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His erwacht. Die Sonne steht schon über dem Gebirg und strahlt in die Kammer. Er ruht mit offenen Augen und kostet die erste Wärme des großen Gestirns. Eine überirdische, unwirkliche Leichte hält ihn seit den letzten zwei Nächten wie im Traum gefangen. Genovef ist sein! Dieses starke, reine und kühne Menschenkind, dies helle Glied der Erde!
Ewige, leibhaftige Bande ketten sie aneinander.
Noch hat er sein Glück in seinem Herzen frei springen lassen und noch mit keinem leisesten Bedenken es vor den Wagen des Alltags gespannt. Einmal ist das Leben da, frei wie die Sonne, wie die Berge draußen in ihrer undienstbaren Kraft, wie die Häher, die sich im wilden Spiel in dem erglühenden Himmel wiegen, wie die Kirschbäume vor dem Zaun im Schaum ihrer Blüte!
Und hat die heiligste Unschuld ein anderes Gewand? Hat der Menschensohn seine Lehre nicht gerade in die Bilder der freien Natur gekleidet: in das Gleichnis vom Samenkorn, von dem Baum, der gefällt wird, und in jene freudigste und hellste Versinnlichung von den Blumen auf dem Felde und den Vögeln unter dem Himmel? Sproßte diese Lehre aus seinen Händen nicht wie ein wurzeljunger Baum? Und was ward des Baumes Schicksal? Man hat Bretter aus ihm geschnitten und ein Haus daraus gezimmert, darin sich wohnen läßt! Dennoch immer wieder, sproßt ein Same dieses längst verzimmerten Baumes, verflogen und taujung wie am ersten Tag, aus der Erde, immer wieder geschieht der Magdalena Schicksal, immer wieder klingt das brunnentiefe Wort: »Welchem aber wenig vergeben wird, der liebet wenig!«
Plötzlich hört er drunten ein klirrendes Geräusch. Ist Dionys heimgekehrt? Er entsinnt sich des Zettels: Bin zur Stadt und morgen zurück. Erst hat er darüber gelacht, daß der Mann das Vertiko zum zweitenmal kaufen werde. Dann kam eine leise Sorge – durch Genovefs Worte in dieser Nacht bestärkt – um den kaum Genesenden.
Er greift nach der Uhr … Teufel! Er muß sie verlegt oder verloren haben; die Uhr, die seines Vaters Vater schon trug, das einzige Erbstück, das ihn begleitete, die Uhr auch mit der rötlichen Blüte des Seidelbasts zwischen Gehäus und Deckel!
Schnell kleidet er sich an und eilt hinunter. In der Küche steht der Tropf in seinem Hemdchen. Das Gas brennt. Milch ist auf der Erde verschüttet.
»Hast wieder zündet?« schilt His.
»Ich darf's, wenn ich allein bin!«
Das bist ja meist! denkt His. Er wärmt neue Milch auf, gießt sie langsam in eine Tasse, nimmt den Bub auf den Schoß, brockt ihm Brot und gibt ihm zu trinken. Dabei streicht er ihm übers fahlblonde Haar und meint: »Aber Kinder sollten Streichholz und Feuer gar nit anrühren!«
»Bin nimmer klein!« verweist ihn der Tropf. »Han schon das ganze Essen gewärmt für Vater und Mutter, wann sie Überstund machen!«
»Bist ein Mordsbub! Weißt dann, was Überstund sind?«
»Ja, wann man mehr verdienet!«
»Willst auch in die Fabrik?«
»Ich werd Flieger!«
»Flieger?«
»Ja, Herr! Dann steig ich auf und hol in Afrika alle Sachen: Kaffee, Apfelsinen und Geld, die bring ich durch die Luft her zur Mutter! Und einen kleinen Löwen, den nehm ich auch mit!«
»Einen Löwen?«
»Ja, der muß immer neben mir rennen, zum Bäcker, zum Metzger, zum Kaufmann, ha, da wollen wir sehen, ob wir nit alles kriegen!«
»Und wenn die Leut vor euch die Türen verschließen?«
»Dann sag ich: Löwe hol's! Der springt dir durchs Fenster!«
»Hopp oder Topp! So einfach sollte das Leben sein, du Ausreißer und Raublöwenbändiger!« lacht His und läßt den Knaben herab.
