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His erwacht und denkt, es ist schon spät!
Der helle Tag schaut zu ihm herein. Doch alles ist fremd. Er blickt durch ein helles, gepflegtes Zimmer, durch ein offenes Fenster auf Baumwipfel und fernen Rasen. Er liegt in einem alkovenartigen Bett, unter dünnen, weichen Decken. Feingeschliffene Gläser stehen am Kopfende seines Lagers. Vom Balkon kommt eine Gestalt auf ihn zu. Um seinen Kopf fühlt er einen Verband.
»Gottlob, du Tollhans, was du nur anstellst!«
»Was ist?«
»Langer!«
»Ille?«
»Ja, du Kampfhahn …«
»Wo bin ich?«
Und nun erfährt er alles: Da er das Glas geschleudert, reißt der Trikotmann eine schwere Sektflasche hoch und läßt sie mit voller Wucht auf His' Schädel niedersausen.
»Ah …« sinnt His; »… war er schneller als ich?«
»Nein … ich hielt deinen Arm, als du schlagen wolltest.«
»Schadet nichts, Ille!«
»Nein, schadet wirklich nichts; sonst wärst du längst wieder …«
»Was sagtest du?«
In den nächsten Tagen wird der Verband entfernt, der Hautlappen vernäht. His hat ein ausgezeichnetes Fell und einen Holzball von Schädel.
Sie sitzen zu dritt auf dem Söller: Lucia, Ille und der Verwundete.
Er ist noch immer wie im Traum. Er kaut an einer Semmel und schaut über die blendend weißen, frischgekiesten Wege, über die Straßen und Felder zum Fluß, und weiter bis zu den dunklen zackigen Linien am Himmelsrand. Er ist noch benommen und schweigsam. Die Frauen führen das Gespräch.
»Auch Sie sollten einmal heraus, Ille! Darf ich Sie zu dieser Italienfahrt mitbitten! Kein Stipendium! Nein, ich schicke Sie hinunter, in mein Vaterhaus, in Katania einige Aufträge für mich zu erledigen. Schlagen Sie ein!«
»Das neue Semester beginnt! Seien Sie nicht böse!«
»Doch bin ich das!« schilt Lucia und schaut mit einem halben Blick auf His. »Immer geht es nicht bei euch Deutschen! Immer habt ihr Bedenken, Pflichten, Ballast! Nehmt doch den Tag, wie er ist!«
»Ja,« sagt Ille, »wir können uns nicht so hingeben und genießen wie ihr dort unten. Wenn wir lachen, fürchten wir schon das Weinen.«
»Aber das ist ja grad das Sinnlose, Lähmende! Redet mir nicht von eurem größeren Verantwortungsgefühl und eurer Härte gegen euch selbst. Lykurg, dieser eiserne Diktator, ließ nur wenige Altäre in Sparta errichten, einen aber – und gerade den in der Ringschule – dem Gott des Lachens!«
»Wirklich? Dem Gott des Lachens einen Altar?« fährt Ille auf. »Ja, das ist kühn, das ist unerwartet! Und doch bedenken Sie, Lucia, selbst über der Felssteppe von Lakedämon stand ein blauer südlicher Himmel! Über uns aber drücken drei Viertel des Jahres Nebel, Feuchtigkeit, Wolken!«
»Grade darum sollt ihr einmal heraus, euer Nebelgegräm unter südlichem Gestirn zerstäuben!«
»Wie sagten Sie?« fragt His.
»Schau, das hat er begriffen!« triumphiert Lucia. »Hinaus aus dem Nebelland! heißt die Parole. Ihr seid beide zu schad für diesen grauen Tod! Hört: Der Unfall geschah hier in meinem Haus, ich bin haftbar! Ille, Sie begleiten unsern Kranken nach Sizilien!«
»Ja, aber …«
»Kein aber, Sie Bureaukrat!« fährt sie His an. »Alles wird erledigt, die Leute erhalten das Ihre, und Sie erholen sich dort drunten! Können Sie mehr verlangen? – Reden Sie doch, Ille!«
»Es wäre gut, Langer!«
»Ja …«
»Bravissimo! Morgen fahrt ihr!« lacht Lucia; sie muß jeden Gedanken durchsetzen. »Und vergeßt mir nicht den Höhenweg: Sestri – Chiavarri – Spezia. Ihr steigt in Genua vom Zug in ein kleines Boot, fahrt um die Brandung und die alten Piratennester, landet in der Sandbucht von Sestri, und dann hinauf, zu Fuß, den steilen Saumpfad entlang, vor euch die stahlblaue Bucht, Sardinien und Korsika wie zwei Buchenblätter in den Wellen …«
»Satan!« knallt His.
