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Dundas Harbour (North Devon Island).
Als wir von unserm Landausflug zu der Polizeistation an der Küste der Devoninsel zurückkehrten, standen die Frauen und Kinder der dem Detachement zugeteilten Eskimos vor ihren Bretterbuden, um nach uns Ausschau zu halten.
Selbstverständlich sind auch die Polizei-Eskimos verheiratet. Keine noch so hohe Belohnung hätte Eskimos verlockt, der Polizei auf die unbewohnte Insel der nördlichen Arktis zu folgen, hätte man ihnen verwehrt, ihre Frauen und Kinder mitzunehmen. Der Eskimo lebt mit seiner Familie und reist mit ihr. Er bildet mit Frau, Kindern und Hunden eine untrennbare Wirtschaftseinheit, und er geht mit ihnen auf die schwierigsten und gefahrvollsten Wanderungen über das Eis. Fast alle Polarfahrer, die Schlittenreisen machten, sahen sich gezwungen, die gesamte Familie ihrer Eskimobegleiter mitzunehmen. In der Regel haben sie es nicht zu bereuen gehabt. Rasmussen wie Stefansson, um nur zwei bekannte Namen zu nennen, sind voll des Lobes über diese Eskimofrauen, von denen einzelne Rasmussen auf seinen jahrelangen Schlittenreisen von Grönland bis Sibirien begleiteten.
So sind Expeditionen »mit Kind und Kegel«, die in der übrigen Welt, vor allem der zivilisierten, so ungewöhnlich erscheinen, in der Arktis durchaus das übliche, das heißt für die Eskimos, nicht für die Weißen. Der europäische Brauch, daß auf harte, schwierige Posten der Mann allein geht, gilt in der Arktis in noch höherem Maße als für die Tropen. Um die Hudsonstraße herum mag es gelegentlich die eine oder andere weiße Frau geben, in der eigentlichen Arktis leben nur weiße Männer.
Diese Angewohnheit des weißen Mannes, ohne Frau und Kinder zu reisen, ist für die Eskimos das, was sie am Europäer am wenigsten begreifen. Überall, wo arktische Eingeborene zum ersten Male mit Weißen zusammenkommen, ist ihre erste Frage nach deren Frauen und Kindern. Das war schon vor hundert Jahren so, als mein Vorfahre John Roß in diese Gegenden kam. Die ersten Eskimos, die er traf, waren über nichts so erstaunt, als über die Tatsache, daß sich unter all diesen Weißen nicht eine Frau befand. Als sie auf die »Isabella«, das Führerschiff der ersten Roßschen Expedition kamen und nirgends Frauen entdeckten, fragten sie, ob diese seltsamen weißen Wesen wirklich ein Volk seien, das nur aus Männern bestand. Als dies verneint wurde, rannten sie plötzlich alle zur »Alexander«, dem zweiten Schiff der Expedition, in der Meinung, die Frauen wären hier untergebracht, wie es auch bei ihnen Kajaks, das heißt Männer- und Umiaks, das heißt Frauenboote gibt. Als auch auf der »Alexander« keine Frauen waren, kehrten sie aufs höchste enttäuscht zur »Isabella« zurück, und die Führer erkundigten sich beim Kapitän angelegentlichst, ob es denn zu dem Herrn Roß keine Frau Roß gäbe.
Daraufhin zeigte John Roß den Eskimos eine Miniatur seiner Frau. Dieses Bildnis erregte höchste Verwunderung, und die erste Zeit glaubten die Eskimos, daß dieses Bild lebendig und die wirkliche Frau des weißen Mannes wäre.
Bis heute haben sie keine weiße Frau zu Gesicht bekommen, und es ist ein seltener Zufall, daß es nun doch eine »Frau Roß« ist, die sie als erste erblicken. Wenn die Eskimos, vor allem aber ihre Frauen, überall eine so freudige Überraschung beim ersten Anblick meines Reisekameraden zeigen, wenn sie mit strahlenden Gesichtern, lachend und mit leuchtenden Augen sämtlich angelaufen kommen, so tun sie es wohl aus der freudigen Genugtuung heraus, daß diese geheimnisvolle weiße Frau im Grunde ein Wesen wie sie selber ist.
