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Todesnacht

.Dionys ist aus seinem Hause fortgegangen. Er hat den Tropf zu Bett gebracht, ihm eine ganze Hand Zuckersteine dagelassen und noch mit ihm gebetet. Dann zieht er die Tür hinter sich ins Schloß, legt den Schlüssel oben aufs Bord und einen kleinen Zettel dazu: Bin nach der Stadt und morgen zurück.

Die Straße zur Bahn wählt er. Sie ist menschenleer.

Kurz vor der Haltestelle biegt er in die Felder und schlägt wieder rückwärts einen großen Bogen um das ganze Dorf, durch die Wiesen, die Obstgärten, die Hänge und Weiden bis hinan zur Waldsteige und zum Westend der Markung.

Es ist die Stunde der Dämmerung. Die Blumen haben ihre Kelche geschlossen. Die Lerchen und Taglärmer sind verstummt, die Nachtvögel nicken noch im Dickicht.

Dionys ist es seltsam zumute. Nach den Wochen der Krankheit und Abzehrung hat der Entschluß sein Leben plötzlich emporgerüttelt, sein Blut in Fahrt gebracht. An dem einen Tag des Willens hat er Wochen an Kraft gewonnen. So schreitet er unbeschwert durch die Wiesen und atmet in tiefen Zügen die Luft. Und doch ist's nicht rote Gesundheit! Ein Ungewohntes, Neues, das ihm nicht gehört, das wie mit einem Zaubermantel ihn umschlingt, führt ihn davon! Etwas in seinem Gehirn hallt wie ein fernes Echo aus einer vergessenen Kluft, tagelang überhört vor des Hoppfuß' trillerndem Zungenspiel, doch jetzt wieder heraufdringend im Takt der Schritte mit dem eintönigen Klang eines Paukenschlags: Du sollst … und du sollst nicht, du sollst … und du sollst nicht!

Still da! Worte!

Er schreitet zu! Schon kommt das Geröll des Berges, ein kleiner Hügel mit vielen Mulden, von Heide und trockenen Gräsern bedeckt. Plötzlich sieht er am Boden ein Blinken, grad vor sich auf dem steinigen Grund. Er bückt sich, fühlt und hält eine Uhr in der Hand: eine große alte, silberne Uhr!

Er schaut sie an, zieht sie auf, schaut sie wieder an, sinnt ohne zu denken. Dann steckt er sie zu sich.

Es ist Zeit! Droben bei den vier Eichen wartet der Hoppfuß. Vorwärts! Mächtig schreitet er bergan. Jetzt flattern die Käuze und die kleinen Eulen durchs hohe Gestämm. Die Zweige knacken abseits des Wegs. Der Mond ist im Sinken. Wieder hält er … lauscht … folgt ihm einer … welche Wege sind das? Glut wallt in seinem Kopf, die Stirn tropft, das Haar beginnt über seinen Augen zu kleben. Vorwärts! Was wird er Marie alles kaufen! Wie wird sie strahlen und ihm lohnen! Diese zwei Rollen Leder, was sind sie weiter als zwei Nummern im Lagerbuch! Fehlen sie nach ein paar Wochen, so wird gefragt, untersucht, der Posten gestrichen; nichts weiter.

Vorwärts!

Er rennt fast auf den Hoppfuß, der wie ein Troll hinter den vier Eichen hervorschießt.

»Dacht schon, es hätt dich reut!«

Dionys sieht ihn an.

»War die Marie daheim?«

»Nein.«

»Der Herr?«

»Nein.«

»Also!« faßt der Hoppfuß die Deichsel.

»Guck her!« zieht jetzt Dionys die Uhr. »Die han ich funden!«

Der Lahme nimmt sie in die Hand, dreht sie und bricht in ein wildes Lachen aus: »Funden … fein, Tonys, funden! Du machst dich!«

»Wie?«

»Die ist ja dem Herrn … die Uhr!«

»Wirklich!« staunt Dionys und nimmt sie schnell an sich.

Schweigend ziehen beide den Karren. Federnder, lautloser Waldpfad!