»Langer!«
»Es geht nicht!«
»Narrenspuk!« zürnt die Dunkle. »Tun Sie, was Sie müssen!« – Doch dann ruhiger: »Wer würde solch Angebot ausschlagen! Es ist ein Widersinn! Es ist gegen die Natur, ist Krankheit! Weshalb zerschnüren Sie sich selbst die Ader?«
»Ich weiß nicht.«
»Klarer!«
»Klarer … das ist leicht gesagt … aber manches kommt aus dem Samen der Klarheit, der noch kein Baum ist –« und nun flüstert er vor sich hin: »Der Wind bläst, wo er will, und du hörest sein Sausen; aber du weißt nicht …«
»Schweigen Sie davon!« wehrt Lucia erregt. »Ihr ruft den Geist an, da Euer Blut und Leben noch gar nicht begonnen hat! Eure Worte sind ein Sturm, Euer Kopf ist ein Riesenschiff, das … auf einem Rinnsal fahren soll!«
»Unser Glaube wird das Rinnsal in einen Strom verwandeln!«
»Weshalb dann flutet der Strom nicht schon längst, weshalb ist unser Glaube immer noch so machtlos? Weil ihr zuviel wollt, weil der Sturm nur in den Wolken saust und die Erde nicht erreicht, weil auch Christi Lehre Unmögliches gefordert und über das Ziel geschossen!«
»Das muß ein jeder Läufer, der ans Ziel gelangen will!«
»Wenn wir den Lauf nicht schon verloren haben!« spricht Lucia ganz heiß vor dem Sichenthüllenden. »Oder wir müßten den Lauf heut noch einmal von vorn beginnen!«
»Wie soll das geschehen?« fährt Ille dazwischen.
»Ich glaube … wir müssen erst wieder Adam werden, ehe wir zu Christus gelangen können!«
»Wer gab Ihnen das ein?« schrickt His empor.
»Der Wind, der weht!« errötet Lucia. »Der bisweilen auch eine Frau berührt!« Sie schaut auf ihn mit einem prüfenden, jäh ermattenden Blick. »Weniger wollen, doch dieses auch tun!« spricht sie leise und steckt einen Zweig des rosablühenden Seidelbastes in das hohe Glas: »Der Wille betrügt!«
»Ja!« ruft His und springt hoch, daß die beiden aufschauen. »Diesen Satz brachte Ihnen der Wind, der weht: Lieber ein redlicher Adam, denn ein falscher Christus! Und darum …«
»Wir fahren!« jubelt Ille.
»Wir fahren!«
*
Die nächsten Tage kann His nicht genug wandern, trainieren, laufen und rudern, seinen Körper wieder in Form zu bringen. So sehr er zuerst gezögert, jetzt drängt er zur Reise. Es ist, als sitze ihm ein Verfolger im Nacken, als könne er wieder in einen Abgrund, der hinter ihm liegt, zurückgerissen werden.
Der Morgen beginnt mit einem Bad, es folgen Übungen, Massage, ein Dauerlauf durch den Park, an dem Lucia teilnimmt. Die hohen Platanen stehen im ersten Grün, auf den Wiesen blühen Krokus, Veilchen, verwilderte Narzissen und Anemonen, ein leichter Bodennebel hängt an Strauch und Kraut. Sie laufen in die tauige Kühle, ihre Kraft wächst mit jedem Atemzug und jedem schnellenden Abstoß vom Kies. His liebt es, mit einem kurzen Endspurt von hundert Meter das Rennen zu krönen: er rast davon, sinnlos, mit letzter verfauchender Luft, entrinnt der Gefährtin, wirft sich mit hohem Schlußsprung ins tropfende Gras, dampfend … einen Atemzug … zweidrei! steht er und lacht, da Lucia herbeisaust.
Auch Reiten war Freude!
Auch auf Rosserücken mit spitzem Knie und klopfender Wade den Willen in die wuchtige störrige Masse zu treiben, war Sieg und Stählung! Er hat ein Halbblut, einen Goldfuchs, ein hohes Tier mit leuchtendem Haar. Es steigt, schmeißt, beißt, seit Kriegszeit kaum mehr zum Reiten verwandt.
Doch His besteht darauf!
Sie macht sich hart, Astarte, die rote Teuflin, sie bockt und steigt. His läßt die Zügel, sie paradiert wie ein Zirkuspferd … jetzt saust sie davon, stürzt plötzlich jäh ins Knie: Eisen und Hieb zugleich! daß sie nicht weiß, ob schlagen oder steigen, und nochmals: Hieb und Eisen! und wieder saust sie hoch, prescht los ventre à terre, über Gräben, Feld, Wiesen, Verhaue, auf eine tellerflache Heide mit schmalem Saum. His macht sich leicht, er steht in den Bügeln, näher stürzt der dunkle Streif, wächst hoch, Stangen, Bäume, Wald … und vorn ein heller Fleck mit Köpfen; ein Tischtuch, Tassen, Teller, Flaschen, Bratenstücke, Menschen, ein Picknick, darauf das rasende Tier mitten dahinjagt!
Schreie!!
