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IX. Kanadas frostiges Reich

39. Bis ans »Ewige Eis«

An Bord der »Nascopie« in der Baffinbucht.

Von Robertson Bay waren es nur ein paar Meilen über den immer enger werdenden Smithsund nach der Bachehalbinsel hinüber, dem aufgegebenen Posten auf Ellesmereland. Wir alle warteten gespannt, ob wir wohl noch einen Vorstoß dorthin machen würden. Schließlich hatten die drei Konstabler der Mounted Police bei ihrem Rückzug nach Craig nur das Nötigste auf ihren Hundeschlitten mitnehmen können. Die ganze Einrichtung, Boote, Instrumente und vor allem auch der gesamte persönliche Besitz der Polizisten, alle ihre Felle und Jagdtrophäen und viele Hunderte photographischer Aufnahmen lagen noch auf der verlassenen Station.

Die Eisverhältnisse waren nicht schlecht, und der Kapitän erklärte den Vorstoß für möglich. Der Expeditionsleiter aber konnte sich nicht entschließen, den Befehl dazu zu geben. So günstig die Lage auch aussah, jeden Augenblick konnte ein schwerer Eispack vom Pol her antreiben und uns festhalten. Das hieß im günstigsten Fall Überwintern, im ungünstigsten ... Der Major hatte sicher recht, daß er Befehl zur Umkehr gab. Aber schade war es doch!

Ich stand neben dem Korporal auf dem Vorschiff, als wir nach der Ausfahrt von Robertson Bay nach Süden abbogen. So nahe waren wir an Bache, wo die Früchte und Erinnerungen seiner dreijährigen Taten und Entbehrungen im Eis lagen, und wir fuhren nicht hin. Für ihn bedeutete das nicht nur den Verlust von etlichen hundert Photos, sondern auch einigen tausend Metern Kinofilm, die er da oben mit einer kleinen Kamera gedreht hatte. Er war jedoch viel zu diszipliniert, um etwas zu sagen. Er sah nur starr über den Sund nach all den Dingen hinüber, die ihm vielleicht alles bedeuteten und die menschlicher Voraussicht nach für immer verloren sind.

Auch für Kanada bedeutet unsere Umkehr Preisgabe und Verlust. Der nördlichste Posten im Eis, um den man so lange gekämpft hat, wird endgültig aufgegeben. Die Grenze des Dominiums, die auf der Karte bis zum Pol gezogen ist, wurde zwar bis ans Ewige Eis vorgeschoben, aber sie blieb darin stecken.

Das Ewige Eis ist nicht nur eine landläufige Vorstellung, sondern ein fester, staatsrechtlicher Begriff. Als man ihn prägte, war man sich freilich nicht klar darüber, wie schwer es ist, ihn unzweideutig zu bestimmen. Er wird staatsrechtlich zum ersten Male in einem Vertrag erwähnt, den England und Rußland im Jahre 1825 zur Abgrenzung der beiderseitigen Interessensphären auf dem nordamerikanischen Kontinent schlossen. Das Zarenreich war im Verlaufe des 17. und 18. Jahrhunderts im nördlichen Asien immer weiter nach Osten vorgedrungen, hatte 1730 die Beringstraße überschritten und in der Neuen Welt Fuß gefaßt.

Dies Vordringen Rußlands beunruhigte Spanien wie England in gleichem Maße. Ersteres schob seine Posten an der kalifornischen Küste nach Norden vor und entsandte Erkundungsschiffe bis zum 57. Grad. Letzteres gelangte 1825, mit Rußland zu einem Vertrag, der den 141. Meridian als Grenze zwischen dem britischen und dem russischen Nordamerika festlegte. In dem Vertrag heißt es, daß auch über die Küste hinaus diese Linie in ihrer Verlängerung die Grenze bilden solle, und zwar bis an das »Ewige Eis«. Der gleiche Ausdruck wird in dem Kaufvertrag wiederholt, durch den die Vereinigten Staaten 42 Jahre später die russischen Besitzungen auf dem amerikanischen Kontinent für sieben Millionen Dollar aufkaufen.

Damals lebte also selbst in der Vorstellung von Diplomaten und Staatsrechtlern noch das »Ewige Eis« als fester Begriff, und zwar als der von etwas völlig Wertlosem und Unbetretbarem, auf das politische Ansprüche niemals denkbar sind. Andernfalls hätte man die Grenze doch nicht nur bis an das »Ewige Eis« gezogen, sondern gleich weiter, bis zu dem Punkt, auf dem der 141. Meridian den Pol trifft. Das wäre genauer gewesen und hätte Unklarheiten in den arktischen Besitzansprüchen, die heute auftauchen können, vermieden.

