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Schaffet nit so viel!« Das klingt Marie den ganzen Weg ins Ohr, da sie am Morgen zur Villa Hunschringer fährt, »schaffet nit so viel!«
Der Hoppfuß ist gar so kein Simpel! Schaffen von früh bis spät macht krank, neidig, gierig! Glück macht gut! Sie hat es erfahren!
Schnell steigen Marie und Hunschringer in den Wagen. Die Blutentnahme soll noch am Morgen stattfinden. Der Wagen saust: Schaffet nit so viel! Schaffet nit so viel!
Die Augen schließen …
»Sind Sie müde?«
»Glücklich.«
»Seit kurzem?«
»Ja!«
Hunschringer schaut nach der Uhr. »Wir müssen Sie etwas equipieren, Marie! Sie sollten zum mindesten ein Kleid für das Haus und einen Straßenmantel haben! Oder sind Sie dagegen?«
»Bestimmen Sie darüber!«
Sie fühlt, wie ihr Leben rollt, wie ihr Glück sich ballt.
Schaffet nit so viel!
Schaffet nit so viel! saust der Wagen.
*
Der Professor begrüßt Hunschringer freundschaftlich.
Sie treten in einen kleinen Operationssaal. Marie streift ihr Kleid ab, sie wird behorcht, der Arm gestaut.
Während der Professor sich reinigt, führt man ein Gespräch über die Jagd und über eine Küstenfahrt in Dalmatien. Doch Hunschringer ist nicht bei der Sache. Sein Blick haftet an Marie. Er muß an seine hilflose, flaumzarte Frau denken, die nur noch ein Gegenstand der Sorge und Pflege ist. Einst war sie eine feine helle Blume. Sie war reich, vornehm, gepflegt; doch Lust schenkte sie ihm nie und kein Kind. – Erfolge, Arbeit, Arbeit, Erfolge!
Und nun steht dieses Weib da, wie ein mächtiges Tier, mit einem Schoß, Geschlechter zu tragen, und mit Brüsten, Riesen zu säugen! Zorn rast in ihm hoch, Wut über sich selbst, an dem das Leben vorbeifloß! Kann man mit Edelsteinen und Banknoten den Durst stillen!
»Glänzend!« knurrt der Professor und läßt aus der Vene durch eine große Hohlnadel das dunkle Blut in zwei Gläser laufen: »Wird Ihnen übel?«
Marie lacht aus voller Kehle, daß die Nadel hüpft und der dunkle Strahl auf den Boden schießt.
*
»Wie ist Ihnen, Marie?« fragt Hunschringer über den weißgedeckten kleinen Tisch.
»Warum fragen Sie?«
»Mir wurde ganz flau und Sie schauen drein, rot und strahlend wie nach einem Bad! Schluß damit, wählen Sie!«
Sie wählt mit Sicherheit und ißt mit vollem Genuß. Man merkt, die Nahrung geht restlos in ihr Leben über, wird einverleibt nach dem Gesetz der großen Raubtiere. Durch ihre Haut schimmert das Blut wie durch Glas.
Auch der Mann spürt sein Blut im Herzen. Er wehrt sich. Er beschwört seine blumenhafte Frau, doch sie hält nicht stand.
Er ruft den Ober und bestellt den Wagen in zwei Stunden.
Sie gehen zum Einkauf. Sie soll einen Wunsch äußern.
Sie denkt an das Vertiko, will ihn grad zu dem Händler bitten, die Restsumme zu begleichen, da fällt ihr die List ein, der Plan, das Geheimnis. – Nein! Das Vertiko war ihr eigenster Kampfpreis, der Endpunkt der Not! Es war ihr Geheimnis und sollte es bleiben bis zu der einen Stunde, um die sie brannte.
