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In meine Kindheit fiel die Nordpolexpedition Fridtjof Nansens. Unsere buntbewegte Zeit, die Weltkrieg und Weltrevolution, die Entdeckung beider Pole, die Erfindung von Flugzeug und Luftschiff, Radio, Kino, U-Boot und Fernsehen miterlebte, kann sich schwer eine Vorstellung davon machen, welch allgemeine Anteilnahme die Reise Nansens seinerzeit auslöste. Auch in unserm Familienkreis wurde die Fahrt der »Fram« eifrig verfolgt; als später Nansens Werk »In Nacht und Eis« erschien, wurde es von meinem Vater vorgelesen, und wir Kinder lauschten andachtsvoll.
»Nacht und Eis«, das war der Begriff, den die zivilisierte Welt seinerzeit unweigerlich mit der Arktis verband. Das Polargebiet war in mystisches Dämmer gehüllt, und schon der Gedanke daran ließ einen frösteln. Die bloße Vorstellung, dorthin eine »Familienreise« zu unternehmen, wäre eine glatte Unmöglichkeit gewesen.
Inzwischen hat sich viel gewandelt auf der Erde. Ihre letzten Winkel sind erforscht worden, und diese Erforschung hat am Polarkreis nicht halt gemacht. Bei näherer Bekanntschaft mit dem Ewigen Eis aber begann es viel von seinen Schrecken zu verlieren, ja einzelne Polarforscher sprachen sogar von einem »gastlichen Norden« und behaupteten, daß es allerlei wirtschaftliche Möglichkeiten im Polargebiet gäbe, das man bisher für eine tötliche Eiswüste gehalten hatte.
Damit begann mein Interesse an der Arktis. Ich war von frühester Kindheit an entschlossen, ein Weltfahrer zu werden, allein das rein Geographische hatte mich nie gefesselt, sondern nur der Mensch und die Möglichkeiten, die die einzelnen Gebiete der Erde dem Menschen bieten.
Im Grunde war es nur Unkenntnis und Vorurteil gewesen, die Polarländer für unbewohnbar, unwirtlich und wertlos zu halten. Wenn es stimmt, daß die Erde zuerst eine feurige Gaskugel war, die, durch den Weltenraum eilend, sich langsam abkühlte, so muß alles Leben und auch alles menschliche Leben an den Polen entstanden sein, zum mindesten dort die erste Stätte gehabt haben, da ja die Pole als erste abkühlten. Die riesigen Kohlenlager in der Arktis und die Fossilien künden, daß hier, wo jetzt ewiges Eis lastet, einst große Wälder grünten, Palmen und tropische Pflanzen wuchsen.
Aber auch als der Nordpol in Eis erstarrte, blieb er menschliche Wohnstätte. Seit Tausenden von Jahren leben Menschen in »Nacht und Eis« in Gegenden, die wir bisher für unbewohnbar und lebensfeindlich hielten. Diese Bewohner des Polgebiets, die Eskimos, sind Menschen von unserm Fleisch und Blut. Sie sehen anders aus als wir Europäer – übrigens nicht einmal so sehr anders –, und sie sind härter und bescheidener in ihren Ansprüchen als wir, aber das ist alles.
Diese Menschen sind noch aus einem besonderen Grund für uns interessant. So wie sie, müssen auch unsere Vorfahren einmal gelebt haben, zur Eiszeit. In der Arktis ist heute noch Eiszeit, und die Menschen dort sind Eiszeitmenschen, lebende Fossilien einer in unserer Breite längst vergangenen Zeit.
Es war in Inneraustralien, wo mir die Ähnlichkeit der heute noch lebenden Primitiven mit unseren vorgeschichtlichen Ahnen lebendig und eindrucksvoll bewußt wurde. Immerhin fällt es ein wenig schwer, sich vorzustellen, daß unsere Vorfahren einst so gelebt haben sollen wie die australischen Ureinwohner. Die Verschiedenheit des Klimas, der Flora und Fauna schiebt sich störend dazwischen. Aber beim Eskimo drängt sich der Vergleich mit den Eiszeitmenschen ohne solche Hemmung auf. Im Ewigen Eis ist nur eine Lebensform möglich – wie sie die Eskimos entwickelt haben – und auch unsere Vorfahren müssen zur Eiszeit genau so gelebt, ja ebenso gedacht haben wie die heutigen Eskimos; denn die seelische Anpassung an die Erfordernisse des Ewigen Eises ist genau so lebenswichtig und eindeutig bestimmt wie die materielle. Vielleicht wird auch der letzte Mensch einmal so leben, wenn die Erde bis zum Äquator abgekühlt sein wird, falls ihr Schicksal nicht einen ganz andern, für uns unvorstellbaren Lauf nimmt.
