und Marie angeklopft. Aber alle – ob Bankdirektor oder Professor – sahen ihn erstaunt ob dieser Zumutung an: »Darlehen für wildfremde Menschen?«
»Aber sie sind, auf mein Wort, in Not!«
Er läuft durch die alten Gassen. Semesterferien. Kein Studiker da, der ihm raten kann. Und doch, geholfen werden muß!
Marie wartet!
Genovef wartet!
Er ist ganz außer sich, verzweifelt, er rennt die steile, gekrümmte Gasse zur Brücke. Spürten denn diese Menschen gar nicht, was not tat, was um sie vorging? Wie sagte doch der Meister: Nach dem Abendrot wißt ihr das Wetter zu deuten; aber die Zeichen dieser Zeit deutet ihr nicht!
»Wohin, Langer?« ruft eine Stimme.
Er wendet sich und sieht Ille.
His und Ille Haerlin sind alte Bekannte aus seinem Heimatort. Sie hält in dem Universitätsstädtchen Gymnastikkurse. Sie ist schlank, jungenhaft, trägt ein dunkelrotes, weites, gegürtetes Gewand, und die flachsblonden Haare über dem etwas scheuen, frischen Gesicht in Nackenhöhe geschnitten. Sie hat ihn bei den Armen gefaßt und schaut erstaunt:
»Wie? Du fängst das Semester schon an, Langer?«
»Nein«, knurrt His.
»Du siehst schlecht aus! Hast auch in Fabriken geschafft?«
»Ja.«
»Macht das so mürrisch?«
»Bin heut nichts wert.«
»Wohin gehst du?«
»Weiß nicht.«
»Langer, das ist man von dir doch nicht gewohnt, so ein Sauerkrautgesicht! Komm!«
Sie sitzen auf Illes Bude, die zwei alten Spielkameraden, auf Strohmatten und Kissen, vor einem Petroleumöfchen. Auch in diese hochgelegene Klause schauen nur der Himmel und die fernen Gipfel. Der späte Märztag zwielichtet hinein. Doch eine freie leichte Luft erfüllt den Raum.
Ille bringt heißen Kakao in bunten Tassen und Reste von süßem Gebäck.
»Trink, Langer, greif zu! Ist lang her, daß du bei mir warst!«
Sie hat sich auf ein Kissen zur Erde gesetzt, Geschirr und Speise stehen auf der Matte. His schlürft den Kakao und kostet den warmen Frieden dieser Hausung. Nach dem widrigen Rennen der letzten Tage ruht er wortlos.
»Herrje, Langer,« beginnt jetzt Ille, »du hast ja Hände bekommen wie ein Schmied, richtige Greifzangen von Händen!«
»Ja, ja … das ist so!« grinst His und rennt in seinen Gedanken immer noch treppauf und treppab nach dem Geld.
»Nun komm aber zu dir! Schaust ja drein wie ein gerupftes Hähnlein und hast für die Handarbeit doch geschwärmt!«
»Geschwärmt?« His lacht wild auf. »Geschwärmt … bravo, Ille!« Da schaut er in ihre erschrockenen, hellen Kinderaugen. »Nimm's nicht krumm, Ille! Hab Geduld! Ist nicht so einfach … Du mußt das verstehen!« Und nun, nach einem Schweigen, beginnt er zu erzählen, langsam, zögernd, sich entlastend. Er sagt nicht alles, doch sehr viel; er spricht zu einem alten Kameraden.
Wie er geendet, fragt Ille: »Du hast viel erlebt, Langer! Das ist nicht unnütz für deinen Beruf!«
»Man muß das Volk aus der Nähe kennenlernen.«
»Und dann?«
»Und dann … ich denke, du als Volkswirtschaftler kennst dann seine Bedürfnisse besser.«
»Und dann?«
»Wie meinst du das?« Die klaren Kinderaugen des Mädchens schauen angestrengt und erstaunt auf His.