Da fragt der Hoppfuß: »Hast Riemen und Gurte?«

»Ja.«

»Und das … vom Militär?«

»Was?«

»Den Revolver!«

»Ach was!«

»Ach was … wenn's zu spät ist!« faucht der Lahme. »Wenn der Mungo Wind hat und schießt … soll dich das Luder abknallen wie 'nen Spatz?«

»Es passiert nix, Hopper!« sagt Dionys ganz laut. »Es kann nix passieren! Wir gehen im Bach unters Fenster, ich kenn jeden Stein, es kann nix passieren … so wahr wir's für Marie tun, für die Freud und das andere!«

»Wenn du das glaubst!« knurrt der Lahme.

Wieder gehen sie eine Strecke schweigend. Der Wagen läuft jetzt bergab. Der Wald lichtet sich. Der grünblaue Himmel schaut mit seinen funkelnden Lichtern durch die Astkreuze. Draußen neigt sich steil der Hang und schimmert das Tal. Doch noch sind sie im Dickicht wie in einem Versteck.

»An was soll man denn glauben,« fragt Dionys, »wenn man … den Weg geht?«

»Den Weg? Wenn ihr eure Hungerstricke durchbeißt!« steht der Hoppfuß mit einem Ruck, daß die Deichsel ihnen ins Kreuz fährt

»Ja, grad! Du hast mir's doch geklärt: es geht um Marie! Und daß wir zu unserm Leben kommen!«

»Also! Also! Doch wenn so ein blöder Wachthund auf dich schießt, dich faßt und ins Zuchthaus bringt, wo ist dann Marie und dein Leben!«

Dionys schweigt.

»Drum sollst auch an das andere glauben!«

»Wieder schießen?«

»Dich wehren!«

»Wenn jeder so dächt!«

»So gäb's weniger Elend!«

»Und Mord und Totschlag vorher!«

»Ist's Mord und Totschlag nit, wenn ihr kein Kinder mehr kriegen dürft, weil ihr sie nit verhalten könnt, wenn sie vor Hunger und Schwindsucht verrecken, weil die andern auf ihren Säcken sitzen! Der graue Tod ist grausamer und gefräßiger als der rote, ihr Mausköpf!«

»Mach zu!« bellt Dionys und packt die Deichsel.

Der Hoppfuß hängt sich hinten an als Bremsklotz; so geht's zu Tal. Schon rauscht der Bach. Sie kreuzen die Straße, nehmen den schmalen Richtpfad und halten am Bahndamm bei einem ausgedienten, abgeräderten Abteil vierter Klasse, fünfhundert Meter vor der Fabrik. Dorthin stellen sie den Wagen.

Der Lahme schlägt sich die Arme warm, nimmt einen Schluck, reicht Dionys und fragt mit einem halben Blick auf den dicken Baumwulst des Parks und mit einem andern auf den blassen schweißbedeckten Mann. »Nun?«

»Also!« sagt Dionys und reicht die Flasche zurück, die ihn widert.

»Überleg's noch!« zwinkert der Hoppfuß. »Noch ist's Zeit!«

»Hund!« blitzt ihn unerwartet der Mann an und schreitet auf den mächtigen Schatten voraus. Er schaut gerade auf das Kesselhaus und den Schornstein, die, schwärzer als der dunkle Himmel, aus der Nachtluft sich zeichnen. – Marie! denkt er; Marie! Und sein Kopf geht im Tempo seiner Schritte mit ihm durch: Wie soll das Kleine später heißen … einen feinen, zarten Namen soll es tragen: Edith oder Inge, vielleicht auch: Margot … auf seinem Krankenlager hat er mit größter Aufmerksamkeit die Geburtsanzeigen studiert.

Auf einmal kommt der Graben und die Straße vor dem Werk.

Sofort steht die Tat in gespenstischer Wirklichkeit da.

Jetzt krempeln sie ihre Hosen hoch und treten in den knietiefen zementierten Kanal, der – ein Abzweig vom Bach – durch das Werk hindurchfließt.

Dionys ist an dem Gitter und Blitzableiter zum ersten Stock emporgeklettert. Dort weiß er den Ventilator. Er greift hindurch, öffnet das Fenster und steht im seitlichen Nähsal.

Drunten auf dem Kanalrand kauert der Hoppfuß, späht und horcht.

Dionys reißt sich los und zwingt seinen Willen zum Gehorsam.

