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»Noch lebt in unserm Gedächtnis«, erzählen die Brüder Adolf und Karl Müller, die vielgepriesenen Schilderer unsrer heimischen Tierwelt, einmal, »der Tag, als wir Knaben mit einer Anzahl von Kameraden unsrer kleinen hessischen Vaterstadt vor den Käfigen der ersten Menagerie standen. An Löwen, Tigern, Hyänen und einer Giraffe vorbei ging es unter den großprahlerischen Beschreibungen ihres Besitzers. Endlich wurde unsre Aufmerksamkeit auf ein sonderbares Tier etwa von der Größe eines Spitzes gelenkt, und alsbald vernahmen wir das Wort »Stachelschwein« aus dem volltönenden Munde des Budenbesitzers, der eine Brille mit großen Gläsern trug und eine auffallend rote Nase hatte. »Der Name Stachelschwein kommt von den Stacheln und der großen Ähnlichkeit des Tiers mit dem Schweine«, begann er. Wir bogen uns vor, wir bogen uns rechts und links zur Seite, aber wir konnten nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem Schweine entdecken. Erst als wir das Grunzen vernommen, ahnten wir, daß man den Ursprung des Namens wohl hierin zu suchen habe. »Wer sollte glauben,« fuhr der Schreier fort, »daß dieses boshafte Tier seine Stacheln abschießen kann, wie der beste Schütze den Pfeil, und daß es also seine Feinde tötet?!« Grauen und Entsetzen verbreiteten sich unter den Zuschauern, als das Tier in diesem Augenblick die Stacheln wirklich emporrichtete, als wolle es nach uns zielen, und namentlich mit den kurzen, breiten Stacheln im Schwanze zu rasseln begann. Doch wir blieben alle am Leben, und nur ein einziger Stachel war losgeschossen worden, der jedoch kraft- und wirkungslos nahe dem Gitter niederfiel. Beim Schütteln hatte er sich von dem Stachelhemde losgelöst. Der Mann mit der Brille und der roten Nase nahm ihn heraus und reichte ihn zur Besichtigung herum …« So ähnlich ist's wohl uns allen gegangen, wenn wir zum ersten Male das unheimliche Stachelschwein sahen und mit den Stacheln rasseln hörten, dazu an all die Fabeln dachten, die über sein Pfeilschießen von alters her im Schwange sind. Wegen dieses »Pfeilschießens« wählte sich auch der berüchtigte Ludwig XI. von Frankreich, dessen Zeit uns Walter Scott im »Quentin Durward« so unvergeßlich gemalt hat, das Stachelschwein zum Wappentier mit dem Bandspruch » c?minus et ?minus« (lateinisch, d. h. nah und fern versende ich meine Pfeile). Nun, wenn es auch mit dem Stachelpfeilschießen nicht weither ist, die Stacheln als solche dürfen dennoch unser größtes Interesse beanspruchen. Sie sind nämlich nichts andres als umgewandelte Haare, und wir sind in der Lage, diesen allmählichen Umwandlungsvorgang des ursprünglich weichen, schlichten Säugetierhaars über die Borstenform in das starre Stachelkleid des Igels und Stachelschweins zu verfolgen. Ja, in Westafrika lebt eine Stachelschweinart, der Quastenstachler ( Atherûra africâna), auf dessen Felle alle die einzelnen Formen: Haare, Schuppen, Borsten und Stacheln sich musterbildlich vereinigt finden.
Das Stachelschwein ( H?strix cristâta) gehört zu den Nagetieren ( Rodçntia), wie uns ein Blick auf die meißelartigen, derben Schneidezähne sofort verrät. Es wird etwa 65 Zentimeter lang und 25 Zentimeter hoch und kann ein Gewicht von 20 Kilogramm erreichen; das Stachelkleid läßt es viel größer und dicker erscheinen, als es tatsächlich ist. Der gedrungene, dunkelbraune Leib wird von verhältnismäßig hohen Beinen getragen. Ein plumper Kopf auf derbem Halse mit kleinen Augen und Ohren und breiter Oberlippe und ein kurzer Schwanz vervollständigen das Bild des wenig intelligenten, trägen Tiers, das nur durch sein Stachelkleid merkwürdig ist. Kopf und Nacken sind mit starren Haaren und langen, derben Borsten mähnenartig bekleidet, einer Mähne, die willkürlich gesträubt und niedergelegt werden kann. Die übrigen zwei Drittel des Körpers tragen kurze und lange, harte, rundliche, zugespitzte Stacheln, zwischen denen überall borstige Haare bemerkbar sind. Die Stacheln sind im Innern hohl und von einem schwammartigen Mark erfüllt, an der Spitze aber geschlossen. Die längsten (40 Zentimeter) sind biegsam und dünn; die kürzeren, starren erreichen immerhin noch eine Länge von 20 bis 30 Zentimeter bei einem stärksten Umfang von etwa 3 Zentimeter. Sie sind dunkelbraun, mit schmalen weißen Bändern gefleckt; Spitze und Wurzel sind rein weiß. Der Schwanz zeigt eine Anzahl harter, dicker, weißer Stacheln, die nur etwa 5 Zentimeter lang werden, abgestutzt und am Ende offen sind. Besondere, kräftig wirkende Hautmuskeln gestatten dem Tiere, diesen Stachelpanzer mit einem Ruck willkürlich aufzurichten, wobei sich ein lautes, vornehmlich von den Schwanzstacheln herrührendes Rasseln hören läßt, und gelegentlich auch einzelne, locker gewordene Stacheln davongeschleudert werden. Solches Rasseln soll vermutlich den Zweck haben, den andern Tieren das Nahen eines beachtlichen Gegners anzukünden und sie zu schrecken; es ist an stillen Tagen ziemlich weithin vernehmbar. Die Zehen tragen derbe Grabkrallen, mit denen sich das Stachelschwein in hartem Erdreich tiefe Höhlengänge baut.
