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Der Ameisenbär

»Ich hatte überhaupt noch kein derartiges Tier gesehen,« erzählt Hagenbeck in seinen Lebenserinnerungen, »als mich im März 1864 ein englischer Freund benachrichtigte, in Southampton sei ein ausgewachsener Ameisenbär aus Argentinien eingetroffen. Sofort reiste ich nach England. Der Eigentümer des Tieres wohnte auf einem Landsitz vier Meilen von Southampton entfernt, wohin wir uns in einem Wagen begaben. Der Bär lief frei im Garten umher, wo der Schnee zwei Zoll hoch lag. Sein Nachtlager hatte das Tier im Hühnerstall; hier hatte man einige Bündel Heu aufgeschichtet, in das es sich verkroch. Nachdem ich es gekauft hatte, meinte der frühere Besitzer, ich könnte es ganz ruhig mit in die Droschke nehmen; nur müsse man die Fenster schließen, damit es nicht hinausschlüpfe. Da ich von der Gefährlichkeit eines solchen Tiers noch keine Ahnung hatte, ließ ich mich zu dem Streich überreden, den Ameisenbären mit in die Droschke zu nehmen. Mein Freund setzte sich auf den Bock. Da saß ich nun also mit meinem vierfüßigen Nachbarn, der bald in beängstigender Weise unruhig wurde und mich plötzlich mit seinen beiden scharfbekrallten Vorderbeinen zu packen versuchte. Zunächst hatte er es auf meine Beine abgesehen, in die er sich so fest einkrallte, daß ich Mühe hatte, ihn wieder loszubringen. Während der ganzen Fahrt balgten wir uns hin und her, fortwährend mußte ich mich neuer Angriffe erwehren, und das war keine leichte Arbeit; denn das Tier maß von der Nasenspitze bis zum Schwanzende rund zwei Meter und besaß Riesenkräfte. Ich war vollständig zu Ende mit meiner Energie, als wir endlich in Southampton ankamen, und ich meinen Freund zu Hilfe rufen konnte.«

Solchen Ringkampf, wie ihn Hagenbeck hier schildert, soll nach den Berichten der brasilianischen Jäger der Ameisenbär auch gelegentlich im Urwalde mit dem Jaguar vollführen. Er richte sich dabei nach Art unsres Bären auf und umarme den Jaguar; zuweilen soll dieser Kampf beiden das Leben kosten. Für gewöhnlich aber wirft sich der Ameisenbär, wenn er durch seinen schwerfälligen Galopp nicht mehr zu entrinnen vermag, auf den Rücken und bedroht den Verfolger mit seinen spitzigen Klauen.

siehe Bildunterschrift

Ameisenbär

Eine abenteuerlichere Tiergestalt als der im tropischen Südamerika heimische Ameisenbär ( Myrmecophâga jubâta) ist kaum erdenkbar. Beim ersten Anblick hat man nur den Eindruck von etwas wirr Zottigem, in die Länge Gerecktem: der Kopf ist zu lang, der Körper ist zu lang, der Schwanz ist zu lang. Schläft der Ameisenbär, wobei er den Kopf zwischen die Vorderbeine steckt, sich zusammenbiegt und mit dem buschigen Schwanze bedeckt, so sieht das aus, als läge da die zottelige Perücke eines Riesen auf der Erde, graues und schwarzes, gescheiteltes Haar. Richtet er sich dann erwachend auf, so fährt man unwillkürlich zurück. Denn nun kommt ein langes, schwarzsamtenes Futteral zum Vorschein, daraus plötzlich wie im Märchen ein Schlänglein schießt: dies Futteral ist der leicht nach unten umgebogene, lang kegelförmig ausgezogene, wie kurzgeschorene Kopf mit den winzigen Augen und kleinen Ohren, und das Schlänglein ist die halbmeterlange, wurmartig runde, klebrige, bestachelte Zunge, die für sich zu leben scheint und durch besondere Muskeln bewegt wird. Jetzt erhebt sich die Perücke auf kurzen, krummen Beinen, schüttelt sich, daß die gescheitelte Rückenmähne herabfällt, und der riesige, fast körperlange Schwanz wie eine Schleppe schleift. Aus dem allgemeinen Haargrau mustert sich ein Ornament heraus: ein tiefschwarzer, nach hinten schmäler werdender und spitz zulaufender Streifen, ein unregelmäßiger Keil, zieht vom Kopf aus schräg über den Rücken, von zwei blaßgrauen, fast weißlichen Borten gesäumt – wie eine absonderliche, schief sitzende, verschnittene Schabracke. An den Vorderfüßen zeigen sich mächtige Scharrkrallen, vier an der Zahl, von denen die innerste und äußerste gerade und etwa viereinhalb Zentimeter lang, die zweite viel kürzer (etwa ein Zentimeter) und gebogen, die dritte aber sechseinhalb Zentimeter lang, gebogen und an beiden Rändern geschärft ist. Diese Grab- und Brechwerkzeuge schlägt der Ameisenbär, um sie nicht abzunützen, sondern scharf zu erhalten, beim Gehen und in der Ruhe nach innen gegen die Fußsohle zurück, wie wir etwa beim Schließen der Hand die Finger gegen den Handballen legen; er tritt also nur mit dem äußeren, schwieligen Rande der Fußsohle auf. Die viel kürzeren Nägel der Hinterfüße dagegen bleiben ausgestreckt. Ein Blick in das Maul, das wirklich nur eine Schutzvorrichtung für die Zunge zu sein scheint, zeigt uns, daß dem Tiere die Zähne völlig mangeln, daß es also mit Fug und Recht in die Ordnung der Zahnlosen ( Edentata, s. S. 301) gehört.

Eine feste Wohnstätte scheint der Ameisenbär nicht zu lieben: bei Tage schweift er in der Ebene umher; bei Einbruch der Nacht tut er sich nieder, wo er sich gerade befindet, freilich bevorzugt er dabei Stellen mit hohem Grase oder Büsche, die ihn verbergen. Für gewöhnlich streift er allein durch sein Jagdgebiet, nur das Weibchen führt das Junge längere Zeit mit sich. Seine Nahrung besteht ausschließlich in Termiten und Ameisen. Mit seinen mächtigen Krallen zerbricht er die oft mannshohen, harten Lehmbauten der Termiten, senkt die klebrige Zunge wie eine Angelschnur hinein und zieht sie, mit den zappelnden Insekten dicht bedeckt, wieder heraus. Das soll er in der Minute etwa fünfzig Male tun. Man kann sich wohl vorstellen, welche ungeheure Zahl von Termiten und Ameisen nötig ist, um ein so großes Tier zu sättigen, und gewinnt damit zugleich eine Vorstellung vom Nutzen des Ameisenbären im Haushalt der tropischen Natur. Die Indianer jagen das Tier des Fells und des Fleisches wegen; sonstige Feinde hat er wohl nur im Jaguar und Kuguar.

Als der Ameisenbär, dessen Transport Hagenbeck so ergötzlich geschildert hat, im Hamburger Zoologischen Garten eintraf und im Affenhause untergebracht wurde, ergriff sämtliche Bewohner dieses eine wahre Panik ob des abenteuerlichen Gesellen.


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