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Die Waldnacht

.His führt das Gespann.

Genovef sitzt auf dem Wagen im dicken Stroh. So will er's. Es ist eine kalte, doch neblige Nacht. Der Boden strahlt Tageswärme, aber der Luftraum ist winterlich. Man sieht nicht fünf Schritt. An der letzten Weglaterne des Bahnübergangs wirft das Gespann einen gigantischen Schatten in den weißen Brodem. Dann kommt das Nichts. Die Menschenleere.

Die Urwelt.

Es steigt bergan.

Die Tiere stehen und brunzen. Dann ziehen sie wieder. Die Kumte ächzen, die Sielen giemen los. Stämme kommen. Es kracht wie Glas. Der Boden ist hart gefroren, dünner Schnee deckt ihn. Auf einmal geht es sich leicht. Freiheit herrscht ringsum! Die Riesen des Waldes stehen da, über aller Not. Kam Winter, schliefen sie; kam Frühling, atmeten sie und sproßten; kam Sommer, sprühten sie Duft und Harz und riefen die Bienen und wuchsen ein wenig; und waren sie hoch und im besten Saft, so kam der zweibeinige Tod mit der Axt und schlug sie. Was lag daran! Einmal war das Leben, Frühlingsnächte mit Zweigeraunen, Bienengesumm, Sommer, Recken und Duften! Was dann kam, war Nutzen und Nutzbarkeit. Doch ohne Ängste, Reue und Murren!

So schreiten auch die Tiere. Was schert sie Sterben, Altern und Sorge, ob nach ihrer Heimkehr auch Futter in ihren Raufen? Sie hatten das Paradies nach der Verheißung: Sorget nicht für den kommenden Tag!

Nur der Mensch ist verstoßen!

Durch wen?

Durch sich selbst!

Er hat soviel und nichts! Vor lauter Sorge um das Leben versäumt er das Leben! Wer? Er selbst, His, ist er anders? Hat er ein Recht, über Marie zu Gericht zu sitzen? Er ist fünfundzwanzig Jahre, mit achtundzwanzig hat er den Doktor und die Examina bewältigt; dann beginnt die Erringung einer Lebensstellung; und ehe diese gesichert ist, und an das Leben selbst, an die Lust des Lebens gedacht werden kann, ist man über dreißig!

Ist das das Leben? Des Schöpfers Absicht?

Seine gesicherte Lebensstellung, das ist sein Vertiko!

Die Arbeiter, ja, sie verdienten … sie griffen zu! Mit achtzehn … mit zwanzig … mit vierundzwanzig Jahren. Sie nehmen das Leben wie es ist, wie den Frühling, wie den Winter, nicht wie ein Rechenexempel! Wie ein Schicksal, ein übermächtiges, das kommt wie ein Dieb in der Nacht. Es drückt sie hart, das Joch der knappen Tage und der langen Arbeit, der engen Hausung und der frühen Kinder! Doch zehn Jahre Leben sind ihnen gewonnen! Zehn Jugendjahre! Junge Mannesjahre!

»Verdammte Pfuscherei!« faucht His, »Dolche statt Hämmer! Pfauenfedern statt Brot!« Er läßt die Peitsche durch die Luft sausen; es knallt wie Schüsse aus dem Wald. Der Nebel ist gewichen. Die Tannen stehen in tiefen Gliedern. Hier und dort glitzert der Weg. Durch die Wipfel blicken die Sterne.

Der Wagen hält. Sie stehen über dem Nebel.

Die Luft ist hier ganz hell, der Himmel dunkelblau und spiegelklar. His sieht empor und zurück. Durch die Baumgasse scheint die messerfeine silberne Sichel des ersten Mondes, unsagbar licht und hell an dem dunklen Firmament.

Nun schaut er Genovef. Sie liegt auf den Bunden gelben Strohes, mit Stroh überschüttet, die Arme unter dem Nacken. Sie blickt zu den Sternen und dem Mond.

