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His ist in den Fluß gesprungen. In vollen Kleidern.
Wie er das eiskalte Wasser an seiner Haut spürt, erwacht er wie aus einem langen bleiernen Schlaf. Er fühlt seine Glieder, er treibt sie in großen Stößen durch den reißenden Fluß und spürt mit Wonne, wie er wieder Macht über sich hat. Die Kleider sacken bleischwer. Aber er stemmt sich jetzt am Widerstand der Strömung hoch, wie ein Athlet sich gegen die Erde stemmt, die Stange zu drücken. So kommt er nach drüben.
»Respekt, Herr Kamerad! Spitzenleistung!« meinen ein paar Couleurs, die aus ihren Buden heruntergestiegen.
His winkt ab, nimmt aber einen Mantel und steigt auf seine alte Bude, in den Häusern gleich über dem Fluß. Er reißt die Kleider herunter, wäscht sich, reibt sich als geübter Gymnast mit nassen Händen, atmet vor dem offenen Fenster, das nur Himmel, Gebirg und einen schmalen Erdriß umrahmt, dampft, atmet, frottiert sich, springt ins Bett und zieht die Decke über die Ohren.
Nichts sehen mehr! Nichts denken! Wem auch schuldet er Rechenschaft? Rede? Hinaus aus diesem Land der Nebel und Winter, der Not, der Kälte!
Zum Süden! Zum Süden!
Hatte sie es ihm nicht angeboten, Lucia? Ihn zu heilen von seinen sozialen Phantastereien! Er solle ganz allein losziehen – wenn es sein müsse – in Sandalen und mit Brotbeutel; aber er müsse aus dieser deutschen Fieberluft heraus!
»Heraus!« Ja, so hatte sie gesagt und ihre schmalen Finger mit dem Onyx sich selbst umgebogen, daß die Nägel der Hand fast den Handrücken berührten. Heraus! Aber was ging Lucia das an! Was hatte sie ihn fortzuschicken, ihm Geld anzubieten, »das Studium zu garantieren«! Der Teufel hole sie und alle Frauen!
Er zerrt die Decke bis über die Nase und wälzt sich zur Wand.
Da sieht er Marie.
Das war's! Da begann's! Da ward die Weiche umgeschmissen, da fuhr sein Schifflein in einen andern Strom, in ein dunkles morgengraues Wasser, aus dessen Nebeln und verborgenen Wirbeln man heraus mußte in die klaren helleren Kanäle. Das war's! Da führt es weiter! Sie selbst wies ihm den Weg. Wie sie dastand in dem modischen Mantel, mit Lederhandschuhen und Kappe, wie vertraut sie lachten … die Fabriklerin und der Direktor! Hatte er ihr soeben einen Herrenwitz erzählt, oder lachten sie über diese tölpelhafte Welt? Waren sie schon so weit? Spürte sie nicht den furchtbaren Verrat an sich selbst, rief keine Stimme in ihr …
Oder?
Hatte eine Stimme in ihr gerufen, hatte sie auf die versprochene Hilfe von ihm gewartet, auf … sein … Wort? Hatte sie gewartet und dann, von ihm gleichsam verraten, betrogen, preisgegeben, dann erst in Verzweiflung sich auf Tod und Leben verkauft? Den Tod selbst im Blick!
Es war klar!
Er stürzt aus dem Bett, heißdampfend, er tritt vors Fenster. Da liegt das Land in mattem, gelbem Grün, von Nebelbänken überlagert, die Höhen noch weiß vom letzten Schnee: Nebelland! Doch die Bergzinnen ragen im blauen Silber wie die Zinnen einer Feste von Riesen, unerreichlich für Menschen oder nur für jene Trotzbolde, Unbeirrbaren und Parzivale, die ihr Leben der Bezwingung dieser Himmelszacken verpfändet!
Er hebt die Arme und atmet mit heißen Lungen den felsigen Wind, der von der Bergkette hinüberbläst; er stürzt in die Knie und vergräbt seinen Kopf in den Händen: »Herrgott, es ist kein Verrat, wenn ich gehe, sag du es selbst, es ist kein Verrat! Es gibt ja so viele hier, die in diesem Nebelland bleiben wollen und schaffen und wühlen, die gar nicht verkümmern unter dem grauen Himmel, die gar nicht vermodern über dem Brodem der Äcker, sie alle sind glücklich und lügen nicht! Ich aber, ich zerkrümme mich, verrotte, betrüge, der ich lechze nach Helle, Licht und Meeresweite, ich verkomme in diesem Zwiespalt, ich habe genug Hirn zerpeint und Herzblut vertan, es wird keine Form, kein Bild, kein Weg daraus! Es ist alles Kampf, aber kein Sieg, es ist alles Mühen, aber kein Werk, es ist alles Wachsen, aber keine Frucht, es ist alles Nebel, aber kein Tag!«
Es klopft.