»Wie ich das meine, Ille? Gut, hör einmal her: Es gibt in unseren großen Städten, wie du weißt, Sporthallen, wo man auf dem Trockenen Rudersport treiben kann. Man sitzt in einem Boot, rechts und links ist lockeres Sägemehl hingestreut, und nun geht's los: zock, zock … ho, ho! Die Sitze rollen, das Sägemehl schäumt, das Boot bewegt sich auf den Schienen, vor … zurück, vor … zurück, so kann man das Rudern lernen! Doch wenn man diese Griffe und Technik des Ruderns kennt, kennt man das Rudern dann wirklich, wenn nie die Riemen im strömenden Wasser trauften, wenn man nicht einmal wenigstens kieloben in den Wellen trieb?«
»Nun und?«
»Nun und … wir kennen den größten Teil unseres Volkes nur so aus dem Trockenen, nicht aus der Gefahr; wir sind nie mit ihm in seiner Not umgeschlagen und kieloben getrieben.«
»Mag sein!« wirft Ille hin und spürt den alten Span. »Der Arbeiter hat seine Not, und wir haben die unsere!«
»Um was leidest du Not, Ille?«
»Um meine Arbeit, wenn du das begreifst, um die Aufgabe, an die ich glaube! Ja, ich wage das zu sagen: ich und meine Schüler, hundertmal am Tage zweifeln wir an dieser Aufgabe, quälen uns, fragen uns, stellen uns selbst in Frage und leiden so unsere – wenn auch andere – Not!«
»Ist einer deiner Schüler schon an dieser Not … gestorben?«
»Nein!« Ihr Auge zuckt Zorn jetzt und Kampflust. »Doch du, Langer, bist an der Not deiner Freunde … gestorben?«
His springt auf: »Weiß Gott, wir schwatzen! Du hast recht! Hilft keiner dieser Pfeffersäcke hier, so will ich meinen guten Anzug und meine Bücher versetzen und mit diesem Bettelgeld doch bei ihnen sein!«
»Halt, Langer!«
»Laß mich!«
»Hitzkopf!« Sie hat ihn bubenhaft gefaßt und umklammert den Kamerad Brust an Brust. »Du willst deinen Arbeiterfreunden helfen … brauchst Geld … wieviel?«
»Dreihundert.«
»Siehst du,« ruft sie jetzt triumphierend und strahlt ganz, »soviel schlägst du nie und nimmer aus deiner Habseligkeit, du Unbedacht! Hör, ich will dir helfen, das ganze Geld soll herbei, doch unter einer Bedingung: daß du Knochengeripp drei Tage dich ausruhst!«
»Unmöglich!«
»Langer!«
»Inzwischen zapft man ihr Blut!«
»Das Geld geht morgen ab!«
»Ich bring es!«
»Du bleibst!« Sie schaut ihn mit festen, fast zornigen Augen an, wie ein Lehrer seinen Schüler.
»Gouvernante!« lacht er entwaffnet.
Lucia ist Illes Schülerin. Sie freut sich, Ille und ihren Freund am Abend bei sich zu sehen. Es seien noch ein paar Gäste da, doch ließe sich das Anliegen gewiß schnell erledigen. Sie werde ihnen den Wagen schicken.
Gegen acht Uhr halten sie vor dem auswärts gelegenen Landhaus. Sie steigen die breiten Treppen hinauf, treten über die schweren Kokosmatten und stehen schließlich in einem kleinen wohnlichen Raum, dem Lesezimmer der Frau.
His empfindet zugleich Behagen und Unwillen, Freude und Gram. Die strengen Formen der hellen, schmalen, wachsgebeizten Ulmenbücherschränke, die die Wände nur gleichsam bekleiden, tun ihm wohl; die wenigen Wandbänke, der lange schmale Arbeitstisch mit den bäurisch gekreuzten Beinen. Dann aber weist die Holztäfelung und Kassettierung der Decke auf erlesenen Luxus, und auf dem herben Tisch stemmt sich – altes japanisches Schnitzwerk – ein Petschaft aus einem mächtigen elfenbeinernen Elefanten.