»Ihr seid falsch gefahren!« sagt sie, ohne den Blick zu ändern. »Nun fahrt nur zu und biegt bei dem dritten Schlag nach links!«

»Wo?«

»Ach, kommt!« Sie ist mit einem Satz vom Wagen, schüttelt das Stroh aus den Röcken und nimmt das Leittier beim Horn. »Hohott, Bleß, ho!« Sie führt einen guten Gang. Die Tiere schreiten jetzt willig, frischer Dampf quillt aus ihren Mäulern.

»Machst wohl Akkord, Vef?«

»Sind in Hagemanns Wald, Herr!«

»Sollst nit Herr sagen!«

»Laßt!« Sie treibt das Gespann. »Hier, an den Viereichen rechts, die in einer Wurzel zusammen verwachsen – seht nit hin, Herr – da ging mein Ahne einmal mit einem Sack Äpfel über der Schulter. Und wie er so geht und pfeift und schilt übern Weg, da sieht er vor sich einen, der schiebt 'nen Karren. Ei, denkt der Ahne, der kommt grad recht! Er macht Schritt, holt den vorn ein, und wie er Grüßgott, Herr Nachbar! seinen Apfelsack auf den Karren schmeißen will, da liegt – heiliger Josef! – ein Menschenkopf mitten auf dem Gefährt. Der Mann aber, der schiebt, hat keinen Kopf auf dem Hals! Hagemann! schreit der Ahne, wirft den Sack hin, stürzt und rennt, bis er tropfbadnaß heimkommt und aufs Bett fällt. Zwei Tage war er siedigheiß vor Fieber, ein Dutzend Hemder mußt man wechseln!«

»Was du nit sagst!« lacht His.

Genovef wird unter ihrem weißen Kopftuch blutrot.

»Geht, Ihr haltet mich für ein Simpel!« spricht sie zornig und schreitet mächtig zu.

»Wär das so schlimm, Vef?«

»Ja! Wie eure Herrefräulein kann nit jeds sein!«

Sie kommen zum Platz.

Es ist eine kleine Lichtung, fast auf dem Gipfel. Nach vorn fällt der Hang steil ins jenseitige Tal. Dort liegt eine Schutzhütte, in den Bergleib eingegraben. Der Weg führt hart bis hin. Sie müssen scharf an die Hütte fahren, die am äußersten Rand des Holzschlages liegt. Rings steht dunkel der Hochwald. Das Holz ist gut gebeugt. Schweigend laden sie auf. His holt die Scheite und reicht sie Genovef. Die steht auf dem Wagen, stellt und schichtet sie. Das übrige Stroh wirft sie herunter.

His dampft. Er wirft die Jacke ab. Allmählich kommt Rhythmus in das Heben, Zutragen, Hinaufschwingen … hin, hinauf, hinab … hin, hinauf, hinab. Der ganze Körper surrt in dem Schwung des Pendels! Wohlgefühl! Das Blut klingt im Ohr! Man spürt wie als Junge die Muskeln, die Knochen, die Sehnen: einen Bogen, den man nach langem wieder spannt. Hei, so könnt man zum Himmel springen! Die Freude des Baumes, des Quells, des Vogels! Viel zu schnell sind die drei Meter geladen.

Es hat zu schneien begonnen.

Genovef kommt herab, fegt den Kühen den Schnee herunter, zieht sie in den Windschutz der Hütte und schiebt ihnen noch einmal Heu vor, während His mit den Eisenketten die Ladung zu knebeln beginnt. Aber der Riegel gleitet ihm immer wieder durch die Ringe; auch spannt die Kette nicht.

»Kommt!« sagt Genovef, nimmt die Kette und bindet die Ladung mit der ruhigen Sicherheit und Kraft des Bauern.

His fegt das Stroh in die Hütte, um den Platz zu säubern. Auch Genovef trägt ganze Arme übriger Strohbünde hinein. Draußen fallen jetzt dichte Flocken. His sucht seine Jacke. Er durchwühlt das Stroh.

Genovef ist fertig: »Was sucht Ihr noch?«

»Die Jacke.«

Sie wühlen im Stroh.