Tagsüber in seinem Bau ruhend, geht das Stachelschwein, das sich von Wurzeln und Früchten, Pflanzen aller Art, Baumrinde u. dgl. nährt, nachts auf Beute aus. Selten sieht man mehrere beieinander; es ist ein ausgesprochen ungeselliges Wesen, nur die Jungen leben eine Zeitlang mit der Mutter vereint. Unbeholfen, langsam, vermag es doch auch trippelnd zu laufen, wenn ihm Gefahr droht. Für gewöhnlich aber richtet es dann die Stacheln rasselnd auf, kugelt sich in höchster Not wie ein Igel zusammen und harrt der Dinge, die da kommen. Feinde hat es außer dem Menschen kaum. Sowohl die Araber wie die Neger jagen es des Wildbrets wegen, das wie Schweinefleisch schmecken soll; die Buren räuchern es auch wie dieses im Schornstein. Die Araber versuchen, das Tier mit Hakenstangen aus dem Bau herauszuholen. Gelingt das nicht, so kriecht ein in dicken Pelz gehüllter Knabe in den Bau und fördert das widerstrebende Tier zutage. Es wird mit einem Knüttelhieb auf den Kopf erschlagen oder durch Lanzenstiche getötet. »Man weidet es aus, füllt den Leib mit Salz und aromatischen Kräutern, und so endlich erscheint der klassische Braten auf der Festschüssel des Mahls. Unter Tamtamklängen und mit orientalisch-förmlicher Etikette wird es langsam, fast bissenweise verzehrt: ein Hochgenuß, den sie tagelang erneuern, obgleich der Geruch der Fäulnis endlich das ganze Zelt erfüllt« – so schildert ein Reisender den arabischen Stachelschweinbraten. Übrigens wird das Tier auch in Italien gegessen. Hier und in Kapland jagt man es zur Nacht bei Fackelschein, indem man es erst durch Hunde aufspüren und stellen läßt, dann einkreist und mit einem Knüttel tötet. Die eigentliche Heimat des Stachelschweins ist Nordafrika, von wo aus es sich bis nach Vorderasien einerseits und durch ganz Afrika andrerseits verbreitet hat. Nach Italien (bis über Rom hinaus) ist es wohl erst mit den Römern gekommen und dann verwildert. Hier wird es von umherziehenden Schaustellern in den Dörfern gezeigt, wie einst bei uns Savoyardenknaben mit dem Murmeltier umherzogen. Daß man aus den elfenbeinharten Rückenstacheln Federhalter u. dgl. fertigt, ist bekannt.
Sehr eigenartige Verwandte besitzt das Stachelschwein in Amerika. Sie leben nämlich nicht in Erdhöhlen, sondern hausen auf Bäumen. In Nordamerika ist der Urson ( Er?thizon dorsâtum) weit verbreitet. Dieser 80 Zentimeter lange Baumstachler klettert mit Hilfe seiner scharfen Krallen. Die scharfen Stacheln seines Pelzes werden fast ganz von den braunen Haaren verdeckt. Der Schwanz ist breit und abgeflacht und dient mit seiner Bestachelung – die Stacheln sitzen hier nur ganz locker – dem Urson als furchtbare Waffe, mit der er sich sogar die stärkeren Raubtiere vom Halse hält. Ein Schlag damit spickt die Schnauze des Angreifers wie mit scharfen Nadeln und macht dem Getroffenen das Beißen und Fressen für Wochen unmöglich. Durch seine Gewohnheit, die Stämme junger Bäume abzuschälen, um die Rinde zu verzehren, wird der Urson in bewohnten Gegenden sehr schädlich. Bei einzelnen Indianerstämmen genoß er abergläubische Verehrung. Die Indianer schmücken im übrigen ihre Lederkleidung und die Mokassins (Pelz- und Lederschuhe) vielfach mit sehr geschmackvollen Stickereien aus den Stacheln dieses Stachelschweins.
In Südamerika tritt an seine Stelle der Ku?ndu ( Cercolâbes preh?nsilis). Dieser Greifstachler ist durch einen fast halbmeterlangen Wickelschwanz ausgezeichnet, mit dem er sich wie manche Affen an den Ästen festhält. Er ist über und über bestachelt; die Stacheln sind hart, nadelförmig, sehr spitz und von gelblich-weißer Farbe. Ein ähnliches Kletterstachelschwein, mit kürzerem Greifschwanz, ist der in Brasilien heimische Cuiy ( Cercolâbes vill?sus), bei dem das Stachelkleid von langen, eisgrauen Haaren überdeckt wird.