Er springt ins Bett.
Eine Stimme von draußen: »Jetzt sind Sie soweit! Öffnen Sie!«
Er liegt atemlos.
Die Stimme: »Ich hörte alle Ihre Worte. Wollen Sie Ihre Maske weitertragen und innen wie ein Wolf gegen sich wüten? Beginnt Ihr neues Leben damit, daß Sie sich verleugnen?«
Er reißt den Riegel zurück.
Lucia.
Es ist die Dame in dem schwarzen Reitkleid. Ihr Haar unter dem steifen Hut ist dunkel, ihre Augenbraue fein geschwungen wie ein Schwalbenflügel, ihre Iris, braun, randet scharf und groß aus dem Weiß der Skleren; der Mund stark wie das Kinn, die Haut oliv. Sie nimmt einen Stuhl und setzt sich wie zu einem Kranken.
Sie spricht ohne Erregung in fast geschäftlichem Ton: »Wann fahren Sie?«
»Warum folgen Sie mir?«
»Warum antworten Sie nicht?«
»Schulde ich Ihnen Antwort?«
»Ja.«
His schaut sie an, die still und reglos seinem Blick standhält. »Bin ich ein Schulbub?«
»Ja. Alte, undurchdachte Begriffe schulmeistern Sie.«
»Sie reden unwissend!«
»Ich sehe, wie Sie vermodern, His, verdorren. Doch Sie sind zu schad für diesen Tod! Jedem Baum gibt man Wasser, jedem Hund brockt man sein Brot, nur dem Menschen reicht man versteinerte Formeln statt Leben. – Der Sprung in den Fluß war göttlich! Das war ein Beginn! Sie fahren!«
»Jetzt, da Sie drängen, wird es schwer!«
»Wer war die Frau?«
»Schweigen Sie von ihr!«
»Keine Lasten mit über die Berge nehmen! Wer war die Frau?«
»Marie.«
»Marie? – Sie sah gar nicht so hilfsbedürftig aus, wie ich nach Ihrer Rede annahm. Sie hat sich selbst zu helfen gewußt!«
»Was sagen Sie da!« His richtet sich hoch, die Fäuste auf die Bettkante gestemmt: »Was sagen Sie? Nennen Sie diesen Verzweiflungsakt … Selbsthilfe?«
»Selbsthilfe!«
»Wie? Ist das möglich? Sehen Sie unter dem bunten Plunder nicht das grinsende Elend? Geht denn nichts in Sie ein, haben Sie alles vergessen, was ich Ihnen von der Not und irrgerannten Sehnsucht dieser Arbeitstiere erzählte, die plötzlich mitten im Geschirr ausschlagen, die Deichsel zerhauen, die Sielen zerreißen, davongaloppieren und nach wenigen Sprüngen sich in den schleifenden Riemen verfangen und mit zerschundenen Knochen stürzen? Aber was wißt ihr von dieser Not!«
»Dennoch … das alles sah nicht aus nach Verzweiflung!«
»Ich werde sie fragen!«
»Halt, His! Begehen Sie keine Torheit!« Lucia ist aufgestanden.