»So geht's nit, Herr! Man muß das Stroh eins ums andere aufschocken!« Mit einmal hält sie inne: »Da ist sie!«

»Ja, da ist sie!«

Sie hilft ihm dienend in den Rock. Wie aber ihre Hände seine Seiten berühren, da trifft es ihn wie ein elektrischer Schlag. Er greift sich in die Flanke, faßt ihre Hände und zieht sie von rückwärts an seine Brust; ihre Arme müssen nach; er zieht ihre Handflächen noch höher hinauf und legt sein heißes Gesicht in diese lebendige glühende Schale.

So stehen sie still.

Er kann nichts von ihr sehen, aber mit doppelter Macht spürt er die Güte und Reinheit dieser kräftigen werklichen Mädchenhände. Sie sind wie die Erde, die ihre stärksten Kräfte bei Nacht aussendet, da der Himmel und das Licht ihr den Rang nicht bestreiten und nur in den feinsten Lauten der saugenden Wurzeln, der Quellen, in dem Knistern der Äste und Wiegen der Stämme, ja, in dem unendlich fernen Rascheln der Stoppeln das Leben noch wacht und sein Dasein verrät. Doch dieses ruhende Wachen genügt.

Im Schweigen kehren alle Dinge wieder zu ihrem Ursprung und sammeln neue Kräfte wie die Geschöpfe im Schlaf.

Keine Züge rollen. Keine Räder rattern. Keine Signale. Kein Vogelruf. Keine Menschenstimme. Kaum die Herzen schlagen!

Urwelt!

Rückkehr zum Anfang!

Dicht flauscht jetzt der Schnee. Eine weiße unwirkliche Helle kommt von der Erde, vom Boden, beleuchtet die Hütte. Jetzt ruckt das Knie. Die Schecke hat ihn mit weichem Maul gestoßen.

Auch Genovef hat die Mahnung der Tiere gespürt. Sie befreit sich und zieht das Gespann ganz in den Schutz des Raumes. Aber jetzt ist der Ausgang versperrt, mit den zwei großen Tierköpfen vermauert: die beiden Menschen sind in der Hütte gefangen!

Sie sehen es beide, schauen sich, und nun lachen sie.

»Bravo, Genovef! Du kannst's! Willst hier wohl …«

Sie wird blutrot und hält ihm schnell mit ihrer Hand den Mund zu.

Er spürt ihre Hand, ihren Arm, zieht ihn herunter, er blickt in ihr todernstes heißes Gesicht, ihre schrägen hellen Augen: Angst, Verlangen, Qual, Qual, die Schranke, die der Mensch vor seine Lust gelegt, Qual! Aber dann überströmt ein weißes traumhaftes Verzücken das breite junge Gesicht des Weibes. Die weißen Augensterne erscheinen.

His denkt nicht mehr, er schaut nur, spürt, er wächst, überschultert sie, preßt sie nieder; sie aber wölbt sich noch einmal auf, und hält ihn hoch in der Brücke wie einen goldenen Apfel, den man mit gestrecktem Arm emporreckt … alle Ströme der Erde rollen durch ihn, die Sterne brennen in seinem Nacken, das Luftmeer wallt, die Erde kreist …

Es brüllt … brüllt!

Traum? Wachen?

Es rohrt noch einmal!

Dröhnend Muhen, salvenartig, wie von Mörserbatterien über sie gefeuert, durchdonnert die enge tierkopfgesperrte Zelle.

Letztes Murren!

Dann Stille … tiefste Stille.

Sie liegen Brust bei Brust, His den Rücken gegen die Öffnung und das Gespann. Auf Genovefs Gesicht fällt ein winziger Schimmer. Es ruht in Dankbarkeit und Verlangen. Plötzlich schlägt sie die Augen auf und wehrt seinem Blick mit den Händen.

»Nein du … komm!« wehrt sie. »Komm! Komm!«

Und während dies eine uralte Wort, vielleicht das erste Wort, das Menschen vor Jahrtausenden aus frühen Schreien geformt, durch die berghohe, winterlich verlorene warme Zelle fleht, während in hehrer Unbesinntheit Adam sich wieder reckt in zwei Menschen, während das tierkopfgesperrte Verließ der sterbende sieghafte Laut immer stärker durchrinnt: Komm! Komm! … da saust dem Mann wieder der eisige Wind vom Nacken, bildet Barriere, wirft den Blutprall zurück vor den Toren des Hirns: »Nein! Nein!«

Er wußte nicht, daß er's rief. Die teuflische Angst, was danach kommt, hat ihn wieder gepackt … der Tod der Besinnung!