»Das war das zweite Mal!« sagt Lucia. »Sie Unglücksrabe!«
»Bin ich gestürzt?«
»Salto mortale mit Pferd!«
»Dann doch rasendes Glück in allem Unglück!«
Er steht auf, sieht vorne die grasenden Tiere und befühlt seine Glieder. Er schaut nach seiner Uhr – sie ist ein großer alter Chronometer aus Silber, ganz abgegriffen und flach – er öffnet den Deckel, nimmt ein rosa Blütlein des Seidelbastes und legt es hinein. Wie er sich umschaut, gewahrt er Lucias unbewachten Blick, der sogleich erlischt.
»Zu den Pferden!« ruft er und ergreift vom Boden die Gerte.
»Zu den Pferden!« ruft er jetzt wirklich, wirft die Decken ab und ist zum zweitenmal erwacht.
Was war das?
Er greift nach der Uhr; da liegt sie! Sie tickt, er öffnet den Deckel, da schimmert das Blütlein, der kleine rötliche Kelch!
Ohnmacht im Traum?
Tod im Schlaf?
Der volle Mond scheint in breiter Gasse in die enge Bude. Drüben ganz nahe und doch winzig wie ein Glasfensterbild scheinen die Berge herüber. – Halt! Die Spur jetzt nicht lassen!
Am Abend nach dem Sturz sitzen sie beim Schach, zu zweit, in einem Winkel der Bücherei. Die hohen mattulmenen Bücherspinde geistern mit den schweren und schlanken Bänden. Der mächtige Holzkandelaber wirft unter dem gelben Pergamentschirm sein Licht aufs Brett.
Lucia lehnt in ihrem Sessel und zieht mit lässigem, blankem Arm. His hängt, die Stirn in den Handkuhlen, mit angespanntem Blick über dem Brett; er hat sich verfahren. Die Bauernkette, die er sorgsam nach Strich und Faden vorgezogen, um ja gegen jeden Überfall gedeckt zu sein, sie sperrt jetzt seinen Offizieren den Ausfall.
»Zug!« mahnt Lucia.
»Man wird noch denken dürfen!«
»Sie denken zuviel!«
»Nicht ganz!«
Wieder brütet His.
»Bauernopfer!« befiehlt Lucia und will sich eine Zigarette zünden.
Mit einem Hieb wirft er die Partie um.
»Aufgegeben?« lächelt die Frau.
His hat sich erhoben, tritt zu dem hohen Fenster und starrt in die Dunkelheit.
»Bauernopfer?« das Wort trifft wie ein Schuß in seinen Kopf. Draußen, irgendwo, lagern die Berge, liegt das frisch umgeschorte feuchte Land; und er sitzt hier, im herrschaftlichen Gemach, bei dieser in Seide gekleideten müßigen Frau. Bauernopfer! Wer verbietet es, he! Wer will ihn hindern!
»Habe ich Sie verletzt?«
Wie er sich wendet, steht er Brust vor Brust vor Lucia. Er spürt die Wärme des Weibes durch die handbreite Luft, er schaut in ihr Auge, das ihm schwesterlich und heiß entgegenbrennt; ist es möglich, daß zwei Menschen, Tausende von Meilen voneinander entfernt geboren, tausende Stunden zuvor mit anderen Freuden und Schmerzen genährt, plötzlich voreinander stehen und erkennen: hier ist die schmale Felsbucht, darin die Welle, die durch Meeresbreiten lief, jetzt landet, hier ist das Ziel!
So sieht His Lucias Blick.
Doch wieder schlägt in sein Ohr wie ein Schuß das eine Wort: »Bauernopfer!«
Da strafft er sich, wirft den Kopf zurück und fegt mit einzigem Entschluß Schach, Sieg und Niederlage und alles Gedenken aus seinem Hirn: »Lucia, ich freue mich auf die Fahrt!«
»Bravo, His!« sagt sie und reicht ihm die Hand.
»Bravo, His!« das klingt bei allen Ritten, Läufen und Spielen in seinem Ohr, dies wackere Wortpaar: »Bravo, His!« Wie stolz ist jetzt die Frau auf ihren spröden nordischen Gesellen, der so fest sich in der Hand hat und nicht nach jeder Frucht greift, wie dankt sie ihm, daß er über sie wachte und sie beide nicht der Welt des Zufalls preisgab!
Bravo, His!
Er schaut sich um. In stolzer Freude des Traumes hat er mit großem Schwung an die niedere Schräge des Alkovens geschlagen. Die Hand schmerzt.
Bravo, His!
Wer klatschte? Lachte?
Marie …
Fort! Entrinnen! Weib! Nichts hören mehr! Und dennoch … dennoch, dies Dirnenlachen, dies Kokottengemecker aus Bauernmund, dieses Bauernweibes toter, frecher Blick! Wo kam sie her! Wie stieg sie auf?
Bauernopfer! Hahaha!
Er ist erwacht.
Beten!
Er krampft seine Hände ineinander: Herr Gott, unser Vater … Seine Zähne schlagen vor Frost, er reißt die Decken heraus, schlingt sie um sich, über sich, wie einen Sack, und liegt auf blanker Diele unter dem Fenster, darein der Nebel stürzt.