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Craig (Ellesmereland).
Noch immer liegen wir vor Craig.
Das Eis kommt und geht. Es kommt und geht mit der Regelmäßigkeit von Atemzügen. Es ist der sichtbare Atem der Arktis. Wie die scharfe Kälte hier den Atem des Menschen sichtbar macht, so auch den Atem der Erde, den geheimnisvollen Rhythmus der Welt, von dem auch wir und unser Schicksal abhängen.
Das Eis treibt den Jonessund herunter, Flocken erst, dann eine ganze Herde. Es füllt die Bucht, staut sich, klammert unser Schiff ein und geht wieder, wie es gekommen. Oft sind es die gleichen Eisschollen und Eisberge, die immer wieder kommen und gehen.
Wie das Eis ein- und auszieht, bilden sich Lücken und Rinnen, durch die unsere Boote mit der Ladung ans Ufer eilen. Bald wird das letzte Boot durchgeschlüpft, die letzte Fracht gelandet sein.
Als wir vom Gletscher herunterkamen, hatte die Ebbe bereits eingesetzt, die Boote konnten nicht mehr fahren. Es war viel später geworden, als wir erwartet hatten. Von oben sah sich der Gletscher ganz anders an als von unten. Er sah böse und abweisend aus mit haushohen Eiswänden und tiefen Spalten. Beim Aufbruch hatten wir gar nicht daran gedacht, ihn zu begehen. Wir hatten weder Seil noch Eispickel mit, nicht einmal Schneebrillen. –
Zwischen Gletscher und Fels war eine schmale Schlucht. In diese Schlucht ließen wir uns hinab, um am Rande des Gletschers zurückzukehren. Es war ein wunderbarer Weg, zur Rechten hatten wir den Fels, zur Linken die Eiswand, turmhoch, unter uns Eis und über uns einen Streifen Himmel.
Ab und zu öffnete sich die Eiswand, und Höhlen und Grotten führten in das Innere des Gletschers hinein. Aber schließlich verengerte und schloß sich der Spalt. Der Gletscher rückte dicht an den Fels, und wir mußten doch über ihn nach Hause.
Auf dem Gletscher lag Neuschnee. Die Spalten waren weiß überdeckt und kaum zu erkennen, zumal wir anfingen schneeblind zu werden. Glücklicherweise schien wenigstens keine Sonne. Vorsichtig gingen wir vorwärts, bis wir die Stellen erkundet hatten, an denen wir über die Spalten springen konnten.
So war das letzte Boot zum Schiff längst fort. Wir nahmen eins der Schlittenboote des Detachements, die gerade drei Mann fassen und ruderten damit zurück.
Zwischen den auf dem Grund aufsitzenden Eisbergen fuhren wir wie zwischen den Säulen eines märchenhaften Tempels. Der Sturm, der den ganzen Tag am Himmel gedroht, war nicht losgebrochen. Die See war so still, daß sich noch die letzten Eiszacken kristallklar in ihr spiegelten.
Lautlos glitten wir über eine gläserne Decke, die uns einen Blick in den Märchenpalast der Meereskönigin tun ließ, der »Herrin der See«, wie die Eskimos sie nennen, die ihrer Meinung nach den Winden und Wellen wie den Zügen der Seehunde und Walrosse gebietet.
»Walrosse!« rief da jemand. Ich hatte gerade in die gläserne Tiefe hinuntergeblickt und schreckte auf. Richtig, da hockte ein ganzes Rudel auf einer Scholle. Glücklicherweise hatte ich die Contax-Kamera geöffnet und gespannt auf der Brust hängen. So brauchte ich nur abzudrücken. In der nächsten Sekunde wäre es zu spät gewesen.
Durch Rinnen, die teilweise so schmal waren, daß unser Boot gerade durchschlüpfen konnte, kamen wir in offenes Wasser. Auch hier und weiter den ganzen Sund entlang war die See glatt wie Glas. Die Berge von Craig, Smith Island, die Gletscher von Lee Point, die Schneekuppen der Devoninsel, die Eisberge, alle spiegelten sich in dem glasklaren Wasser. Ihre Spiegelbilder bildeten die Wände eines wunderbaren Kessels, der in unergründliche Tiefe führte. In der Mitte dieser, aus tiefster See heraufleuchtenden Zauberwelt aus Schnee und Eis schwamm die »Nascopie«. –
In der Nacht wachten wir auf. Das bekannte Kratzen und Scharren an der Schiffswand weckte uns. Das Eis war wieder in Bewegung, die Arktis atmete.