»Ich werde sie fragen! Ich habe diesen Menschen Hilfe gelobt!«
»Unmöglich! Sie zerstören, wo Sie helfen wollen!«
»Zerstören?«
»Ja, His! Begreifen Sie doch, diese Menschen sind ja glücklich in ihrem harten Leben; sie wollen essen, trinken, schlafen und vielleicht noch eine schöne Glocke um den Hals tragen. Sie aber, His, Sie wollen diese derben, stiernackigen und zufriedenen Geschöpfe plötzlich zu Schwänen machen, mit weißem Gefieder und Wolkenflug!«
»Gar nicht will ich das!« braust His auf. »Ganz das Gegenteil liebe, hoffe und will ich von meinen Zehnstundenbrüdern! Schwer sollen sie bleiben wie die Stiere und Gäule, unterm Joch noch gehen, Nackenkräfte sammeln, nicht aber wie Zirkuspferde unter falschem Flitter tänzeln!«
»Das ist auch meine Rede!«
»Aber Ihr Herz hat keinen Teil daran!«
»Sie sind grob!«
»Bin ich's, Lucia? Bin ich's? Sie loben mich über Gebühr! Noch einmal, bitte, Lucia! Hören Sie, treten Sie aus Ihrer Wolke von samtener Hoheit, spüren Sie doch dieses Weib, diese Marie, wie furchtbar ihr mächtiger Körper schreit nach der einen Erlösung, wie klar, eindeutig das alles ist, und wie unschuldig! Wie diese Löwin dann über lauter Zwirnsfäden stolpert, in lauter glitzernden Schlingen sich verstrickt! Hörten Sie nicht dies gräßliche Lachen, diesen Hilfeschrei der Kreatur?«
»Sie fiebern!«
»Sie haben recht … gnädige Frau!«
Stille.
Lucia blickt mit riesigen Augensternen.
»Verzeihen Sie!« spricht His jetzt leise und steht – in seine bunte Wolldecke gehüllt – wie ein Indianer vor ihr. »Aber Sie müßten wirklich diese Zehnstundenmenschen mit Geduld erleben, diese einfachen, ungeteilten Geschöpfe, nur auf das eine Ziel gerichtet: Essen, Trinken, Schlafen, wie Sie sagten! Gut! Und noch ein Viertes – wozu durch die Blume reden? Lieben und Kinderzeugen … das Wichtigste und Heiligste von allem! Die eigentliche Sendung des Proleten, sein Freudenteil auf dieser Erde: Seid fruchtbar und mehret euch! Lucia – bei unserer Freundschaft – versuchen Sie nicht gelangweilt zu scheinen! Ja, Sie sind reich, klug, gefestet! Aber dennoch, Lucia, sollten Sie auch die andere Seite kennen, Ihre Schwestern mit den harten Händen und dem roten Blut, die auf Leben und Tod durchs Feuer sprängen, was sage ich? – ins Feuer um dieser einen Stunde willen, die ein Kind noch in Urkraft empfangen und mit Leiden es tragen, täglich, vor allen Blicken, vor den Maschinen, als harte Last! Lucia, auch diese sollten Sie kennen!«
»Sollte ich das?« Sie steht vor ihm wie ein schwarzer Panther, die Arme fest an die Seite gepreßt, mit den Händen sich haltend am eigenen Gewand: »Sollte ich das? Aber was solltest dann du? Du … Tor!«
»Lucia!«
»Still, His, o Gott … nein, sag kein Wort … ich müßte davonstürmen und versinken …«, ihre Stimme entspannt sich, ihre Arme erschlaffen, ihr Kopf neigt sich leis. »His, jetzt, da du dich von mir kehrst, spür ich, wie du mein Leben mit dir nimmst, aus mir herausweidest … still! Nein, sage nichts! Höre, ich will ganz offen mit dir reden und ohne Vorwort! Du kennst mein Anwesen, meine Betriebe. Seit drei Jahren ist mein Mann tot, die Fabriken sind ohne Herr, es fehlt die Faust. Aber ich wies es von mir, die Notwendigkeit des Fabrikherrn mit meinem persönlichen Leben zu verknüpfen. Das alles weißt du! Nun aber bist du da! Ich rühre dich nicht an, His, obschon ich dir gehöre! Erschrick nicht! Ich spreche deutlich, nicht wahr? Doch sollst du zuvor in die Welt … in meine Heimat, nach Katania, wandernd, zu meinem Meer und den Quellen, woher ich kam! So wirst du mich verstehen, das Stumme, das Harte und den blanken Spiegel! Wie gern ging ich mit dir, His, zu den blauen Wassern! Aber ich bleibe, ich warte, ich werde nicht nach dir forschen! Vielleicht bleibst du fort. Doch kehrst du zurück, so ist alles dein, His, was man mit meinem Namen nennt! Du riefst den Mut und das Schicksal an! Sprich kein Wort, noch bin ich dir fremd … du sollst fahren! Doch jetzt tritt zurück! Lege dich!« – Sie weicht zum Fenster. – »Zurück! Keinen Schritt! Ich nehme dies Rapier! Auch du solltest mich kennen jetzt, Liebster! Leg dich! Still! Morgen fährst du!«
Blitzschnell drückt sie die Klinke und ist hinaus.