»Da Sie gar keinen Wunsch zu haben scheinen, so werde ich mir erlauben, Ihnen vorerst etwas Praktisches auszusuchen.«
Sie treten in ein Kaufhaus. Hunschringer verlangt ein bequemes Hauskleid aus guter Wolle. Die Verkäuferin erkundet: »Welche Farbe beliebt der gnädigen Frau?«
Sie wählen ein Hartblau. Änderungen sind noch erforderlich, sie sollen sogleich ausgeführt werden. Ein starker dunkler Tuchmantel wird ebenfalls erworben und mit dem Kleid ins Hotel bestellt. Noch eine feste Autolederhaube und Marie ist zur Not ausgerüstet. Man sitzt im Café. Man fährt zum Hotel. Die Sachen sind soeben angelangt und schon hinaufgebracht.
Hunschringer geht voraus. Er hat im ersten Stock sein festes Zimmer, das er geschäftlich bei Konferenzen und auf seinen häufigen Durchreisen benötigt. Es liegt nach der Flußseite, schaut ins Grüne und hat kein anderes Gegenüber als die alten Eschenkronen und in der Ferne die zackige Linie der Berge.
Ein herber Lufthauch bläst durchs offene Fenster.
Marie hat schnell ihr Kleid heruntergestreift, um in das neue Gewand zu schlüpfen. Das Fenster zu ihrer Rechten wirft Luftstöße und feines Nebelgefetz herein.
»Sie holen sich den Tod!« warnt Hunschringer und steht auf, den Flügel zu schließen.
»Lassen Sie!« wehrte Marie. »Lassen Sie die Luft!« Und sie drängt ihn absichtslos zurück; ihre Hände ziehen seine Finger vom Griff, wie zwei Steinwürfe stoßen ihre Brüste gegen seinen Rumpf, ihr Gesicht dampft in großer Nähe Röte und Glück.
Ihn schwindelt.
Steht er auf haarscharfem Felsgrat? Draußen wiegen die alten Eschenkronen, ehern still zacken die fernen Bergzinnen … seit hundert Jahren, seit tausend, seit zehntausend? Wer wird nach tausend Jahren nach dieser zitternden Sekunde fragen? Wird sie verscherzt, so ist sie nie gewesen; wird sie ergriffen, so kann sie nie mehr vernichtet sein!
Wieder treffen die zwei Steinwürfe seine Brust, sie klopfen wie letzte Mahnung; er strafft sich los, hebt die Arme empor wie zu einem Kopfsprung in eine Tiefe und reißt mit einem einzigen gurgelnden Laut das Weib an sich.
Sie hat gerade das neue Gewand gefaßt, spürt den Angriff, stemmt die Arme, sprengt die Umklammerung: »Was tut Ihr?«
Zorn schwillt in ihm, wütende Kraft, mit rasendem Ruck greift er sinnlos die Widerstrebende.
»Lassen Sie! Lassen Sie doch!« hat Marie sich seiner entledigt. »Lassen Sie mich!« haucht sie, selbst im Kampf, ob sie die Liebe des reichen Mannes so wegstoßen dürfe. Und sie blickt diesen mächtigen Herrn, vor dessen Augenwinken die Werkführer und Meister wie Hündlein springen, sie blickt ihn an als Beute seiner Gier und Opfer ihrer Gunst, sie schaut, wie er jeden Wunsch ihr erfüllen wird, Kleider, Schmuck, Wohlstand, und wie sie ihn beschenken kann für die Jahrzehnte sinnlosen Schaffens … doch plötzlich schaut sie ein Antlitz, ein lichtes, schmales Gesicht, mit den zwei blonden fiebernassen Strähnen längs der Schläfen …
Schneedecke über einem Felsspalt!
Es liegt hinter ihr.
Sie schüttelt sich, wirft trotzig das neue Gewand über, kämmt sich übers Haar, atmet, ist wieder frei.
Der Mann knüpft vor dem Spiegel seinen Selbstbinder.
Sie starrt ihn an.
Er schaut sich um, räuspert sich, kraust die Stirn und spricht im Kommandoton des Direktors: »Vergessen Sie den Vorfall!«
Maries Kehle peitscht ein Lachen.