Draußen braust ein Wagen.
Marie tritt ein. Sie hat eine Lederjoppe an, die Haube in der Rechten, und entledigt sich gerade ihrer großen Handschuhe. Ihr Gesicht strahlt Gesundheit und Freude. Sie schaut drein wie eine Dame.
»Habt Ihr's Haus bewachet?« fragt sie lachend. »Hat euch keiner gestohlen?«
»Das nit!« sagt His.
»Jetzt hat die Not ein End!« Sie legt die Jacke ab und steht im grünen Samt, sieghaft, strahlend, am Ziel. »Hier, Herr!« Sie zieht die Schenkungsurkunde des Verwalterhauses hervor: »Lest!«
Und während er liest, schaut sie plötzlich den Tropf, nimmt das verängstete Kind auf den Arm, greift ihre Tasche: »Auch du sollst's gut jetzt han, Friederle!« Sie drückt ihn an sich und stopft ihm Praliné, Waffeln und kandierte Apfelsinenschnitten in den Mund.
»So ist alles geglückt?« fragt His und faltet langsam das Dokument.
»Alles! Das heißt, die Frau hatte gestern abend eine Schwäche. – Doch wo ist Tonys?«
»Ja …« ruckt His auf, wie erwachend, und sucht den Zettel, »Tonys ist seit gestern abend in der Stadt; er will uns wohl mit dem Vertiko überraschen!«
»So kann es ihm unterwegs Grüß Gott sagen!«
»Es soll heut kommen!«
»Narreter Mann!« setzt sich das Weib und schenkt sich eine Tasse ein. »Aber jetzt hat er ausgesorgt!« sagt sie leis und feierlich: »Er soll Verwalter werden! Ist das kein Posten!«
»Doch, doch!« beteuert His. »Es muß bald da sein, wenn sie mit dem Frühzug losgerollt; ich will zur Bahn.«
»Also! Und verstoßt mir's ja nit!«
His sucht ein paar kräftige Stricke und geht.
Marie legt ihr Samtkleid ab, entledigt sich ihrer feinen Wäsche und schlüpft in ihren groben Kattun. Mit Macht greift sie die Arbeit an: Sand, Seife und Wasser schäumen, der Schrupper fegt, weiß beginnen die Dielen zu leuchten. Eimer um Eimer strömt über das Holz, Türen und Tische werden gebürstet, die Fenster geputzt, die Klinken gerieben, Töpfe und Kannen mit Lappen und Sand überwuchtet. Noch schmeckt die Arbeit nach dem langen Feiern! Marie dampft, eine Wildheit hat sie gepackt, alles muß bis Mittag vollendet sein! Dort soll das Vertiko hin! Mit einem Ruck reißt sie die breite Banktruhe aus dem Zimmer, darin noch Dionys' Bett steht, und zerrt sie hinaus. Sie schiebt das schwere Stück in die dunklere Ecke der Küche. Sie atmet schwer. Eine zitternde Hitze füllt schon den Tag. Bis über die Ellbogen taucht sie beide Arme ins kalte Wasser des Eimers.
Ein Wagen rattert. Marie eilt hinaus.
Da ist's!
Fahrer und Begleitmann eines großen Bierautos ziehen grad die Plane von dem in der Sonne glänzenden schwarzen Möbel.
»Habt wohl den Zug verpaßt?« fragt Marie.
»Geht uns den Teufel an!« flucht der dicke Begleitmann mit der Lederschürze: »Sind keine Möbelfritzen!«
»Was ihr seid, merkt man!«
»Mach zu, Heiner!« ruft der Fahrer und kantet das Vertiko Ruck um Ruck an den hinteren Rand des Autos. »Sonst hältst du noch Weihnachten in dem Kaff!«
Der Heiner versucht das Stück auf den Rücken zu nehmen, läßt aber gleich wieder ab: »Ein Mordsbiest! Wir brauchen 'nen dritten Mann!«
»Der ist hier!« sagt Marie und faßt zu.
Sie bringen das Vertiko zu Boden und tragen es keuchend bis zu dem schmalen Knüppelsteg, der über den Graben führt.
»Gurte braucht's!« schnauft der Beschurzte. »Hat uns beim Laden fast schon 's Kreuz zerdruckt!«
»Will an eurem Tod nit schuld sein!« meint Marie und gibt jedem ein Geldstück, daß sie die Kappen lüften.
