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Am Bahnübergang läßt sie halten. Sie wirft den Pelz in den Fond und schickt den Wagen um.
An der Bahn ist eine Wirtschaft und ein Händler. Sie kauft einen ganzen Korb Sachen – ja, geben Sie nur! – ohne den Preis zu fragen: Camembert, Apfelsinen, Rollmöpse, Grahambrot, zwei Flaschen Bordeaux, Schokolade. Sie zahlt und nimmt das Händlerkind samt dem Korb mit.
Der Weg zum Dorf scheint endlos. Aber sie bändigt ihre Hast und Freude. Grau stehen die Pappeln, schneegrau noch immer ist der Himmel, im Westen ein funkelnder gelber Strich. Der Boden quietscht vor Schlamm. Alpenwind! Südsüdwest! Sie weitet die Brust, schreitet gewaltig. Jetzt nimmt sie dem Kind den Korb ab, gibt ihm eine Mark und schickt es heim.
Genovef ist sprachlos. Die Schätze! Sie wird zum Schweigen verpflichtet. Sie erhält einhundert Mark für Dionys' Verpflegung und einhundert Mark für den Haushalt daheim.
Marie hört Stimmen. Was ist?
Pfarrer Bohnenblust, Hoppfuß und der Vater seien drinnen.
Fast zornig tritt Marie ein.
Ein Wortgefecht ist im schönsten Gange. Die drei sitzen um den Tisch, auf dem Krug, Gläser und Vesperreste stehen und Mostpfützen auf schon erhebliche voraufgegangene Kämpfe und fäustene Bekräftungen schließen lassen. Gerade saust wieder ein Schlag auf den Tisch nieder, daß die Gläser klirren: »Er ist ein Schuft! Ein Bluthund!« ruft der Pfarrer, seine weißen Haare stehen über der flammroten Stirn geborstet: »Er ist ein Schuft, der Lenin! Und wenn man ihm zehn solcher Pyramiden vor den Kreml setzt, wie kein Zar je geehrt ward!« Er hält eine Sowjetfreimarke mit dem Grabmal des Diktators auf dem »Roten Platz« in seiner Hand. »Hab ich recht, Vater Ruoff?«
»Kennen Sie den Lenin so genau?« fängt der Hoppfuß den Hieb auf, mühsam die Stimme dämpfend.
»Kennen? Ha! Dreihunderttausend Menschenleben hat der Mordhund auf dem Gewissen! Dreihundertfünfzigtausend Menschen!!«
»Woher wissen Sie das?«
»Woher? Alle Zeitungen, die ganze Welt ist voll davon! Und nur die mit ihm verbündet sind, wollen es nit hören!«
»Ich glaub nur, was ich seh«, trotzt der Lahme. »Ich han den Krieg mitgemacht bis ins Knochenhohle, ich glaub nur, was ich seh!«
»Sie glauben überhaupt nichts, Freundschaft!« donnert jetzt der Pfarrer. »Aber, Freund Nill, es kommt ein Stündlein, da tastet auch Ihre Hand nach Hilfe, da greift sie ins Leere, da wird Rechenschaft gefordert auf Haar und Strich, auf Quant und Korn! Da wird auch von Ihnen Quittung verlangt für die dreihundertfünfzigtausend Ermordeten Ihres Lenin! Denn, Freund Nill, der Hehler ist so schlimm wie der Stehler!«
»Das ist er!« versetzt jetzt der Hoppfuß, und seine Augen sprühen. »Das ist er! Aber von wem wird dann über die Millionen Gefallener Quittung verlangt, Herr Pfarrer?«
»Das steht auf einem andern Blatt, Herr Neunmalweiser! Gott hat die Völker geschaffen mit ihren verschiedenen Kräften, Eigenschaften und Nöten!«
»Gott hat den Menschen geschaffen, Mütter, Müttersöhn, Brüder!«
»Das haben wir schon tausendmal gehört!«
»Und noch nit genug!«
»Brüder! Ja, wenn so ein ›Bruder‹, so einer von Ihren Brüdern nachts in mein Zimmer einbricht und legt auf mich an: Das Geld oder das Leben! soll ich zu dem sagen: Bitt schön, nimm dir, was dir beliebt!«
»Vielleicht, Herr Pfarrer!«
»Sie sind toll!«
»So hätte der Tolles verlangt, der sprach: Ihr sollt dem Bösen …«
»Still, sag ich! Das wäre ja ein netter und bequemer Freibrief für jede Tat! Ihr sollt dem Bösen nicht widerstreben! Das ist ganz anders gemeint, Sie Ahnungsloser!«
»Das ist so gemeint, wie er's sagte,« spricht der Lahme, »gerade für den Fall hat er – um ja nit mißverstanden zu werden – noch ein besonderes Beispiel angeführt: Wenn einer dir den Rock nehmen will, so gib ihm auch den Mantel! – Also hat er's doch ernst gemeint mit seiner Mahnung. Aber das Beste und ganz Neue daran ist mir, daß man's freiwillig tue, ohne langes Gesetz und Gerede … das grad ist für mich das Neubackene, Aufstochende, Luftschaffende, Freiheitliche … der Glutkern, vor dessen Glanz man fast blind wird, wenn man hineinschaut!«
»Ja, aber Nill, wenn man Sie so hört … ja, aber Mann,« fragt der Pfarrer ganz erregt, »weshalb gehen Sie dann nicht in die Kirche?«
Der Hoppfuß will etwas sagen. Doch er schweigt. Das Joch des Volkes beugt im letzten Augenblick auch ihm den Nacken. Nur der Freie kann Anklage erheben. Der Knecht rebelliert.