Auch das Weib ist erwacht, sie spürt die Abwehr. Auch in ihr kriecht Besinnung hoch: Weshalb weicht er? Sie hat sich ihm geboten! Welcher Mann weicht dann? Weicht, wenn nicht eine andere in seinem Sinn? Da?

Marie!

Sie standen Hand bei Hand, als sie durchs Fenster geschaut!

Sie stößt ihn von sich in Ekel und Zorn!

»Was ist, Vef?«

»Geh … zu deiner!« sie kniet und ordnet Haar und Kleid.

»Meiner??«

»Meinst, ich sah nit, wie du sie bei der Hand gepackt! O ich Simpel!«

»Marie??«

»Doch nehmt euch in Acht, ihr beiden!« Ihre Augen sprühen den Phosphor der großen Eulen, ihre Hände krampfen, Kampfzorn eckt ihr Gesicht.

»Vef! Kindskopf! Hör mich, Vef!« Auch er kniet jetzt neben ihr, hält ihre verkrallten Hände umspannt. »Vef, du Lamm, weißt doch von Marie und der Frau! Weißt doch!«

Genovef sieht wortlos auf die Tierkopfluke.

»Sie soll ihr Blut nit hergeben … nit verkaufen! Ich hab's ihr abgeredet, werd morgen zu reichen Leuten fahren, Bekannten, daß sie Geld für Tonys und die Hausschuld kriegt!«

Genovef blickt reglos über die Tierschädel in den schmalen Luftriß, in dem Tannen, Bergabsturz, Sterne und Ebene wie mit Silberstift sich zeichnen.

»Du mußt das einsehen, Vef! Du mußt's!« ficht er erregt weiter, als sei es seine Not und Sach'. »Tonys braucht gute Pfleg! Sie können vom Krankengeld nit leben und nit sterben! Ist ja für euch! Morgen fahr ich!«

»Bleib!« sie klammert sich an ihn.

»Dann muß Marie Blut lassen?« forscht er.

»Sie soll's! Kann sie auch! Kann sie auch! Sie hat so zuviel! Ist ihr ganz recht! Tut ihr ganz gut!« Sie nimmt ihn an sich und küßt ihn atemlos. »Du sollst nit fahren! Du bleibst! Versprich, daß du bleibst! Versprich!«

»So wird Marie ihr Blut verkaufen oder Tonys zugrund gehen!«

»Sollen sie!«

Sie steht ihm entgegen, Aug' in Aug', mit der letzten Schlüssigkeit, die keine Lüge kennt: »Sollen sie!«

»Genovef!«

»Untergehn, Marie? Ha ha! Als Kind schon hat sie mich geduckt, nit atmen durft ich, wann sie murrte! Den Tonys hat sie unter der Mühle und ausgepreßt wie ein Filterkraut! Und jetzt kommst du dran und mußt ihr dienen und tanzen! Sie heizt mit dir heut den Ofen und wirft dich morgen als Asche auf den Weg! Drum fahr nit ihr zulieb, sie zernutzt dich, wirft dich fort, treibt dich von mir. Bleib! Bleib! Versprich's!«

»Ich bleib … denn«, spricht His und weiß, daß er lügt.

Sie umschlingt ihn dankbar und mit aller Kraft.

Jetzt treten sie hinaus, hängen die Sielen ein, schreiten bergab. Genovef greift mit starkem Gang voraus. Welch ein Geschöpf! Sein Besitz heißt: Leben! Und Kinder von diesem Schlag: Zehnfach Leben!

Sie wendet sich: »Bleibst du aber, so bleib nit bei ihr!«

»Du bist spinnig, Vef!«

»Du weißt's jetzt!«

Er weiß es!

Morgen fährt er!


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