Lucia tritt in weißem Samtkleid ein, die Ärmel lang und eng, das Gewand ohne jeden Schmuck. Sie begrüßt Ille mit schnellem Schritt und wendet sich zugleich zu His, freundlich und sicher: »Sind Sie bereit, mir hier Ihre Wünsche zu nennen?«
His steht völlig hilflos zwischen den beiden Frauen, wie ein Junge, der zum erstenmal bei einer Feier ein Gedicht aufsagen soll.
Ille erklärt den Fall.
Nun denkt Lucia nach, nur eine Sekunde: »Es handelt sich also um ein Darlehen für eine Ihnen nahestehende, bedürftige Familie? Gerne …«
»Bedürftig ist diese Familie kaum zu nennen«, unterbricht His. »Sie ist in dem Augenblick sogar wohlhabend, in dem sie ihre Hand zu dem Verbrechen bietet.«
»Verbrechen?«
»Ich finde kein anderes Wort für diesen Handel!«
»Wer zwingt sie dazu? Man tut es kaum ohne Entschädigung!«
»Geld!« zürnt His.
»Geld! Sie selbst fordern es; seien wir ehrlich: weshalb fordern Sie, was Sie verachten?«
»Diesen Bluthandel zu verhüten!«
»Also … Geld gegen Geld?«
»Nein!« flammt His und hat die Türe in der Hand, »Blut gegen Blut, wenn man will!«
Doch schneller, wie er hinaus ist, hat Ille die Tür zugedrückt und hält ihn drinnen: »Bist du toll, Langer? Bist du besessen!«
»Lassen Sie ihn!« spricht Lucia und tritt langsam auf His zu: »Bestimmen Sie bitte den Empfänger der Summe, rufen Sie mich morgen nochmals an und vergessen Sie Ihre streitbare Wirtin!«
*
Man speist bei Kerzen in einer Rotunde mit breiten tiefen Fenstern. Die Nacht schaut mit Sternengeflimmer in den Saal, doch die Kerzen blenden.
His denkt an die Bäume und Tiere, die draußen längst schon ruhen, er denkt an ein Dorf und Haus, das in schwerem Schlummer von vielfachem Menschenatem und Kindergestöhn brodelt … und ein Zorn und Überdruß überfällt ihn über diese zur Schlafenszeit noch geistspritzenden, schwatzenden, müßigen Menschen, diese glitzernden Kristalle, diese Orchideen in den hohen Gläsern, diese vielfältigen Gaumenkitzel von Hors d'œuvres, Pasteten und Leckereien. Er haut in die Speisen ein, als gelte es ein Lastauto Lederballen abzuladen, wütend, hitzig, schnaubend, selbstvergessen.
Ihm gegenüber sitzt ein kleiner mausköpfiger, älterer Herr, ein höherer Jurist. Er hat His schon eine Weile belustigt zugeschaut und meint: »Herr Kandidat, die Handarbeit muß eine ganz gesunde Ausspannung sein!«
»Und ob sie das ist!« wirft ein rundlicher Bankdirektor ein, der aussieht wie Nero in einem Monumentalfilm. »Ob sie das ist! Unsereins würde liebend gern statt der ewigen Balance auf hohem Drahtseil seine acht Stunden bloß hämmern und schaufeln, essen, schlafen und nicht seinen Kopf mit Zahlen traktieren! Eine blendende Kur!«
»Und die Löhne steigen!« ruft wütend ein Koloß von Trikotfabrikant, als sei man ihm leichtfertig auf ein Hühnerauge getreten.
»Aber, meine Herren, haben wir kein anderes Thema?« verweist jetzt Lucia.
»Ein anderes Thema, Gnädigste? Das ist das wichtigste Thema, das es auf Gottes Welt gibt, das über die nächsten Jahrzehnte geradezu entscheidende Thema! Die Löhne steigen! Und wer treibt sie?«
»Die Habgier und Verblendung der Menschen!« stößt His hervor.