Da kommt vom Dorf her ein Mann, eine Lokomotive von Mann, ein Berg von Mann, riesig, schnaubend, breit, den schwarzstoppeligen, knallroten Kopf unter einem grauen Kalabreser.
Il braccio!
»Tunnel finito! Bergloch fertig! Cammarati partiti! Viel Geld! Ganz Tasch voll Geld! Jetzt ab nach bella Italia!«
Marie schaut auf den Giganten in seinem dunkelsamtnen Rock.
»Italiano,« fragt sie den Riesen, der sofort stehenbleibt, »kannst du vielleicht den Schrank da lupfen und hineinschaffen?«
»La credenza levare, signora?« prustet fröhlich Il braccio, legt seine Jacke ab und streift die Ärmel hoch, daß man die gewaltigen, eisenkantigen Muskeln sieht: »Auf Buckel rollen, un pocco, signora … piu alto … tante grazie!«
Mit einem Ruck hebt er das Vertiko aus den Knien auf die Schulter und trägt es mit ruhigem Schritt über den knarrenden und sich biegenden Knüppelsteg ins Haus.
»Ein Roßkerl!« meint zu dem Lederbeschurzten der Fahrer und braust mit dem Wagen davon.
*
»Un pezzo piu bello!« lobt Il braccio das schwarzglänzende Vertiko, während Marie eifrig den Spiegel, die Engelsköpfe und messingenen Beschläge abwischt, damit es ja sogleich in ganzer Geltung dastehe. Und wirklich, es strahlt in dem einfachen Zimmer wie ein sieghafter, den Raum beherrschender schwarzer Gott.
Il braccio hat sich die Stirn gewischt und staunt noch immer auf das reiche Möbel und auf die Schultern der Frau, die wie zwei Vögel über einem dunklen Gewässer schweben. Er wird jetzt fortfahren aus diesem Land, mit den bunten Wiesen und waldigen Bergen, die Taschen voll Geld, in sein Land der steinigen Weinhänge und Olivenhaine, der Felsensteppe mit den sehnigen Ziegen und den knochigen Frauen … Addio Germania!
Er wendet sich mit einem Seufzer.
Marie schaut sich um und ruckt empor: »Verzeih, Italiano! Du hast Durst! Hast ein hart Stück geschafft! Komm!« Sie zieht ihn in die Küche, richtet schnell Brot und Wurst und stellt ein Glas und einen Krug mit Most vor ihn. »Iß und trink! Bald bist du in Italia! Zu Ostern? Ja?«
»Signora!« schnaubt Il braccio und läßt sich nieder: »Ostern … o ja … Ostern daheim!« Er gießt sich ein und hebt das Glas: »Alla Germania!«
»Ißt du nicht?«
»No fame … kein Hunger!« Er zieht die Jacke an, nimmt den Hut und wendet sich zur Tür.
»Gibt's nit!« ruft Marie, hat Wurst und Brot eingepackt und steckt's ihm in die Tasche.
Ihre Hände … er wehrt … was geschah? Wie ein Schlag durchreißt es sie. Erstarrt steht der Riesenmann … zerblasen Hirn und Besinnung, angeglüht an diese Frauenhand wie ein Rettungsloser an einen Starkstrom … los will er, schmerzzuckend, verloren ganz in die sinnlose Kraft seiner Umarmung … rafft er sie hoch jetzt, stürzt davon, stürzt, rennt, wirft sie nieder in die Schattenecke der schweren Bank … kniend dort, wie zu Tode getroffen, unter dem ihn fällenden Willen …
Zwei Tote liegen sie.
Ohne Gedanken, ohne Erinnerung, ohne Furcht, ohne Scham. Versunken, wie von einem Mantel bedeckt, todesmatt unter dem ewigen Vollzug der Erde.
Auf einmal fällt ein nadelfeines Geräusch, ein winziger gläserner Klang in des Weibes Ohr. Unter der zermalmenden Macht hört sie ihn; sie spürt, sie lebt.
Mühsam stützt sie sich auf die rückwärts gestemmten Hände, vorbei an der furchtbaren Brust des Mannes, und sieht, wie der kleine Frieder gerade ein Glas Wasser getrunken und den Rest in den Schüttstein gießt. Gewissenhaft geht das Kind zum Bord und stellt das Glas hinauf. Dann tritt es zur Tür, auf den Zehenspitzen, lautlos, als fürchte es zu stören … und verschwindet.