Bis dahin werden freilich noch Äonen vergehen, und in der Zwischenzeit ergibt sich die Möglichkeit, ja Notwendigkeit, die arktischen Gebiete zu erschließen. Die weiße Rasse hat in den letzten Jahrzehnten ihren Lebensraum und ihr Herrschaftsgebiet weit über die ihr bestimmte gemäßigte Zone nach Süden wie nach Norden ausgedehnt. Im Süden stößt sie freilich auf den wachsenden Widerstand der braunen, gelben und schwarzen Menschen, die plötzlich auch mehr Raum beanspruchen. Der Norden aber ist leer, wenn man von den paar tausend Eskimos, Tschuktschen und sonstigen Primitiven absieht.
Möglichkeiten des Nordens heißt nun nicht, daß da plötzlich Reichtümer zu holen seien, von gelegentlichen Gold-, Radium- oder sonstigen Funden abgesehen, oder daß die Bedingungen dort günstiger lägen als in der gemäßigten Zone. Norden bleibt Norden, das heißt, das Leben dort ist in jedem Fall härter, entbehrungsreicher und karger als in Gebieten, in denen die Sonne länger und wärmer scheint. Aber es ist gleichzeitig auch heroischer, und so entwickelt und bewahrt es Fähigkeiten, die in milderem Klima nie entstehen oder verlorengehen.
Im Norden ist noch Platz, viel Platz bis in das Ewige Eis hinauf, in dessen Reich eine beschränkte Zahl Menschen der lebensfeindlichen Natur ein Dasein und noch dazu ein glückliches Dasein abzutrotzen versteht.
Selbst dem rein rechnenden Sinn, der nur mit Mark und Pfennig arbeitet und für den es keine andern Werte als materielle gibt, bietet der Norden allerlei: noch unübersehbare Mineralschätze, die Möglichkeiten der Rentier- und Moschusochsenzucht, den Polflug, dessen Verwirklichung das Verkehrsbild der Erde von Grund aus ändern wird und die meteorologische Beobachtung, die vielleicht einmal eine viel sicherere und viel langfristigere Wettervorhersage als jetzt ermöglichen wird.
Aber von all dem soll nicht so sehr die Rede sein wie von etwas anderm, das auf den ersten Blick belanglos erscheinen mag, das noch gar nicht in den Gesichtswinkel der meisten Menschen getreten ist. Ich meine den Umbau unseres Weltbildes, die Ausbalancierung zwischen Maschine und Magie, Mechanik und Mythos, Ratio und Religion. Beide müssen im richtigen Verhältnis zueinander stehen, und unsere Zeit ist so in Unordnung geraten, weil wir das Mechanische gegenüber dem Mystischen überentwickelt, das Religiöse hinter das Rationelle zurückgedrängt haben.
Man mag dem zustimmen, aber auf den ersten Blick nicht recht begreifen, was die Arktis mit all dem zu tun hat. Nun, das ist sehr einfach. Unsere Zivilisation ist am Scheitern, wir lassen Menschen hungern, obgleich wir unter Verhältnissen leben, die von der Arktis aus gesehen geradezu unvorstellbar günstig sind. Die Menschen in der Arktis lehren uns, daß Leben, und zwar ein fröhliches, erfülltes Leben noch unter Umständen möglich ist, die tausendmal schlechter sind als die, die wir als unerträglich ansehen. So absurd es klingen mag, für den so notwendigen Umbau unserer Zivilisation und Kultur können wir von den Eskimos nur lernen, die eine Lebensform und ein Weltbild ausgebaut haben, das sich geradezu vorbildlich den harten Bedingungen anpaßt, unter denen sie zu leben gezwungen sind und die allein erst das Dasein möglich und erträglich, ja glücklich machen. Diese Menschen des frostigen Nordens gehören mit zu den fröhlichsten Völkern der Erde. Nun können und sollen wir freilich keine Eskimos werden. Aber wir können von ihnen lernen, wie sich unter den schwierigsten Verhältnissen ein glückliches und zufriedenes Leben aufbauen läßt.