Wer dachte aber damals daran, daß die Arktis einmal irgendwelchen wirtschaftlichen Wert haben könnte! Das war um die Zeit, als eine offizielle britische Untersuchungskommission die kanadischen Prärien als für dauernde Siedlung ungeeignet bezeichnete wegen »unerträglicher Kälte«! Damals erschien den meisten Amerikanern der Ankauf von Alaska als ein ganz unsinniges, törichtes Geschäft, und die sieben Millionen dafür betrachtete man als hinausgeworfen. (Heute übersteigt allein der Ertrag des alljährlichen Lachsfanges bei weitem die Kaufsumme!)

Die Meinung vom Wert oder Unwert der Arktis hat noch bis Ende des vorigen Jahrhunderts angehalten. Noch in den siebziger Jahren dachte in ganz Kanada kein Mensch daran, daß sich nördlich der Hudsonbucht ein riesiges Gebiet erstreckt, das die natürliche Fortsetzung des Dominiums nach Norden bildet, und auf das Kanada auf Grund seiner geographischen Lage Anspruch erheben konnte.

Da richtete im Jahre 1874 ein amerikanischer Marineoffizier mit dem deutschen Namen Mentzer an den britischen Konsul in Philadelphia eine Anfrage wegen Überlassung von 20 Quadratmeilen Land am Cumberlandsund auf Baffinland.

Die Anfrage ging an das Foreign-Office weiter, und jetzt wurde man in London und vor allem in Ottawa aufmerksam. Was, ein amerikanischer Marineoffizier wollte auf Baffinland Ländereien erwerben? Da mußte es in der Eiswüste doch etwas zu holen geben! Jetzt erinnerte man sich in der Hauptstadt Kanadas daran, daß die ganze amerikanische Arktis doch nördlich des Dominiums liegt und also von Rechts wegen dazu gehört. Die kanadische Regierung beeilte sich daher, nach London die Forderung zu richten, das ganze arktische Amerika einschließlich aller Inseln, die bisher im Namen des britischen Königs annektiert worden waren, Kanada zuzuteilen.

In London hatte man kein Bedenken, diesem Wunsch des Tochterstaates zu willfahren. Im Gegenteil, das war eine gute Gelegenheit, sich billig großzügig zu erweisen. So wurde die gesamte amerikanische Arktis Kanada überschrieben, unter der Bedingung, daß die Dominiumregierung die Verantwortung für die annektierten Gebiete übernähme und die nötige Überwachung ausübe.

Bis allerdings die Noten zwischen London und Ottawa ausgetauscht waren und das Parlament die Annexion gebilligt hatte, vergingen etliche Jahre, während der dem Leutnant Mentzer die Zeit zu lang wurde. Deshalb rüstete er auf eigene Verantwortung ohne Antwort abzuwarten, eine Expedition nach Baffinland aus, um die Glimmer- und Graphitlager auszubeuten, die er dort entdeckt hatte. Für 120 000 Dollar Glimmer schleppte der Amerikaner fort, abgesehen von Graphit und andern Mineralien, wie die Kanadier bissig bemerkten. Immerhin trug der Vorfall dazu bei, die Verhandlungen zu beschleunigen, und im Jahre 1880 war Kanada in aller Form glückliche Besitzerin der Arktis.

Es dauerte noch vier Jahre, ehe die erste Expedition in das neu erworbene Land entsandt wurde, und auch diese gelangte nur bis zur Südküste von Baffinland.

Inzwischen war von anderer Seite an die Erforschung dieser Insel herangegangen worden, und zwar von deutscher. Im Jahre 1882 wurden nach einem großangelegten internationalen Plan gleichzeitig 13 arktische und zwei antarktische wissenschaftliche Stationen eingerichtet, die von verschiedenen Nationen besetzt wurden. Der deutschen Sektion fiel die Erforschung von Baffinland zu. Dadurch wurde die Aufmerksamkeit der deutschen Öffentlichkeit zum ersten Male auf diese entlegene Insel gelenkt. Das Interesse war so groß, daß bereits im nächsten Jahr eine weitere Expedition unter Dr. Frank Boas nach Baffinland ging.

Boas war der erste, der die Insel eingehend erforschte, nicht nur geographisch, sondern auch geologisch und anthropologisch. Er lernte die Eskimosprache und lebte mit den Eskimos, so daß er nicht nur Übersetzungen ihrer Sagen zurückbrachte, sondern eine genaue Kenntnis ihrer Sitten und Gewohnheiten. Auf den Forschungen von Boas fußte die erste Expedition der kanadischen Regierung im Jahre 1884, die bis in den Cumberlandsund gelangte.

Erst 1903 ging Kanada daran, die arktische Inselwelt wirklich in Besitz zu nehmen. Sie entsandte dazu einen Offizier, einen Sergeanten und vier Mann der Mounted Police, nachdem ein paar Jahre früher sich bereits die erste Mission auf Baffinland niedergelassen hatte.