An Deck ist es taghell. Die gläserne Klarheit des Wassers ist fort. Die Küste ist eisfrei. Wie weggeweht sind die Türme und Säulen, die Klötze und Burgen aus Eis, die sie noch gestern abend bedeckt. Dafür ist da draußen im Sund eine weiße Decke, und die Vorhut der eisigen Geschwader preßt bereits gegen die »Nascopie«.
Es sind nicht nur der Wechsel von Ebbe und Flut, in dem das Eis kommt und geht, nicht nur die Winde und Strömungen, die es ziehen machen, es ist der große Rhythmus der Erde selbst.
Überall auf der Erde herrscht dieser Rhythmus. Er tritt in den Tropen in den Monsunen zutage, die Regen und Trockenheit bringen und Millionenvölkern das Gesetz des Lebens vorschreiben. Er äußert sich im Pulsschlag des Blutes, das vom Herzen kommt und zum Herzen geht. Er wird kund im Wechsel der Jahreszeiten, in den Zügen der Zugvögel, im Ablauf des Lebens.
Es ist überall der gleiche Rhythmus, der gleiche gesetzmäßige Wandel, der auf der ganzen Erde gilt. Aber er wird nirgends so sichtbar wie im Zuge des Eises, im Atem der Arktis.
Vielleicht liegt es an diesem sichtbaren Atem der Arktis, daß hier Mensch wie Tier dem innersten Lebensgesetz getreu lebt, im Rhythmus der Welt schwingt, deren Wille Wandel ist. In den Polargebieten wandern Mensch und Tier. In regelmäßigen Wanderzügen ziehen die Herden der Karibus Hunderte, Tausende von Kilometern über den Norden des amerikanischen Kontinentes bis weit in die arktische Inselwelt hinauf. Dem gleichen Wandergesetz folgen Seehund und Walroß. Nach geheimnisvollen Regeln kommen und gehen Lachse wie Lemminge, sind in bestimmten Gegenden bald zahlreich, bald selten. Im gleichen Rhythmus wandern die Menschen des Polargebiets, legen Entfernungen über Schnee und Eis zurück, die unfaßbar erscheinen.
Es ist nicht nur der Wechsel der Jahreszeiten, das Suchen nach neuen Futterplätzen, die Menschen und Tier, in denen noch der Wandertrieb steckt, hin und her treiben. Es ist das unbewußte Wissen des Blutes um die letzten Gesetze des Lebens, um den Willen der Welt.
Die Nomaden sind die Völker, die bei allem Wandern nicht fortschreiten. Sie kennen keinen Fortschritt, aber auch keinen Abstieg. Sie bleiben jung und bleiben ewig gleich in dem ständigen Wandel und Wechsel ihres Lebens.
Freilich bauen sie keine Zivilisation auf, keine Kultur. Diese sind erst möglich, wenn der Mensch seßhaft wird. Dann bilden sich die großen Völker, dann entstehen die Riesenstädte, dann häuft sich Reichtum und blühen Kunst und Wissenschaft, dann schreitet die Menschheit fort. Aber gleichzeitig erlahmt die Kraft, aus der heraus alles entstand. Die seßhaften Völker schreiten fort, aber gleichzeitig altern sie und werden krank. Dem Gesetz des Wandels kann man nicht unbegrenzt lange trotzen. So sinken die großen Reiche, die hohen Kulturen alle wieder in sich zusammen, gehen, wie sie gekommen sind. –
Es ist das gleiche Gesetz, das das Polareis in Bewegung hält. Es ist der gleiche Rhythmus, der die Eisgeschwader den Jonessund herauf- und hinuntertreibt. Deren feste Masse hat uns jetzt erreicht. Ein gewaltiger Block, der wie der Anführer des eisigen Heeres aussieht, schwimmt gerade auf uns zu. Mit unheimlicher Geschwindigkeit treibt er heran. Jetzt ist er vor dem Bug. Krachend prallt er gegen die scharfe Stahlkante, birst und bricht in zwei Teile, die sich schäumend überschlagen.
Bis zu uns herauf spritzt es. Dann schäumt und quirlt es eine Weile. Die aus dem Gleichgewicht gebrachten Hälften schwanken hin und her. Dann gleiten sie lautlos beiderseits der »Nascopie« vorbei, und das ganze weiße Heer folgt.
Wir liegen wieder in unsern Kojen, und wie wir ruhigen Herzens einschlafen, fühlen wir in unserm Blut die tiefen, gleichmäßigen Atemzüge der Arktis.