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»Du bist und bleibst ein altes Faultier«, pflegt der Lehrer einen trägen Schüler zu schelten. Eltern, Lehrer und Feldwebel entnehmen mit Vorliebe ihre Scheltworte dem Tierreiche. Und das Tier, das sich ja nicht mit Worten wehren kann, muß sich das eben gefallen lassen, gleichviel ob es die ihm beigelegte Eigenschaft besitzt oder nicht; nur zu häufig ist es ganz anders geartet, als das Scheltwort glaubt. So gilt uns z. B. das Schaf als unsäglich dumm, und doch ist das wilde Schaf ein kluges, geschwindes Geschöpf, wie die Gemse, mutig und kampflustig: erst die Sklaverei des Menschen hat es zum »Schafskopf« gemacht. So ist der wilde Esel voll ausdauernder Kraft, wie schon Homer weiß, und schneller als selbst das Pferd, wie uns bereits Xenophon in der »Anabasis« berichtet; die Dickfelligkeit und Gleichgültigkeit hat allein der Mensch dem zahmen Esel angeprügelt. Freilich das »Faultier« trägt seinen Namen zu Recht: es ist über die Maßen träge, dazu noch dumm und stumpfsinnig; es ist, wie die spanischen Entdecker Südamerikas sagten, »das trägste Tier, das man in der Welt sehen kann«, und darum nannten sie es spottend das »hurtige Hündchen«. Aber in der Natur hat alles seinen guten Grund: dem Faultier, das im dichten Urwaldinnern Brasiliens haust, wächst wie im Schlaraffenlande alles ins Maul, es hat keine zu fürchtenden Feinde und keine Konkurrenten im Kampfe ums Dasein; so kann es sich die Trägheit und Dummheit schon gestatten. So faul und dumm, wie es uns im Käfig erscheint, ist es überdies nicht: es ist ein ausgesprochenes Nachttier, wird also erst in der Dunkelheit munter und lebendig; es braucht die feuchte Wärme des tropischen Urwalds und braucht hohe Bäume zum Klettern. Im Käfig hängt es tagsüber wie ein Riesenknäuel Wollumpen an seiner Stange, ein rundes Bündel, aus dem nur der Stummelschwanz hervorschaut. Wird es gestört, so biegt es verdrießlich den kleinen, rundlichen Kopf von der Brust ab, dreht den langen dünnen Hals nach allen Richtungen, rund herum, daß das Gesicht geradezu nach hinten sieht, dreht ihn bedächtig wieder zurück, legt den Kopf wieder an die Brust und döst weiter.
Dieser lange, überaus bewegliche Hals ist eine Eigentümlichkeit des Faultiers ( Brâ?dypus trid?ctylus), das zwei Halswirbel mehr besitzt als alle übrigen Säugetiere und ebendiesen neun Halswirbeln die Fähigkeit verdankt, das Gesicht buchstäblich auf den Rücken drehen zu können. Mit den langen Sichelkrallen, in denen seine ganze Kraft steckt, sich gleichsam am Baume emporhakend oder richtiger hangelnd, hängt es sich, den Rücken nach unten gekehrt, an einem Aste auf und verharrt so stundenlang in träger Ruhe. Von Zeit zu Zeit führt es mit den drei Krallen der einen oder andern Hand tau- und regenfeuchte Blätter und Früchte zum Maule. Da Arme und Beine weit voneinander entfernt eingelenkt sind, vermag das Faultier mühelos, ohne seine Stellung zu verändern, einen größeren Bezirk abzuweiden, der für sein geringes Nahrungsbedürfnis auf lange ausreicht. Diesem hängenden Baumleben ist auch der Pelz des Tieres vortrefflich angepaßt. Seine wolligen, schmutzig-graubraunen Haare, in denen sich des öfteren sogar Algen ansiedeln sollen – das Bild eines Flechtenbüschels oder bemoosten Astknorrens für das Auge etwaiger Feinde noch täuschender gestaltend –, sind vom Bauche her nach dem Rücken zu gescheitelt, so daß der Regen leicht abfließen kann. Sehr originell sieht das Gesicht des Faultiers aus: ein winziges, greisenhaft verhutzeltes Gesichtchen, mit wahren, blöden Schweinsäuglein nur, die aus der Pelzzeichnung wie aus einem weißen Lärvchen hervorschauen, ein