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An Bord der »Nascopie« im Lancastersund.
Als wir aus der Baffinbucht nach Westen in den Lancastersund einbogen, lag er breit und offen vor uns, eine klar erkennbare Meeresstraße, ein Meer fast. Gen Süden zu war überhaupt kein Land zu erblicken, und im Norden zeigte sich die Südküste der Devoninsel nur in schattenhaften Umrissen. Ein frischer Wind wehte, und die Wellen kamen in breiter Front den Sund herausgerollt, eisengrau mit weißen Schaumkronen. Kein Schiffer, der die Baffinbucht herauf polwärts segelte, konnte einen Augenblick im Zweifel sein, daß hier eine breite Straße nach Westen führte, die geheimnisvolle, langgesuchte Straße zu den Schätzen Chinas und Indiens – die Nordwestpassage.
Trotzdem hat der Lancastersund sein Geheimnis lange genug bewahrt; er hat zuletzt meinen Vorfahren, den Kapitän John Roß genarrt, als der vor etwa hundert Jahren im Auftrage der britischen Admiralität mit seinen beiden Schiffen »Isabella« und »Alexander« von der Baffinbucht aus einen Weg in den Pazifischen Ozean suchte.
Ich weiß noch wie heute, wie mein Vater mir von den beiden berühmten Vorfahren John und James erzählte, die jahrelang in der Arktis nach der Westlichen Durchfahrt suchten, dabei den Magnetischen Nordpol entdeckten und schließlich nach unendlichen Mühsalen und Gefahren mit knapper Not gerettet wurden. Damals ahnte ich nicht, daß es mir einmal selbst vergönnt sein würde, auf ihren Spuren in der Arktis zu reisen, noch dazu einen zehnjährigen Sohn zur Seite, der heute noch nicht begreifen kann, was es bedeutet, als Kind Gegenden der Erde zu sehen, deren Anblick noch vor kurzem mit tödlicher Gefahr bezahlt werden mußte.
Es ist das letzte Stück des »Okeanos«, das heute erschlossen wird. Der Okeanos war einst das Weltmeer, das die bewohnte Erde umschloß, das Grenzenlose. In der Vorstellung aller Völker war es dieser Weltozean, der die Grenze des Endlichen darstellte, die unüberschreitbare Barriere. Er umgürtete das Weltbild der Griechen wie das der Inder und Germanen. Es spukte noch in den Köpfen der Besatzung der Karavellen des Kolumbus, die befürchtete, in dem Rachen der Seeungeheuer zu landen, die diesen Ozean bevölkern.
Wie die Neue Welt entdeckt war, der Globus umfahren, zog sich der Okeanos nach den beiden Polen zurück. Hier blieb er Grenze, die Grenze des Unbetretbaren, Unbefahrbaren.
Heute sind beide Pole entdeckt. Diese Entdeckung bedeutet jedoch praktisch nicht mehr, als die erste Fahrt des Kolumbus, weniger noch. Die Pole und das sie umgebende Meer und Land sind noch nicht einbezogen in die Weltwirtschaft, noch nicht eingegliedert in den Weltverkehr. Hier ist das Meer nicht die breite, bequeme Handelsstraße, die es heute sonst überall auf der Erde darstellt, sondern immer noch Okeanos, das Grenzmeer, das die bewohnte Welt von der unbewohnten scheidet.
Wir sind heute dabei, diese Grenzen zu verrücken, sie völlig aufzuheben, auch das Eismeer und das letzte Polargebiet zu erschließen. Dieser Aufgabe dient die Fahrt unserer »Nascopie« über die letzten Handelsposten der Hudson's Bay Company hinaus, sie bedeutet die faktische Inbesitznahme und Sicherung dieser Gebiete, die wir uns vor kurzem noch lediglich als »Nacht und Eis« vorstellten, die in naher Zukunft jedoch bereits einen wirtschaftlichen Wert bekommen können.
So setzen wir nur das Werk von John und James Roß fort, allerdings mit weiterer Zielsetzung und mit modernen Mitteln. Und mit welch modernen Mitteln! Wie jetzt der Wind weiter auffrischt und die Wogen in wildem Aufruhr gegen unsern Bug anprallen, muß ich an John Roß denken, dem auf seiner ersten Reise nur Segler zur Verfügung standen. Welch mühevolle, ja fast aussichtslose Arbeit muß es gewesen sein, gegen solchen Wind anzukreuzen!