Die Eskimos, wenigstens die der Zentralarktis, von denen dieses Buch handelt, haben sich von der Zivilisation nicht überrennen und nicht imponieren lassen. Sie halten von ihrem Standpunkt aus den weißen Mann für unterlegen – mit einem gewissen Recht, wenn man bedenkt, in welchem Maße dieser in dem Polargebiet von ihnen abhängt. Sie haben natürlich von dem Europäer übernommen, was ihnen zweckmäßig erscheint, vor allem seine Gewehre, ohne die sie heute nicht mehr leben können, aber schon Visier und Korn des europäischen Gewehres nehmen sie nicht an. Sie feilen sie ab und setzen neue aus Kupfer darauf, die ihrer Art des Schießens besser angepaßt sind, was zum mindesten ein ebenso hohes Maß von Kritik, wie von Selbstbewußtsein und Geschicklichkeit verrät.
Aber trotzdem hängen die Bewohner der Arktis heute restlos von der Gnade des weißen Mannes ab. Er kann sie ausrotten oder zugrunde richten, genau wie er den Indianer ausgerottet und zugrunde gerichtet hat. Aber der Leidtragende wäre der weiße Mann selbst, der ohne die Eskimos die Polarzone nicht erschließen und entwickeln kann.
Diese Erschließung und Entwicklung wird freilich sehr langsam vor sich gehen. Das Wichtigste, was der Weiße dabei vom Eskimo lernen kann, ist dessen innerliche und äußerliche Unabhängigkeit. Davon müssen wir ein gut Teil zurückgewinnen, wollen wir an unserer allzu sehr aufgeteilten und zerstückelten Arbeits- und Lebensweise nicht selbst in Stücke gehen.
Das erste und wichtigste ist der ganze und ungeteilte Mensch, der nur auf sich gestellt ist, nur in sich ruht – und das ist es, was wir im Ewigen Eis lernen können.
Dies ist eine etwas schwere und schwierige Einleitung für ein an sich leichtes und leicht zu lesendes Buch geworden, denn es enthält lediglich die Erlebnisse einer Familienreise in der Arktis; die Fragen, die sich dabei ergeben, sind höchstens angedeutet.
Eine Reise mit Familie ins Ewige Eis mag noch unangebrachter erscheinen als eine solche in die Wüste. Aber es ist durchaus nicht der Fall. Der Mann der Arktis, der Eskimo, reist grundsätzlich mit »Kind und Kegel«, er kennt es gar nicht anders.
Ehe weiße Frauen und Kinder so in der Arktis reisen können wie es die Eskimos tun, wird freilich noch gute Zeit vergehen, wenn es überhaupt je möglich sein wird. Aber wenn sich der weiße Mann die Arktis wirklich erschließen will, wird er Frau und Kinder dorthin mitnehmen müssen. Der Mann mag entdecken und erobern. Allein er vermag ein entdecktes und erobertes Land erst dann sich wirklich anzueignen, wenn er seine Frau dorthin mitbringt und dort eine Familie gründet. In jedem andern Falle bleibt es vorübergehender, rasch wieder entschwindender Besitz.
Das Polargebiet gilt einstweilen noch als ein für weiße Frauen und Kinder unbetretbares Land. In der ganzen Arktis trafen wir nicht ein weißes Kind und lediglich drei weiße Frauen und auch die nur am Rande der Arktis, im südlichen Baffinland, bereits unterhalb des Polarkreises.
Sicher ist es ein unendlich hartes und entbehrungsreiches Leben, das den Europäer in dem Land des weißen Schweigens erwartet; das gilt vor allem für die ersten Frauen, die ihren Männern dorthin folgen. Trotzdem wird es in erster Linie von diesen heroischen Frauen abhängen, ob die Arktis einmal restlos bezwungen sein wird und ob man einmal vom »Ende des Ewigen Eises« wird reden können, in dem gleichen Sinne, in dem man heute vom Ende der Wildnis spricht, als eines Gebietes, das die früheren Schrecken für uns verloren hat.
Colin Roß