Er tritt vom Fenster leise in die leeren dunklen Säle. Er kennt jeden Platz, jede Bedienung, hier und da. Die Tische stehen leer, die Maschinen starr, die Werkzeuge liegen auf den Brettern. Es ist in den großen nächtlichen Räumen feierlich wie in einer Kirche. Dionys schreitet durch die Hallen wie ein großer geistlicher Herr durch die Basilika eines Bethauses, da keiner ihm folgen darf. Erst jetzt erfaßt er die Größe dieses Werkes, in dem tagsüber hunderte Herzen schlagen, tausend Hände sich mühen, abertausend Räder sich bewegen. Zur Stund' aber herrscht ein anderes Gesetz, ein jedem menschlichen Fleiß geradezu hohnlachendes Gesetz: das Gesetz der Untätigkeit und Schwere; der Wille der Nacht!

Dionys schreitet bis zur Tür, er drückt auf die Klinke, sie ist geschlossen. Er nimmt seinen Haken, schiebt ihn ins Schloß, die Feder gibt nach.

Ein Knall!?

Schlug die Tür?

Kracht ein Baum? Klirrt eine Axt?

Sprach wer … pfiff … Melchior du? Wie? Ist's Tag … lichthell steht der Saal, Schatten huschen, auf die Plätze … Genovef … Marie … der Herr … der Herr und Genovef … der ganze Saal voll Menschen … es zischt, knallt, rattert, saust! Laufen die Maschinen? Und er, Tonys, auf Diebespfad … von tausend Augen durchbohrt: Einbrecher Nädele, Vorarbeiter Nädele, der Musterknabe … wie sie lachen und zeigen: seht! seht! Er rennt zum Fenster, rotes Geflamm, grüne Kugeln, grell weiße Scheine! Rattern, Knattern, Knallen! Er rast zurück, ein Wild vor der Meute … da, da … ein Dunkel, eine Grube, der Schacht des Lifts! Hinab!

An den scharfen Drahtseilen rutscht er zur Tiefe. Keuchend ruht er auf dem kühlen Dach des Kastens. Sein Herz hämmert, seine Hände brennen zerfetzt. Welch ein Spuk! Wie ein Mörder hockt er da! Ist es das: der Kampf um sein Leben, für den Sinn dieser sinnlosen Welt, für Marie, die Freud' und das Kind! Ist die Welt Hölle, soll sie ihn haben!

Er schaut sich um.

Der Förderkasten hält im Keller. Gleich über ihm ist der Lagerraum; drin stehen die Rollen. Er leckt das Blut von seinen Händen und klimmt an den Seilen wieder hinauf. In der Höhe des Erdgeschosses hält er, klammert sich mit der blutenden Linken an die Drahtseile und schiebt mit der Rechten den Haken ins Schloß. Schweiß tropft von seiner Stirn, er schmeckt das Salz im Munde; die Feder gibt nach. – Schnell, schnell! Zwei große Rollen von hinten ans Fenster geschleppt, Fenster und Gitter geöffnet!

Knurrt da ein Hund, ächzt der Hoppfuß?

»Hopper?«

»Er kommt! Er kommt! Spring!«

»Achtung!«

»Fort!«

Der Lahme hopst in großen Sätzen davon.

Feigling! denkt Dionys. Es geht gar nicht um die zwei Rollen Leder, spricht er zu sich und läßt die erste wohlgezielt hinabfallen, daß sie auf den Kanalrand aufklatscht. Es geht hier um die Sach'! Ob wir recht han oder die andern, ob's gelingt oder ob's gegen uns schafft!

Er läßt die zweite Rolle hinab.

Jetzt schlägt der Hund an, kurz und wütend. Ein Schlüsselbund rasselt. Mungos heisere Stimme flucht.

Es ist Zeit! spürt Dionys, der blitzschnell hinabgesprungen und die Lederrollen geschultert. Der Hund fletscht heiß durch das hohe Gitter, schäumt daran empor und kann ihn fast schnappen; der Mungo rennt heran.

Sapperament! Das Zeug ist schwer! Ob's glückt? Ob ich's nit laß? Die Wucht schnell ins Böschungsgras roll und mich hineinduck … so machen's die Diebe!

Nein! reißt er sich zusammen und geht mit schnellen Schritten, doch ohne zu laufen, mit seinen zwei Lederrollen auf dem Kanalrand ins Dunkel: Das auf der Schulter, das gehört jetzt mir!