Auf der zweiten Reise hatte das Schiff von Kapitän Roß zwar bereits eine Maschine eingebaut, die ein Paar Schaufelräder betrieb. Aber wie kümmerlich war diese Maschine! Volle zehn bis zwölf Umdrehungen in der Minute brachte sie fertig! Wenn es gut ging, ließen sich mit ihr ganze zwei Kilometer in der Stunde zurücklegen!
John Roß kam auf seiner zweiten Reise nur dadurch den Sund herauf, daß es vollständig windstill und der Sund nicht durch Eis versperrt war. Auf der ersten Fahrt aber verstopften Eisschollen ihn fast bis zur Mündung. An ihnen scheiterte die Weiterfahrt und wäre beinahe der ganze Ruf von John Roß als Seemann und Polarfahrer zerschellt.
Wie alles in der Arktis hat auch Eis die seltsame Eigenschaft, aus der Ferne viel größer zu erscheinen, als es in Wirklichkeit ist. Es kommt nicht so selten vor, daß einer einen Eisbär zu schießen glaubt, der sich als armseliges Polarhäschen herausstellt, wenn der stolze Jäger seine Beute holt.
Diese Erscheinung beruht auf der arktischen Luftspiegelung, und sie ist ganz besonders beim Eis zu beobachten. Wir fielen anfangs regelmäßig darauf herein, glaubten, wunder was für riesige Eisberge sich dem Schiff näherten, und beim Näherkommen entpuppten sie sich als armselige Brocken. Oder das ganze Meer schien durch einen ununterbrochenen Eispack gesperrt; war man aber dicht heran, so stellte er sich als ein Feld lose treibender Schollen heraus, die zu durchfahren weiter keine Schwierigkeiten machte.
Man nennt diese Erscheinung Eisblink. Ein Opfer solchen Eisblinks wurde John Roß. In seiner Instruktion hieß es ausdrücklich, daß er alles tun solle, um seine Schiffe nicht unnötig aufs Spiel zu setzen. Er hatte also berechtigte Furcht, in diese Eismauer, die so dicht und undurchdringlich aussah, hineinzusegeln.
Roß meldete zu Hause jedoch noch etwas anders, und daraus konnte man ihm eher einen Vorwurf machen. Er meldete, daß der Lancastersund keine Meeresstraße, sondern eine Bucht sei. Er beschrieb deutlich das Gebirge, das diese Bucht abschloß, ja fertigte sogar eine genaue Zeichnung von ihm an und nannte es zu Ehren seines Vorgesetzten, des Sekretärs der Admiralität, Crockergebirge.
Dies war nun das Allerschlimmste und Allerdümmste, das John Roß tun konnte; denn der Sekretär der Admiralität vergab ihm nie, daß er eine Nebelbank nach ihm benannt hatte. Als solche stellte sich das Crockergebirge nämlich heraus, und zwar bereits im folgenden Jahr, als Parry bei klarer Sicht, an einem eisfreien Tag wie heute durch den Sund und mitten durch das Crocker»gebirge« hindurchsegelte.
Es war besonders peinlich für Roß, daß sein eigener Leutnant ihn desavouierte, der als Kommandant des zweiten Schiffes an seiner verunglückten Polarexpedition teilgenommen hatte. Parry erklärte nach der Rückkehr, er habe das Crocker»gebirge« von vornherein für eine Nebelbank gehalten, woraus sein Kapitän ihm mit Recht den Vorwurf machte, das hätte er früher sagen sollen.
Aber nun half das nichts mehr. John Roß war der Mann des Crocker»gebirges« und Parry der glückliche Entdecker, der dem Sund sein Geheimnis entrissen hatte; denn er hatte ihn zu Ende durchfahren und auch noch seine Verlängerung. Parry gelangte beinahe durch bis an den Pazifischen Ozean und wäre so um ein Haar der Entdecker der so lange und so schmerzlich gesuchten Nordwestpassage geworden. Aber schließlich kam auch er nicht weiter, und es ist bis heute auch noch niemand auf dieser Route weitergekommen. So breit und so bequem sie auf der Karte aussieht, so eng und unfahrbar wird sie in Wirklichkeit schließlich durch die Eisverhältnisse. Es sollte noch viele Jahrzehnte dauern und noch viele Opfer kosten, nicht nur des Eisblinks, sondern des Eises selbst, bis das erste Schiff die Nordwestliche Durchfahrt erzwang.