»Richtig, junger Mann!« bläst der rote Gigant jetzt herüber. »Richtig, die Verhetzung und Verblendung der Arbeiter! Immer neue Ansprüche, immer neue Fähnchen, Seidenstrümpfe, Stöckelschuhe … Folge: Lohnerhöhung! Arbeiterferien, Ausflüge, Biergelage, Laubenfeste … Folge: Lohnerhöhung! Wer schickt jetzt seine Kinder auf das Gymnasium und in die Kinos? Der Arbeiter! Folge: Lohnerhöhung! Letzthin kommt ein Volksgenosse in mein Kontor und bittet um Vorschuß. Vorschuß, meine Herrschaften, für Miete, für Holz, für Mehl? Sie haben eine Ahnung! Der Herr will Vorschuß für ein … Klavier! Sein Mädel sei eine Begabung, ein Phänomen auf dem … Klavier!« Der Trikotmann schaut sich blaurot und triumphierend ob dieser Pointe im Kreise um.
»Und Sie haben dem glücklichen Vater doch hoffentlich den Vorschuß gegeben?« fragt mit komischem Ernst der kleine Jurist.
»Und ob ich's ihm gegeben habe!« donnert der Gigant. »Saftig, sag ich Ihnen! Vorschuß … für ein Klavier, ist so was schon seit Noahs und Nepomuks Zeiten dagewesen?«
Man lacht, schenkt ein und will zu einem neuen Thema übergehen, da fragt eine Stimme: »Herr Direktor, spielt Ihre Tochter nicht Klavier?«
Schweigen.
»Nochmal!« befiehlt der Trikotdynast.
»Ich fragte, ob Ihre Tochter nicht Klavier spielt?«
»Was fragten Sie, junger Mann?« knurrt der Gigant befriedigt und noch immer gutgelaunt. Doch plötzlich dämmert's ihm, er wechselt die Farbe wie kochendes Blaukraut: »Was fragten Sie, Herr!«
»Glauben Sie nicht,« spricht His sehr ruhig, »daß nach gewissen Gesetzen eine begabte Arbeiterin …«
»Faul!« fällt der Banknero jetzt ein, »oberfaul! Ist ein Löwe eine Maus, ist eine Nachtigall ein Spatz?«
»Nein!« gibt His zurück, »eine Nachtigall ist ebensowenig ein Spatz, wie ein noch so bunter Pfauhahn eine Nachtigall ist!«
»Sind das Anzüglichkeiten, junger Mann!« braust der Klaviergeschichtenerzähler auf.
»Genug!« ruft Lucia, »ich dulde das nicht!«
»So dulden Sie, daß man Ihre Gäste beleidigt!« stemmt sich der Trikotmann hoch.
»Wo dies zu Unrecht geschah, werde ich bedauern!« erhebt sich auch His.
»Sie haben gar nichts zu bedauern, Sie Bursche! Ihre Redensarten sind mir zu dumm! Aber wir wissen, was hinter diesem unreifen Gehetze steckt: Ehrgeiz! Großmannssucht! Heilandsmanie! Sie schwatzen den Arbeitern von Freiheit und Menschenrechten, sie schwärmen für diese begabten Töchter des Volkes und werfen sich zu ihrem Anwalt auf … haha, wir wissen besser, worin diese Mädels begabt sind!«
»Lassen Sie mich hinaus!« stöhnt His zu Lucia, da auch die Damen entsetzt aufgestanden und die Herren den weintollen Trikotriesen umringen. »Lassen Sie mich!« drängt er fassungslos zur Tür.
»Er kneift!« schreit jetzt der Gigant. »So kneifen sie alle! Erst putschen sie uns die Leute auf; dann, wenn es gilt, wenn's wirklich Blut und blaue Bohnen gilt, dann – juchhe – sind sie verduftet!«
In diesem Augenblick schnellt His herum, faßt blitzschnell das nächste Glas und schleudert es mit voller Wucht in des Fabrikanten Gesicht. Mit einem zweiten Ruck stürzt der Tisch, und His holt mit der Faust aus gegen den Koloß … da spürt er den Arm von zwei schmalen Händen umfesselt, ein kühler Schauder durchschießt ihn mitten im Feuer … jetzt rauscht es, braust um ihn wie siediger Schaum, ein roter Quell … Nacht …