»Das ist's!« packt jetzt der Pfarrer zu. »Im Grund Eurer Seel seid Ihr nicht schlecht, aber Ihr habt Euch den Kopf voll gelesen von Phrasen und unverdautem Zeug und wenn Ihr's anwenden sollt, wo bleibt da die Logik? Aber ich merk schon, wer Euch den Kopf verdreht hat! Das Herrlein soll sich hüten, man weiß, woher diese Hetzer das Geld bekommen!«
»Da brauchen Sie keine Sorg zu han!« lacht der Hoppfuß grimmig. »Das Herrlein ist eben … ein Herrlein! Jetzt, da hier die Milch ausgelaufen, ist es auf und davon!«
»Das wissen wir nit!« spricht eine ruhige Stimme vom Dunkel her.
»Schaut unsern Kranken!« wendet der Pfarrer sich jetzt zu Dionys. »Er ist stärker als wir alle! Er hat den Glauben, wo wir zweifeln und Unrat wittern! Daran könnte sich manch Haarspälter ein Beispiel nehmen!«
»Und mancher, der weder Haar noch Holz spält!«
»Halt's Maul, Hopper!« springt Marie vor.
»Laßt ihn nur! Es muß alles heraus!« hebt der Pfarrer seine Hand. »Es ist schade um Sie, Nill! Hetzen, Wühlen und Herumspintisieren, ist das ein Tagwerk? Ein Beispiel sollten Sie sich lieber nehmen hier an den zwei Nädeles, ein Vorbild, wie man mit Fleiß und rastloser Arbeit ein Lebensziel erreichen, den Segen des Vaters sich verdienen kann!«
»Ja … so ist dann des Lebens Ziel: Schaffen und Schaffen und Häuser bauen?« forscht der Hoppfuß.
»Schaffen, ja, ein Heim gründen, sorgen, daß man nicht sich und andern zur Last fällt!«
»Aber sagt Christus nit grad das Gegenteil: Sorget nit um den kommenden Tag … sehet die Lilien auf dem Felde! Herr Pfarrer, jetzt kommt's mir wieder, was mir nit aus dem Kopf geht die letzten Jahr,« er macht mit dem Zeigefinger seiner Rechten eine seltsam deutende schraubenförmige Bewegung, »… ein Wort ist's, ein Wort, das mir eben und schon längst in den Ohren klingt … wenn Christus heut wiederkehrte auf diese Erd, er würd seine Mahnung: Liebet einander! nit gleich im Anfang künden; er würd als Anfang und Erstes über euch alle rufen: Schaffet nit so viel, ihr Menschen! Ihr wuhligen, unruhigen, ehrgeizigen Menschen! Schaffet nit so viel!«
»Hört ihr! Da sind wir gelandet!« ruft der Pfarrer. »Das ist ein fein Bekenntnis, dies Bekenntnis der Faulheit und des Nichtstuns!«
»Schaffet nit so viel! würd er sagen … bestimmt, Herr Pfarrer; ihr schafft mir das Leben noch tot mit eurem Wettrennen, eurem Akkord, mit eurem den andern an die Wand drücken … schaffet nit so viel! So würd das neue Gebot des Messias heißen, schaffet nit so viel …«
Er nickt dem Verdutzten zu und humpelt durch die Tür ins Freie.