Marie starrt noch immer auf den Türspalt, durch den es hinausstrich. Noch sind ihre Gedanken nicht zurückgekehrt. Wie lange liegt sie hier? Was ist geschehen?
Plötzlich sieht sie neben sich den Mann.
Auch er hat sich aufgerichtet.
Mit schreckstarren Augen schauen die beiden Menschen sich an.
Mitten hinein in das Augenschwarze des Mannes blickt sie: Fremd und gräßlich vertraut scheint es ihr; jetzt steht ein winziges Püppchen darin: Ihr eigen Bild, kniend, die Hände vor der Brust!
»Fort, du! Fort!!«
Der Mann ist aufgestanden, greift den Hut und weicht unter ihrem Blick wie ein Bär vor der Büchse des Jägers.
Stumpf stampft sein Schritt auf der Straße.
Marie hockt da … gelähmt … gerädert … sie kann kaum atmen. Alles schmerzt. Noch weiß sie nicht, ob sie wacht oder träumt.
Sie tritt ans Fenster. In reiner Glut strahlt die Sonne.
Sie schließt die Augen.
Tonys!
Sie fährt zusammen und schaut jetzt hinaus. Der Tropf sitzt bei einer weißen Geiß, die faul hingekniet, und rupft ihr Gras, als sei dies die wichtigste Arbeit auf Erden. Da packt es Marie jähling. Wie ein Gewitter braust es über sie, Bäche und Schleusen sind in ihrer Brust, sie sinkt nieder auf den Stuhl, wirft den Kopf auf den Tisch und heult wie ein gemartert zerstriemtes Tier. Ihre Tränen fließen in leisen Schnüren über ihre Hände.
Plötzlich wird sie still. Es ist wie ein Gewitterregen, der niedergegangen.
Ihr Schmerz ist erschöpft.
*
Und wieder taucht sie die heißen Hände ins Wasser des Eimers, als könnte es entsühnen. Dann tritt sie ins Zimmer, wo das Vertiko steht.
Es glänzt wie ein schwarzer, triumphierender Gott. Die messingenen Griffe und Beschläge, von der Sonne getroffen, sprühen Feuer, der Spiegel gleißt blitzendes Licht. Marie schaut es mit leeren Augen an. Wo ist die Freude über das herrliche Stück? Ist sie zertreten oder gesättigt? – Doch Tonys! Er hat noch den Hunger, die Sehnsucht und die Freude, die alte, zitternde, rote Freude! Ein Klatschmohn steht draußen, drei frühe schwere Köpfe haben sich geöffnet. Schnell nimmt sie einen Krug, füllt ihn mit Wasser, bricht die Riesenstengel und stellt das rote Gewölk auf das strahlende Möbel.
Da ist man schon!
Schnell!
Sie selbst will ihm entgegen, das Prachtstück zeigen, seine Überraschung als erste sehen!
Da steht His in der Küche, allein, totenblaß. Er schaut auf Marie, öffnet den Mund wie zu einer Rede und schließt ihn wieder.
Zwei Männer kommen jetzt durch die Tür mit einer Trage. Etwas liegt darauf, zugedeckt, nur zwei Stiefel ragen hervor. Die Träger setzen ab und bleiben stehen.
»Was – wollt – ihr?«
»Komm hinein!« haucht His.
»Was wollt ihr?«
Schweigen.
»Tonys!«
His nickt.
Die Männer an der Tür verschwinden.
Wortlos schaut die Frau auf die Trage und die verwischten Umrisse der Gestalt. Dann tritt sie hin und zieht die Decke fort. In Hemd, Hose und Stiefeln, den Rock zusammengerollt unter dem Kopf, liegt Dionys da. Totenweiß ist sein Gesicht. Mit geschlossenen Augen schaut er empor zur Decke seines Hauses. Schweißverklebt hängt eine lange helle Haarsträhne über seiner Stirn. Auf der rechten Brust ist das ganze Hemd rot von Blut.