Eine solche Inbesitznahme war nötig, da nach moderner staatsrechtlicher Theorie Entdeckung und Annexionserklärung zur Begründung von Besitzansprüchen nicht genügen, sondern die Inbesitznahme »effektiv« sein muß. Dies war im Falle der kanadischen Arktis um so wichtiger, als ja nur ein Teil der Besitzansprüche Kanadas auf britischen Entdeckungen fußte. Axel Heiberg zum Beispiel und einige anliegende Inseln waren von dem Norweger Sverdrup entdeckt worden, weshalb Norwegen Besitzansprüche erhob.

Kanada aber, das sich solange um die arktische Inselwelt nicht gekümmert hatte, machte jetzt ganze Arbeit und erklärte alles Land und Meer bis zum Pol hinauf, einerlei ob entdeckt oder unentdeckt, zum kanadischen Gebiet. Als Rasmussen 1921 zu seiner großen amerikanischen Schlittenreise aufbrach, wurde die dänische Regierung offiziell von Ottawa aus in Kenntnis gesetzt, daß alle etwaigen Entdeckungen Rasmussens keinerlei Besitzansprüche Dänemarks in dem von Kanada beanspruchten Gebiet begründen würden.

Die Grenze dieses Gebietes nach Osten gegen das dänische Grönland bildeten die Davisstraße, der Smithsund mit seiner Fortsetzung und von der Nordwestecke von Ellesmereland ab der 60. Meridian. Die Grenze nach Westen aber bestand in dem bewußten 141. Längengrad, der bereits im russisch englischen wie im russisch-amerikanischen Vertrage eine Rolle gespielt hatte. Als Nachfolger Englands hätte Kanada die arktischen Rechte der USA. nur bis an das »Ewige Eis« anzuerkennen brauchen, jenseits der Eisgrenze jedoch seine Ansprüche über den bewußten Meridian hinaus ausdehnen können. Da Kanada aber einstweilen mehr Eisland hat, als es verdauen kann, verzichtet es großmütig darauf, so daß also den Vereinigten Staaten nördlich von Alaska noch eine Sektion Arktis verbleibt, falls sie darauf Anspruch erheben sollten. Allerdings besteht gerade diese Sektion so gut wie vollständig aus noch unentdecktem Gebiet. Aber nach den Überraschungen des letzten Jahrzehntes weiß man nicht, was dieses Gebiet bergen mag und wie wertvoll es werden kann.

Kanada ist jedenfalls energisch daran gegangen, seinen Anteil an der Arktis zu sichern. Nachdem die Kriegsjahre eine Unterbrechung in der weiteren Besetzung verursacht hatten, entsandte man 1922 eine Expedition, die gleich bis Ellesmereland vorstieß. Hier wurde in Craig Harbour eine Polizeistation eingerichtet, die mit sieben Mann besetzt wurde. Sieben Mann Polizei für eine völlig menschenleere Insel erscheint reichlich viel. Damit der Witz nicht fehlt, wurde der Polizeiposten gleichzeitig offiziell noch als Zoll- wie als Postamt eingerichtet. Kanada konnte sich also rühmen, nicht nur den nördlichsten Polizeiposten der Welt zu besitzen, sondern auch das nördlichste Post- und Zollamt. Freilich konnte die Tätigkeit des letzteren lediglich in der Verzollung der Waren bestehen, die die Polizisten selber mitbrachten, und die Tätigkeit der Post in der Frankierung und Abstempelung der Briefe, die die in einem Häuschen zusammenlebenden Polizisten sich gegenseitig schrieben; denn es kommt das ganze Jahr über ja nur das eine Expeditionsschiff der Regierung nach Ellesmereland, das die Vorräte für das nächste Jahr und allenfalls die Ablösung bringt. Selbst dieses konnte infolge ungünstiger Eisverhältnisse nicht jedes Jahr das vereinigte Polizei-, Post- und Zollamt anlaufen.

Der nördlichste Polizeiposten der Welt hat ein Stück nach Süden rücken müssen. Der auf Devon Island ist ganz aufgehoben. Die ursprünglich zehn Mann starke Polizeimacht Kanadas in der nördlichsten Arktis ist auf zwei Mann zusammengeschrumpft, die in dem düsteren »Gefängnis« von Craig sitzen.

Wie wir jetzt nach Süden dampfen, bleiben auf Ellesmereland zwei einsame Männer zurück, zwei Mann mutterseelenallein, allein in einem völlig menschenleeren Gebiet von der Größe Mitteleuropas. Das heißt, nein, ein Eskimo ist ja noch bei ihnen mit seiner Frau und seinem zwei Monate alten Kind.

»Sie passen auf, daß die Arktis nicht wegschwimmt«, sagte der Zahlmeister, der keine Gelegenheit vorübergehen lassen kann, einen schlechten Witz zu machen.


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