»Was ist zu lachen!«
»Nichts! Nichts!«
*
Noch einmal gerät Hunschringer in Kaufwut. Marie wird von oben bis unten neu versehen. Sie lacht beim Einkauf, sie lacht, wenn der Direktor mit der stets gleichen verächtlichen Bewegung sein Scheckbuch zieht und schreibt, abreißt und einsteckt, sie lacht im Auto, sie lacht beim kleinsten Anlaß.
Das reinste Kind! denkt Hunschringer und kauft weiter. »Jetzt müssen wir aber heim,« sagt er, selbst fast fröhlich, »sonst gibt's einen Achsenbruch!« Er fühlt, daß durch diese Kaufgroßtat seine Stellung vor Marie sich wieder zu befestigen beginnt. Stolz schaut er auf die Türme von Schachteln und Paketen.
Auch Marie betrachtet mit Ehrfurcht die geschichteten Werte.
Plötzlich, an einer Kurve, ruckt es zur Seite, es klimpert, klappert, rasselt, bumst, schlägt ihr an Kopf, Brust, Schulter; die Türme stürzen, die ganze Herrlichkeit fällt über sie herein.
»Sagt ich's nicht!« grollt Hunschringer und läßt halten.
Marie packt wieder der Krampf. Und wenn jetzt neben ihr der Mann tot umsänke, wenn die Brücke, auf der sie gerade halten, in einen feurigen Abgrund sauste, wenn die Bäume über sie stürzten und der hochgehende Fluß sie verschlänge, sie könnte den Lachsturm in sich nicht bannen, sie müßte lachen, lachen, wie man sonst heulen und schreien muß!
Lachen! Lachen!
Den in ihr verkapselten, krummgeknebelten Urian in ganzen Salven hinausschießen! Lachen! Etwas ist in ihr, ist auf dem Weg, muß heraus, und wenn es platzen sollte!
Auch Hunschringer ist angesteckt. Er lacht mit ihr um nichts, nur um des Lachens willen, berstend, gesprengt, sinnlos, aus voller Kehle!
Er hat Marie, ungeachtet der vorübergehenden Menschen, selbst betäubt und trunken von diesem Wirbel, bei der Hand gefaßt, um sie zur Besinnung zu rufen, wieder in den Wagen zu führen.
Sie hebt ihren Kopf, daß ihre Schultern beben, stoßartig fegt immer wieder der Sturm heran – sie weiß nicht, ist's zuviel Glück, das sie überwältigt? – sie schaut in Hunschringers vor Lachen schäumendes Gesicht und wieder will es über sie kommen …
Da steht sie wie versteinert, erstarrt, kein Muskel rührt sich.
An des Direktors Kopf vorbei, dem noch immer vor Lachen die dicken Tränen über die Backen rollen, schaut sie in des Studenten Gesicht, schaut sie His an.
His?
His!
Er steht im Sportanzug mit Reitstock neben einer sehr schlanken, feinen Dame in dunklem Kleid. Er ist bleich wie eine Kalkwand und schaut unverwandt auf Marie, als sei sie ein Gespenst. Sein Mund öffnet sich langsam, sein Auge ist ganz weit von Entsetzen; jetzt läßt er die Gerte fallen, wendet, läuft, rennt, rennt, die halbe Brücke zurück, die Treppe zur Plantanenallee hinab, den Fluß entlang, rennt, rennt, rennt … Menschen halten, schauen sich um: Ein Dieb? Ein Mörder? Ein Sportsmann? – Die Dame läuft ihm ein Stück auf der Brücke nach, beugt sich über die Brüstung, schreit auf, läuft die Treppe hinab.
»Hineingesprungen!« rufen die Leute.
»Kommen Sie! Es gibt einen Auflauf!« drängt Hunschringer Marie in den Wagen. Er ist ganz nüchtern. Er schaut auf Marie.
Sie sitzt in den Polstern und rührt sich nicht.