Auch die zwei Frauen von der Devoninsel kommen sogleich, kaum daß sie uns die Geröllhalde heruntersteigen sehen, auf uns zu, beide grinsend und lachend und mit unverständlichen Worten auf uns einredend. Die eine ist noch blutjung, schlank, zierlich, mit geradezu unglaublich kleinen Händen und Füßen und selbst für europäische Begriffe hübschem Gesicht. Man würde sie unbedingt für ein Mädchen halten, trüge sie nicht in der Kapuze ihres Pelzüberrockes ein winziges Baby. Es ist knapp zwei Monate, sieht aber aus wie ein Neugeborenes. Wie ein kleines Äffchen hockt es in der Kapuze. Es trägt ein Jäckchen aus Renntierfell und ist im übrigen nackt. Mitunter nimmt es die Mutter aus der Kapuze heraus und hält es im Arm, ohne daß die Kälte seinem bloßen Körperchen zu schaden scheint.
Das Polizeidetachement kommt von der Devoninsel ein Stück weiter nordwärts auf Ellesmereland, mit ihm die Eskimos und selbstverständlich auch die junge Frau mit ihrem Baby. Niemand findet da etwas dabei, obgleich es auf Ellesmere Island noch um ein Stück unwirtlicher und rauher ist. Wenn es sein müßte, würde die junge Mutter mit ihrem Säugling sofort auf eine mehrmonatige oder auch jahrelange Expedition mitgehen.
Den meisten Europäern erscheint dies ungeheuerlich, den Eskimos aber ist es ihrerseits unverständlich, wie ein weißer Mann Frau und Kinder zurücklassen kann, wenn er auf Reisen geht. Stefansson erzählt, wie er einmal – es ist noch gar nicht lange her – mit sinkendem Abend im Schneesturm bei Eskimos eintraf, die noch nie mit Weißen in Berührung gekommen waren. Sie nahmen ihn gastlich auf, zeigten sich aber geradezu bestürzt, daß er allein ohne Frau und Kinder kam. Sie konnten nicht anders denken, als daß sie im Schneesturm zurückgeblieben wären und wollten sofort Schlitten ausschicken, sie zu holen.
Erlebt man, wie spielend und ohne große Umstände bei den Primitiven Geburt und Großziehen der Kinder erledigt werden und wie wenig die Frau dadurch gehindert ist, dem Manne in allem und unter jeden Umständen Gefährte zu sein, so könnte man mitunter meinen, daß wir für unsere Zivilisation doch einen recht hohen Preis gezahlt haben.
Daß wir für unsere Reisen die Eskimoart erwählten, löst hier überall – wenigstens bei den Einheimischen – große Begeisterung aus. Mein Kamerad und der Junge sind überall das große Ereignis für die Eskimos. Auch für die Männer. Sie zeigen es nur nicht so, höchstens Ralph gegenüber. Sie lassen ihn nicht aus dem Auge, und mehr als einmal ist es schon vorgekommen, daß der eine oder andere auf ihn zutrat, um ihm ein Geschenk in die Hand zu drücken, eine Schnitzerei aus Walroßzähnen oder dergleichen. Natürlich machen wir dann Gegengeschenke, aber es sieht fast so aus, als wäre ihnen dies gar nicht recht.
Es ist jedenfalls sehr seltsam für uns. Wir sind die erste weiße Familie, die je so weit hinauf in die Arktis kam. So erstaunlich dies allen Weißen vorkommt, so natürlich erscheint es allen Eskimos. Ja, man hat fast den Eindruck, daß es wie eine Offenbarung auf sie wirkt, daß der Weiße, der ihnen gerade ohne Weib und Kind mitzuhaben so unverständlich erscheint, im Grunde doch das gleiche Wesen ist wie sie selbst.