Einen Augenblick sinkt die Frau nieder – His vermag sie nicht zu halten – dann richtet sie sich hoch: »Faßt an!«
Sie tragen ihn ins Zimmer. Die Frau zieht ihm die Stiefel ab. His starrt auf ihre Ruhe. Sie wehrt jeder Hilfe. Doch wie sie das von Blut durchtränkte, am Leib klebende Hemd langsam lösend von dem Toten schält, da scheint's ihm, als halte sie noch einmal zitternd den Mann. Schnell tritt er ans Fenster und schaut auf das lichtglutende Land. Im Garten liegt der Tropf noch immer auf der Wiese und füttert ganz versunken seine Geiß. Die Sonne peinigt ihn.
Wie er sich wendet, fällt sein Blick auf eine schwarzglänzende, gewaltige Masse, die jetzt als einziges Ding das Zimmer beherrscht: das Vertiko! Er schrickt ganz zurück vor diesem riesigen Wesen!
Da also steht es!
*
Nun ruht in weißem Totenhemd der Mann auf seinem Lager. Marie streicht ihm das Haar aus der Stirn. His schaut das Gesicht. Es ist schmerzlos, zurückgebogen, die Augen mit den geschlossenen Lidern blicken deutlich zur Decke: Ist das Ziel erreicht? Nichts ist gebrochen an dem Mann! Der Schuß? Und die rote Durchpunktung selbst des Totenhemdes? Manche geben ihren Blutzoll so!
Noch immer steht Marie und schaut auf des Toten Antlitz. His will hinaus.
»Bleib!« sagt sie: »Wie starb er?«
»Sie fanden ihn am Feldweg, vom Werk zum Bahndamm … weißt du … wo der alte Wagen …«
» Wie er starb, sollst du sagen!«
His sucht wieder auszuweichen; doch er fühlt, daß jedes Verschweigen der Tat ein Verleugnen des Toten sei, ein Verrat an dem Mann. So erzählt er, was er gehört.
»Er hat gestohlen und wurde dabei erschossen?« wiederholt Marie.
»Ja,« nickt His, »doch wer weiß …«
»Wer ihn dazu trieb?«
»Sagte ich das?«
»Wer ihn in den Tod trieb?«
»Das behauptet niemand, Marie!«
»So will ich's Euch sagen, für wen er rauben und sterben ging,« fährt das Weib auf, »wer ihn in den Tod trieb um eines schwarzen leeren Gelüstes! Wollt Ihr's wissen!«
His tritt zu ihr und faßt ihre Hand. Er sagt kein Wort. Er spürt, daß die große urwilde Macht sich hier nicht mit einem Hieb begnügte, und daß der Wille vielleicht doch nicht das einzige ist, das entscheidet.
*
Vor dem Haus Stimmen.
Das halbe Dorf steht draußen, Männer, Weiber mit Kindern auf dem Arm, Landjäger, mehrere Herren, der Bürgermeister und – zwischen zwei vierkantigen Männern in Zivil – der Hoppfuß.
Ein Signal: Lucia in ihrem Wagen! Sie spricht eifrig auf einen kleinen mausgrauen Herrn ein. Jetzt treten alle ins Haus.
»Da ist er ja!« ruft Lucia und will zu His.
Der mausgraue Richter belehrt sie leise und schreitet selbst vor.
»Was wünschen Sie?« fragt von der Tür des Zimmers His.
»Ihren Namen!«
»His Fischöder!«
»Student?«
»Sie sind festgenommen!« spricht der Graue und berührt ihn.
»Was bin ich?!« haucht His, reißt den Arm los und steht, als wolle er mit einem Hechtsprung durch die Menschen hindurchschießen.
»Um Himmels willen, His, seien Sie still!« fleht Lucia.
Die Landjäger sind mit einem Schritt zugetreten, fassen seine Handgelenke und führen ihn in den Hintergrund.
Marie steht in der Tür, groß, starr, mit leeren, unnahbaren Augen.
»Frau Nädele?« fragt der Untersuchungsrichter und tritt vor die Frau. »Verzeihen Sie die Störung! Mein Amt fordert hier ein Verhör, da der Tote ohne unsere Genehmigung vom Tatort entfernt wurde. Wir müssen den Toten sehen.«
Marie weicht zurück.
Die Beamten treten in das Zimmer. Der Amtsarzt stellt den Tod fest und den Befund, der Protokollant sitzt vor dem schwarzen Vertiko am Tisch.
