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Durchbruch

.Drei Tage, wie verabredet, haben Dionys und Marie auf His gewartet.

Sie warten den vierten Tag. Er kommt nicht.

Am fünften wittert der Hoppfuß hinein: »Wo bleibt der Zaster?«

Er weiß alles.

Am sechsten Abend stöhnt Dionys auf, schaut Marie an und meint: »Montag geht's ins Spital!«

Marie schwellen die Adern am Hals. Sie reckt sich, und weiß, was sie tut.

Es ist Samstagabend. Wochende. Nach langem Schnee und wasserspiegelnder Feuchte sieht man wieder braune Erde. Doch nur hier und dort. Der Nebel schleppt bei Tag noch über Acker und Wiese und hängt in festem, klammerndem Gefetz an den Bäumen. Undurchsichtige Schwermut. Keine Schwinge hat das Leben.

Da tönt Gesang!

Fernher noch! Aber als flögen rote, knallgeladene Raketen durch das Einerlei. Ein Lied! Ein Triumphgeheul! Eine Fanfare! Die Italiener machen Feierschicht. Die Carmagnole schmettert ihnen voraus … Wogen, die in krachendem Schuß am Fels zerknallen.

Fenster auf! lauscht Dionys.

Marie öffnet und läßt die Tonsturzseen herein.

Da sieht sie ihn, will zurück. Doch schon stampft er mit Goliathschritt heran: Der Dreimann!

Wieder sitzt auf jeder Schulter des Riesen ein Kamerad. Der Linke droben bläst die Okarina, der Rechte läßt Kastagnetten rattern; dahinter zwei Mundharmonikarotten, eine Geige am rechten Flügel, zwanzig brüllende Kehlen als Zug. Il braccio selbst, den feuerroten Lokomotivenkopf, an den sich die Geschulterten mit je einer Hand klammern, zurückgebogen, röhrt mit einem Mund wie ein Megaphon die donnernde Melodie. Verzückung knallt aus jedem Wulst des Giganten!

Durchbruch!

Marie steht willenlos im Anblick.

Die hinteren Rotten rufen: »Signora! Formosa signora, cantare con noi! Mitsing Freilein!«

Der Takt ist zerrissen. Auch die vorne rufen und lachen.

Il braccio schaut auf. Er buckelt die Stirn, dann gebietet er Stille; er ist der principe: »Sono bovi, gaglioffi, signora! Sind Hammel, Freilein! Was tut Mann? Wieder gesund!«

Marie muß bei allem Ernst lachen über den Goliathkavalier.

»Was sagt er?« fragt Dionys.

»Wie's dir geht.«

»Er soll … hineinkommen.«

»Wie?«

»Ja! Sag ihm das, er soll hineinkommen!« Mit dem Eigensinn und Schicksalszwang des Kranken wird das verlangt.

»Aber dann allein!« murrt Marie. »Die Stube ist schon genug verdreckt zum Sonntag!« – Sie winkt dem Dreimann: »Italiano! Kannst kommen und einen Most vespern! Aber nur einer! Kranker Mann will Musik! Nur einer, sag ich!«

Il braccio tritt ein.

Er bückt sich unter dem Türrahmen. Er hat einen merkwürdigen Geruch. Sind es die in Öl gebackenen Fische und Pistazien, die nassen Haare, der ganze Kerl? Er schaut sich hilflos um wie ein gefangener Bär. Da Maries kalter fester Blick ihn trifft, sieht er weg, nimmt schnell eine Okarina aus seiner weiten Hosentasche und setzt sich ans Bett: »Krankes Mensch immer mag Musik!«

Und nun spielt er und spielt. Die Beine übereinandergeschlagen, den Rumpf – breit wie ein Kasten – hinübergeneigt, die mächtigen Kofferträgerhände behutsam gleich zwei Mühlsteinen an der Tonpfeife hin und her schiebend, die dicken, wurstförmigen Finger mit unbegreiflichem Treffvermögen und Trillerschlag die Schallöcher rührend, den riesigen schwarzen stoppeligen Kopf in selbstvergessenem Verzücken zurückgeneigt … so spielt er und spielt.

Es gluckst, girrt, rollt, trillert ein ganzes Vogelkonzert, den Finkenschlag, den Amselruf, der Hähne Locken, der Nachtigall Klagen. Dabei wiegt er Kopf, Arm und Rumpf in immer mächtigerem Takt. Der Stuhl tanzt von einem Bein aufs andere. Il braccio schnaubt, zieht fauchend Luft, keucht, so schnell rollen die Triller. Seine Augen sind ganz verschwunden, die schwarzen Bartstoppeln seiner Kehle schauen zur Decke, der ganze Riese ist nur noch ein Spielball der Klänge! Jetzt reißt er wie in Verzweiflung die Flöte vom Mund, schwingt sie bedrohlich in der Rechten und singt aus voller Kehle ein Lied, während die hellen dicken Tränen über seine Backen kullern. Ein Heimatlied, man spürt es, in fremdem Land gesungen.