stumpfes, blankes, schwarzes Schnäuzchen, das Ganze umrahmt von einer genialen Franz-Liszt-Mähne. Mit Ameisenbär und Gürteltier gehört das Faultier, von dem es übrigens zwei verschiedene Arten gibt: ein zweizehiges oder »Unau« und das hier geschilderte dreizehige oder Aï, zur Ordnung der Zahnarmen oder Zahnlücker ( Edentata), d. h. es hat nur wenige, wurzel- und schmelzlose Zahnbeinstifte in den Kiefern. Ist das Aï schon kein sonderlich behender Kletterer, so wird der »armselige Baumsklave« auf dem Erdboden vollends hilflos; es ist das einzige Landsäugetier, das »weder gehen, noch stehen« kann. Beim Gehen auf der Erde sucht es, mit den Armen tastend und weit ausgreifend irgend etwas Festes zu packen, um sich daran weiterzuziehen, und schiebt sich auf unebenem Boden in der Minute so nur um etwa fünf bis sieben Meter vorwärts. Den seltsamen Namen Aï gaben die Indianer dem Tiere nach seinem Ruf, der nächtlicherweile wie ein wimmerndes Seufzen, wie ein Hilfeschrei tönt. Welche Kraft übrigens in den Krallen und Gliedmaßen des Faultiers steckt, bezeugt uns Schomburgk. Seine drei indianischen Begleiter vermochten nur unter größter Anstrengung einmal ein ruhendes Faultier von seinem Aste loszureißen, und auch das erst, nachdem sie ihm die Arme, »seine einzige, wegen der scharfen, langen Krallen aber nicht ungefährliche Verteidigungswaffe«, gefesselt hatten. Andre Reisende berichten, daß das Aï mit den mächtigen Sichelklauen den Leib der Riesenschlangen zu durchschneiden vermag.
Das Faultier mißt etwa ein halbes Meter, ist also nur so groß wie ein kleiner Affe. Einstmals aber hat in Südamerika ein Faultier gelebt, das Grypotherium, das die Größe eines Ochsen erreichte, und ein noch riesigeres, das Megatherium, das rund fünf Meter lang und rund drei Meter hoch war. »Dreifach so wuchtig als ein Stier, dreifach so schwer und dumm«, singt der lustige Scheffel davon. Die Indianer der Pampas wollen wissen, daß dieses Tier: »ein Riese mit furchtbaren Krallen, langen Haaren und schier unverwundbarer Haut«, noch heute in den unzugänglichen Urwäldern hause. Und hierzu ist nun etwas Seltsames zu berichten. Um die Wende des vorigen Jahrhunderts haben O. Nordenskjöld und R. Hauthal in Höhlen Patagoniens Funde gemacht, die uns verraten, daß das Grypotherium, dieses Riesenfaultier, in längst vergangenen Zeiten von den alten Indianern als Haustier gehalten wurde. Zumal die Höhle zu Ultima Speranza erwies sich als ein riesiger Stall dieser Faultiere. Da war, von Schutt und Geröll halbmeterhoch bedeckt, an einer Stelle Heu aufgespeichert, da war an einer andren Stelle der Mist angehäuft, fanden sich hier und da zu Kleidungsstücken zugeschnittene Felle des Tiers, Reste von Schnur und Sehnen, Knochenpfrieme zum Nähen, war endlich der eigentliche Stall im Innern der gewaltigen Höhle durch einen Wall von Felsblöcken umhegt und gegen den Wohnraum abgegrenzt. Kein Zweifel: hier hatte der Mensch einstmals mit dem Riesenfaultier zusammen gehaust. Die Fellstücke wurden dann in Europa genauer untersucht. Es gelang, sie durch Befeuchten wieder völlig geschmeidig und frisch zu machen, und es zeigte sich, daß das Fell mit bohnenförmigen Knöchelchen wie gepanzert war. Das bestätigt also die Angaben der patagonischen Indianer in gewissem Grade, und eine Anzahl von Forschern glaubt demnach auch, daß eines Tags vielleicht wirklich noch das Riesenfaultier irgendwo in den Urwäldern des Gran Chaco lebend angetroffen werde, wie ja auch das Schnabeltier Australiens uns erst ausgangs des neunzehnten Jahrhunderts näher bekannt wurde, und das Okapi des Kongo-Urwalds vollends erst im Jahre 1900 entdeckt worden ist.