Der Richter fragt jetzt Marie: »Wann sahen Sie Ihren Mann zuletzt?«
»Vorgestern abend.«
»Und waren gestern abend?«
»Bei Direktor Hunschringer.«
»Gut. – Blieb Ihr Mann öfters über Nacht von Haus?«
»In letzter Zelt nie.«
»Wissen Sie … wußten Sie, wo Ihr Mann die letzte Nacht war?«
»Ob ich … das … wußte?«
Marie mißt den Fragesteller vom Kopf bis zu den Füßen.
»Sie verweigern die Aussage?«
»Herr Rat,« tritt Lucia jetzt vor, »die Frau ist doch kaum vernehmungsfähig! Verzeihen Sie! – Marie, sprechen Sie doch!«
Marie steht wie versteinert und schweigt.
»Der Fall ist nicht so klar, wie er scheint, gnädige Frau!« flüstert der Richter. »Es sind bestimmt Komplicen im Spiel, ich möchte meinen Kopf dagegen setzen! Ihnen selbst verdanken wir ja die eine Fährte!«
»Es war eine voreilige Bemerkung!«
»Doch die Uhr?«
His wird vorgeführt.
»Sind Sie bereit, meine Fragen zu beantworten?« wendet sich der Richter an His.
»Sobald ich weiß, weshalb man mich festgenommen!«
»Es liegen Verdachtsmomente vor! Diese zu entkräften, liegt in Ihrer Hand. – Waren Sie gestern mit dem Toten zusammen?«
»Nein.«
»Sie waren gestern nicht auf Arbeit und nicht zu Haus. Wo waren Sie?«
His schweigt.
»Können Sie Ihr Alibi erweisen?«
»Nein.«
»Nein?! Da ein schwerer Verdacht auf Ihnen ruht!«
»Ich habe mit dem Einbruch nichts zu schaffen!«
»Wo waren Sie die Nacht? Reden Sie!«
»Unmöglich!«
Er schaut durch die offene Tür auf Meister Ruoff, der in der Küche mit gesenktem Haupt wie ein Gerichteter dasteht. Neben ihm Genovef. Sie ist blaß und blickt vor sich hin.
»Also Aussage verweigert!« diktiert der Richter und blinzelt auf das nagelneue Vertiko: »Übrigens herrscht hier Wohlstand! – Herr Fischöder, hielten Sie den Toten früher eines Diebstahls fähig?«
»Nein.«
»Wer, glauben Sie, hat ihn auf diese schiefe Bahn getrieben?«
His schweigt.
»Können Sie mir Beweggründe nennen, die das Verbrechen des sonst so gewissenhaften Mannes erhellen?«
»Nein!« sagt His geekelt: »Lassen Sie den Mann doch ruhen; es gibt andere Verbrecher, die in Würden und Ehren herumlaufen!«
»So halten Sie diesen Einbruch für kein Verbrechen?«
»Das sagte ich nicht.«
»Sie haben vor drei Tagen Frau Lucia Rompach gegenüber geäußert, daß Zuvielbesitzen Diebstahl gegenüber den Besitzlosen sei, und daß der sogenannte Diebstahl der Notleidenden nur einen illegalen Rechtsausgleich darstelle!«
»Ich betone, diese Bemerkung fiel beiläufig!« unterbricht Lucia erregt.
»Doch sie fiel! Aus welchem Gedankenkomplex heraus entsprang dieses paradoxe Wort vom rechtmäßigen Diebstahl? Aus welchen Gründen verweigert Herr Fischöder sein Alibi? Es ist eine Kette von Indizien!«
»Aber kein einziger greifbarer Beweis!« ruft His jetzt erregt.
»Kein einziger greifbarer Beweis?« schaut ihn der Richter an, greift in seine Tasche und holt eine große silberne Uhr hervor: »Kennen Sie diese?«
»Meine Uhr?!«
»Ihre Uhr!!«
»Wie kommen Sie zu ihr?«
»Sie lag unweit des Toten zwischen Straße und Bahndamm.«
Wie kommt sie dorthin? denkt His, sie kann doch nur auf dem Heidehügel verloren sein, und der liegt stundenweit davon. »Es ist meine Uhr!« sagt er ganz verwirrt. »Es ist wirklich meine Uhr!«
»Und es ist ebensowenig schön, eine Tat zu leugnen, wie seinen todwunden Kameraden verbluten zu lassen und sich aus dem Staube zu machen!«
»Und einen Wehrlosen zu bespeien!!« zerrt His jetzt an seinen Handfesseln und wird zurückgerissen.
