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An Bord der »Nascopie« in der Baffinbucht.
Es war mitten während des Mittagessens, und mit einem Male war die Aufregung da, niemand wußte, wie und warum. Hielten wir? – Hatte etwas gekracht? Jedenfalls war der Kapitän plötzlich verschwunden, der doch noch eben unter uns gesessen hatte.
Aber da krachte es mächtig, und das ganze Schiff erzitterte. Wir stürzten an die Reling. – Richtig, wir waren mitten im Eis. Als wir uns zu Tisch gesetzt hatten, war das Meer noch völlig frei gewesen. Natürlich waren Eisberge vorbeigezogen und eine Fülle treibenden Eises, aber das war all die letzten Tage schon der Fall gewesen. Jetzt jedoch waren wir mitten im Eis. Soweit wir sehen konnten Eis, weiß und blau und grün.
Der Eindruck war so überwältigend, daß man ihn im ersten Augenblick gar nicht in sich aufnehmen konnte. Es war eine Sekunde allgemeiner Sprachlosigkeit. Da rief einer »Robben!«
Richtig, da waren sie, auf einer blauen Eisscholle, die gerade auf uns zutrieb. Nun brach die Aufregung aus. Alles stürzte nach vorn. Laut wurde nach Harpunen gerufen. Ich rannte nach meiner Kamera.
Die Robben jedoch warteten das Harpuniertwerden nicht ab, sondern zogen es vor, rechtzeitig unterzutauchen. Aber was machte das uns! Das unvergleichlich Großartigere und Gewaltigere war das Eis, durch das wir krachend unsern Weg nahmen.
Das war also der berühmte »Mittel-Pack«, das Packeis der Davisstraße. Es kam dieses Jahr ungewöhnlich spät. Deshalb waren wir bisher verhältnismäßig unbehelligt bis fast in die Baffinbucht gefahren. Jetzt war es da. Es baute sich auf vor uns wie eine Mauer, gewaltig und scheinbar grenzenlos. Das viel Erstaunlichere, das wahrhaft Unheimliche jedoch war, daß das Eis, das von einem Horizont zum andern reichte, ebenso rasch verschwand wie es gekommen war. Ehe man das Ereignis noch in seiner ganzen Größe erfaßt hatte, war es vorbei.
Schon wurde das Eis lichter, schon folgten die Schollen seltener, schon zeigten sich blaugrüne Stellen offenen Wassers, und dann waren wir wieder im freien Meer.
Das Eis hörte freilich nicht völlig auf. Dauernd trieb es in großen und kleinen Schollen, in Eisbergen aller Größe, in Graulern und Eisfeldern an uns vorbei. –
Mit der Zeit lernten wir das Eis kennen und die verschiedenen Typen, die Wind und Wasser aus den Stücken herausmodellieren, die dauernd von den grönländischen und zentralarktischen Gletschern abbrechen.
Die häufigste Art der kleinen Brocken ist die des Wasservogels. Bald gleicht er mehr einem Schwan, bald einer Ente. Aber die Form ist immer die gleiche: der vorgestreckte Kopf und die ausgebreiteten Flügel. Mitunter erreicht diese Art gewaltige Ausmaße, und dann gleicht sie mehr einem Flugzeug oder Flugdrachen aus der Vorzeit. Die größeren Stücke aber – etwa vom Rauminhalt eines Hauses – sehen aus wie phantastische Pilze.
Sobald der Eisblock erst einmal in Bewegung geraten ist, arbeitet das Wasser ständig an ihm. Es schafft Rollbahnen, an denen es auf- und abfließt, Höhlen, in die es aus- und einströmt. Dadurch wird das schwimmende Eisstück immer stärker hin- und hergeschaukelt, und die Wellen können es immer kräftiger bearbeiten. In manche Eisberge ergießen sich beim Eintauchen wahre Wasserfluten, um beim Auftauchen in Kaskaden und Wasserfällen wieder herunter- und herauszuströmen.
So entsteht diese seltsame Pilzform. Über dem unter Wasser schwimmenden festen Block erheben sich Pilze und Schwammerlinge aller Größen, zwischen denen ständig das Wasser rauscht. Mitunter gibt es Blütenkelche mit den zierlichsten Stielen oder zackige Korallen.
Das Wunderbarste aber sind die Farben, in denen all diese Eiswunder leuchten. Die Grundfarbe ist ein schneeiges Weiß oder ein glasklarer Kristall. Dazwischen und darunter aber schimmert es von einem so intensiven, leuchtenden Blau, wie man es kaum noch irgendwo auf der Welt findet.
Diese Bläue geht durch alle Schattierungen, vom zartesten Blaßblau bis zu ganz dunklen, schon fast violetten Tönen. Das vom Wasser bedeckte Eis aber, aus dem all die Blütenwunder erblühen, leuchtet in einem ganz zarten Grün. Auch dieses Grün wirkt genau wie das Blau überirdisch schön, erfüllt von einem inneren Leuchten und Glühen.
Man kann Stunden, man kann Tage trotz des eisigen Windes an Deck stehen und wird nicht müde, auf das ununterbrochen vorbeiziehende Eis zu schauen, und so ungezählte Mengen man auch vorbeitreiben sieht, so sind doch nicht zwei Blöcke oder zwei Berge darunter, die einander völlig gleichen.
Zum Schluß der Fahrt durch die Davisstraße, als wir schon in der Baffinbucht waren und bereits nach Westen steuerten, um in den Lancastersund einzubiegen, kamen wir noch einmal in festes Packeis. Es schien zuerst, als gäbe es gar keinen freien Weg hindurch und als müßten wir wieder auf die Kraft unseres eisbrechenden Buges und unserer starken Maschine vertrauen. Im letzten Augenblick aber zeigte sich eine schmale Rinne, gerade breit genug, um das Schiff hindurchzulassen.
Wie ein gelehriger Hund folgte das Schiff dem Steuerdruck und bog in die Rinne ein. Sie war wirklich sehr schmal. Rechts und links streiften knirschend die Schiffswände an. Während wir hindurchfuhren, tauchte am Himmel ein neues ungewöhnliches Phänomen auf. Ein Tor wie ein Regenbogen, aber er war ohne die gewohnten Farben, sondern schneeweiß wie alles in der Arktis.
Es war ein Nebelbogen. Als er sich über uns am Himmel spannte und wir darunter die schmale, dunkle Wasserrinne im Packeis durchfuhren, war uns, als täte sich jetzt erst die wahre Arktis vor uns auf, um uns in ihr ewiges, eisiges Schweigen einzulassen.