Wer kann der Musik widerstehen! Ihre Sprache ist aller Sprache! Keine Antwort ist not, kein Betrug ist möglich, kein Bedenken hält stand! Selbstvergessen ist ihr Triumph! Rückkehr zum Anfang ist ihre Wahrheit!

Heimkehr!

So sitzen die drei.

Marie schüttelt sich zuerst. Das war Betäubung, Nebel, Kinderei! Sie gibt dem Fremden Most, Brot und Wurst, ehe er wieder zu spielen beginnt.

Er soll nicht mehr spielen! Der Mann ist müde!

Er soll wiederkommen! Wieder spielen! bittet Dionys. Sein Auge ist froh und schmerzfrei.

Il braccio verspricht es mit kauenden Backen: »Gutes Mann! Gutes Bruder! Rivederla!«

An der Außentür reißt er, daß die Wände wackeln. Marie hat den Riegel nach Gewohnheit vorgelegt: »Wart, Italiano, wart!«

Sie ist an der Tür, zerrt am Riegel, er sperrt.

»Komm, Frau!«

Was ist? Was wird? Ihr Leib zuckt wie ein Fisch an der Angel, ihre Knie zittern, ihr Herz steht still, sie taumelt. Der Wind peitscht ihr Gesicht.

Il braccio hat über sie greifend die Tür geöffnet.

Atemlos sitzt sie am Bett. Was war das?

Ein Traum?

So hält ein riesiger Adler eine Taube in den tödlichen Fängen. Sie schaudert. Unsinn! Narretei!

»Singen kann der, Marie! Was? Daß sich einem das Herz im Leibe umdreht! Er soll oft kommen! Ich mag ihn!« Dionys sitzt mit seinem durchsichtigen blonden Kopf im Bett, sinniert und lächelt; er sieht wie ein feiner Gelehrter aus, nein, wie ein Musiker mit dem horchenden Antlitz, nein – darf man's sagen – wie ein deutscher Christus.

*

Genovef tritt ein.

Sie bringt Eier und fragt nach dem Kranken.

»'s Geld fehlt!« sagt Marie statt der Antwort.

Schweigen.

Hat er immer noch nicht geschrieben? denkt Genovef. Ihr Herz krümmt sich vor Bitterkeit. Ist er abgerückt, geflohen, da sie in größter Not? So wär alles Lug? Alles?

»Fleisch müßt man kaufen und Wein! Das macht Blut!« sagt Marie unerschütterlich wie eine Anklage und sieht auf die durchsichtige Gestalt im Bett. »Aber dazu braucht's Geld!«

Dionys sitzt im Bett, lächelt, und taktiert eine Melodie. Er sieht fast überirdisch bleich und schmal aus. Genovef will das Herz zerspringen, sie muß jetzt fragen, jetzt: »Hat … er … noch nix geschickt?«

»Wer?« Marie schaut gar nicht erst auf.

»Der Herr?«

»Ein feiner Herr! Der!«

»Und nit geschrieben?«

»Der ist über alle Berg.«

Plötzlich sagt Dionys: »Der kommt wieder!«

*

Marie geht mit Genovef in die Küche. Der kleine Frieder steht grad am Gasherd mit einer Schachtel Streichhölzer und macht mit seinen fünf Jahren allein Feuer, seinen Brei zu wärmen.

»Fort, Tropf! In die Stub! Und wenn ich dich noch mal zünden seh!«

Sie sind allein.

Marie tritt nah an Genovef. Sie schaut sie an wie eine Fremde: »Hör du! Der … Dunstmacher, der Herr, kommt nit wieder! Schlag dir den aus dem Hirn. Und ich … geh morgen schaffen!«

»Und Tonys? Wer wird den hüten?«

»Du!! – Still! Komm von der Tür! Hör, ich laß es machen!«

»Das Blut?«

Marie nickt.

»Aber wird Tonys …«

»Still! Er darf's nit merken! Ich geh zur Arbeit, weil ich mehr verdien, und du bist morgen da und pflegst ihn! Später, wann er wieder hoch ist, mag er's wissen! Dann han wir Gesundheit, Mann, Haus und Draufgeld!«

»Aber das Blut?«

»Das Blut! Das Blut! Saufen sie's nit alle? Verbluten wir nit alle? Es ist hopp wie topp!«

Genovef sagt kein Wort mehr. Sie richtet das Geschirr für den kommenden Tag.


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