»Abführen!«
»Ich bitte eine Erklärung entgegenzunehmen!« tritt Lucia jetzt vor.
»Später!«
»Sogleich! Es darf kein Schuldloser auch nur eine Minute …«
Schrei und Lärm.
»Er ist unschuldig! Er war nit dabei!« ruft eine weibliche Stimme.
Genovef stürzt herein: »Er ist unschuldig, auf Leben und Gewissen!«
»Wie heißen Sie?« fragt der Richter.
»Genovef Ruoff!«
»Verwandt mit dem Angeklagten, dem Toten oder seiner Frau?«
»Aussage vorerst wertlos!« wehrt der Richter und überliest das Protokoll.
Lucia hat Genovef mit großer Aufmerksamkeit betrachtet. Sie schaut auf das blasse, kräftige Mädchen mit dem kühnen, schmerzergriffenen, klaren Gesicht. Was stürzte sie sich für den Verhafteten in das Feuer dieses Verhörs? Wie konnte sie behaupten, er war nicht dabei? – Wie ein Blitz durchfährt es Lucia: dies junge Weib hat ihn besessen! Um dieser Bauerndirne willen hat er ihre Liebe verschmäht!
»Sie hatten noch eine kurze Erklärung, gnädige Frau?« meint der Richter, nachdem er das Protokoll überflogen.
»Ich möchte die Erklärung Ihnen als Zeugin nach Vorladung und unter Eid abgeben!«
»Sehr gut!« Der Richter unterschreibt das Protokoll. »Jetzt aber muß ich bitten, den Raum zu verlassen. Das Zimmer ist bis Montag früh durch das Gericht für jedermann geschlossen!«
*
Marie sitzt auf der breiten Bank in der Küche. Der Vater wird selbst den Sarg zimmern. Genovef mußte zu den Kindern. Drin hinter versiegelter Tür liegt der Mann. Sie darf nicht zu ihm. Warum? Was ist geschehen? Sie begreift nichts mehr. – Ruhen!
Wie ein Alter tränkt der Tropf draußen die Ziegen, pflockt sie an, graset und gießt die Beete.
Gegen fünf kommt Hunschringers Wagen. Der Chauffeur überbringt einen Brief, er soll auf Antwort warten.
»Werte Frau Nädele! Lassen Sie sich zu dem Unglück, das Sie betroffen hat, unser aufrichtiges Beileid aussprechen! Wir wissen Sie unschuldig und unbeteiligt an der bedauernswerten Tat. Sie selbst hätten sie nie gebilligt. Es ist geschehen! – Nun zu dem letzten Zusammenbruch meiner Frau! Sie hat Erbrechen, Schwäche, Fieber. Der Arzt will einen Aderlaß vornehmen, da das Blut sich diesmal nicht gemischt, er will den Verlust mit großer Vorsicht sogleich ergänzen. Bitte benutzen Sie den Wagen! Eile ist not! Ich weiß, was ich fordere! Doch es geht hier um ein Leben!«
»Es geht hier um ein Leben!« liest sie und ist bereit zu gehorchen. Sie steht auf, sich zurechtzumachen, will in das Zimmer: die Tür ist verschlossen! Warum? Plötzlich braust es wie von Geistermund von allen Wänden auf sie ein: »Es geht hier um ein Leben … es geht hier um ein Leben!« Um das Leben dieser hundertfach behüteten Frau ist es gegangen, um das Leben ihres Mannes ging es nie! Zorn durchflammt sie. Sie schreibt auf die Rückseite des Briefes: »Nein!«
»Die gnädige Frau ist ernstlich krank!« mahnt der Chauffeur.
»Gehen Sie!«
Wieder sitzt sie auf der Bank wie leblos. Wie ein Traumgeschöpf kommt jetzt der Tropf, bringt in seinen Ärmchen Holz, geht hinaus, bringt wieder Reisig und schichtet alles vor dem Herd.
»Soll ich zünden?«
»Später.«
»Hast keinen Hunger?«
»Nein.«
»Und der Vater?«