Plötzlich zerschneidet die Nacht ein Lichtkeil, der fest zuschreitende Mann wirft einen langen scharfen Schatten.

»Halt! Sofort halt!« gellt eine Stimme durchs Gitter und schnappt über vor Wut: »Sofort!«

Dionys sieht, wie die Kraft des Lichtes nur kurz noch reicht, wie sein Schatten mit dem rettenden Dunkel schon zu verschwimmen beginnt, er weiß, das hohe Gitter bannt den Wächter und den vor Gier nur noch jappenden Hund, er schreitet mächtig mit seiner Last auf der Schulter!

Knall!

Zwitschernd pfeift eine Kugel ins Leder, daß er den feinen Stoß spürt.

Knall!

Nun? Aufgepaßt! Wer stieß ihn? He, wer packt seine Brust … was brennt, kommt heiß und süß die Kehle herauf … er speit … unmöglich, jetzt, da er im Dunkel ist, gerettet, nur noch ein, zwei machtlose Flüche herüberschallen!

Nein! Es ist geglückt! Geglückt! Die Sache ist bei uns! Ruhig Blut! Nur zu! Nur zu!

Aber da muß er husten. Wieder der heiße, süße Saft im Mund.

Blut!

Wo nur der Hopper steckt, der Hund! Soll er absetzen? Unsinn: hier ist die Straße und da der Bahndamm … der Wagen … dort kann er verschnaufen und sich verbinden! Vorwärts! Vorwärts!

Die Straße liegt hinter ihm, vorsichtig stapft er über den Graben und tastet auf dem schmalen Feldweg. Das hohe Gras verbirgt die Spur. Er strauchelt. Auf einmal merkt er, daß er nicht mehr hochkommt, daß er in die Knie gesunken, daß seine Sehnen wie durchschnitten sind. Soll er abhauen? Wer weiß, ob er die Rollen wieder wuchtet, ob der Hopper wirklich am Bahndamm wartet, der Judas!

So kniet er und hält mit krampfhaften Händen die Last auf der Schulter. Der Schweiß rinnt ihm vom Haupt, auch an seiner Brust rinnt's herab, heißer als Schweiß, immer wieder speit er einen Mund voll roten Saft ins Gras.

Nit aufgeben jetzt!

Mit aller Kraft richtet er sich hoch. Doch wie er steht und den ersten Schritt tun will, brechen seine Knie, als schlüge man mit der Axt hinein.

Das Leder klatscht ins Gras.

Dionys liegt hingestreckt gegen den niederen Wegrand. Es geht also nit … denkt er und eine mächtige Müde schleicht über ihn. Ausruhen … ist ja noch früh in der Nacht … und fein ist's geglückt, großartig … etwas eher hätt er Feuer reißen müssen, der Mungo, dann hätt's geschnappt … überlegt er zufrieden und spürt doch den feinen heißen Quell in der Brust … aber getroffen hat er, der Heilandssakra! – Plötzlich durchfährt ihn ein Schreck: Was werden die Leut sagen, wenn ich mit dem Loch in der Brust dalieg … und die Marie? Sie ist nobel geworden, die Marie … und das Kind soll in ein sauberes Bett, in eine rechte Wirtschaft … und jetzt ist ihr Mann … ein Zuchthäusler!!

Er stützt sich auf die Arme und schaut nach oben, entsetzt, schreckensstarr, hilflos.

Ruhig blinken die Sterne. Ein warmer Lufthauch bewegt das Gras. Dort schwankt eine Blume kaum merklich an ihrem Schaft. Von fern, von dem dunklen Umriß der Bäume, tönt leise Musik. Kaum spürt der Mann, wie sein Blut rinnt.

Da steigt in der Richtung des Parks plötzlich ein stolzer schlanker Lichtstrahl hoch, ganz hoch, fast zum Himmelsscheitel, neigt sich in einem kurzen Bogen und schüttet mit einem leisen Knall eine Saat rieselnder Sterne und Leuchtkugeln durch das Dunkel zur Erde hinab.

Noch einmal schmeckt Dionys das heiße Blut im Munde: Es geht vorüber! denkt er und sinkt ins Gras. Niemand braucht's zu wissen … han im Feld Schlimmeres uns selbst verbunden … sollst's gut han, Marie … es ist ja geglückt … niemand braucht's zu wissen …


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