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21. Eisberge in der Nacht

An Bord der »Nascopie« in der Davisstraße.

Plötzlich wachte ich auf. Es war mitten in der Nacht. Das Schiff stand. Es ist immer ein unbehagliches Gefühl, wenn das Schiff auf offenem Meer hält, vor allem nachts. Irgend etwas ist dann los.

Ich schüttelte den Schlaf ab und richtete mich auf, um durchs Bullauge zu sehen. Dichter, dicker Nebel. Aber wir fuhren wieder, ganz langsam; wir schoben uns mehr durch das Wasser.

Wie oft habe ich das schon erlebt. Das plötzliche Aufwachen in der Nacht, der dicke Nebel, das langsame Wiederanfahren und dann – das Nebelhorn! Gleich würde es aufheulen in langgezogenen, klagenden Tönen. Aber alles blieb still. Ich wartete und lauschte; nichts ließ sich hören. Lautlos wie ein Gespensterschiff glitten wir durch den Nebel.

Dann wurde ich mir mit einem Male bewußt, daß wir ja mutterseelenallein auf dem Meere waren, die »Nascopie« und sonst nichts. Auf dem weiten Atlant, auf der Unendlichkeit des Pazifik konnten wir nicht so allein und verloren sein wie hier im arktischen Meer. Regelmäßige Routen gibt es hier nicht. Der Walfang hat aufgehört. Die Neufundlandfischer fahren nicht so weit nordwärts, und Expeditions- oder Forschungsschiffe, denen wir allenfalls hätten begegnen können, waren in diesem Jahre nicht unterwegs. Wir waren tatsächlich allein. Wozu also Dampf für die Sirene verschwenden, niemand konnte uns hören!

Ich stand noch am Kabinenfenster und sah hinaus, da zeichneten sich im Nebel, undeutlich und dennoch unheimlich wirklich, zackige Umrisse ab. Einen Augenblick stand es wie eine Drohung gerade vor mir. Dann hüllte der Nebel es wieder ein.

Wir waren doch nicht allein, wenn uns auch niemand hören konnte. Unentwegt zog es uns entgegen, lautlos wie Schatten, aber von tödlicher Gewalt, wenn wir in voller Fahrt dagegen prallten: Eisberge!

Aus dem Lancastersund treiben sie heraus, Produkte der riesigen Eisfabrik der Zentralarktis. Von den grönländischen Gletschern brechen sie ab, vor allem von denen der Melvillebucht, den Robeson- und den Kennedykanal ziehen sie herunter, direkt vom Pol her. Und alle, alle sammeln sich in der Davisstraße und schwimmen nach Süden.

Langsam dampfen wir die Davisstraße hinauf, all den Gletschern entgegen, das heißt, nein, jetzt halten wir doch. Der Nebel ist zu dicht geworden. Ich kann vom Kabinenfenster nicht einmal mehr bis zum Wasser hinuntersehen.

Beruhigt lege ich mich wieder hin und schlafe weiter. Wir haben einen ausgezeichneten Kapitän mit langjähriger Erfahrung im Eis. Und wenn – das wußten wir ja, ehe wir an Bord gingen, daß jede Arktisreise, auch heute noch, auch auf einem Eisbrecher ein gewisses Risiko einschließt. Wozu sich also vorzeitig beunruhigen!

Ich schlief tief und fest. Am nächsten Morgen war der Nebel fort, wenigstens im Osten; hier war der Horizont frei und klar. Gegen Westen jedoch dehnte sich eine endlose Dunstbank. Es waren die Wolken, die Baffinland einhüllten. Wenn für Augenblicke der Dunstschleier riß, sah man auf Gletscher und schneebedeckte Berge.

Wir fahren die Dunstbank entlang über mäßig bewegte See. Eisbrocken kommen uns entgegengetrieben. In der Ferne blinkt heller Schein auf. Das heißt mehr Eis, große Berge, die noch unter dem Horizont stehen, aber ihr weißes Leuchten gegen den Himmel reflektieren.

Ich holte die Kamera und postierte mich am Bug. Da trat auch schon der erste Eisberg über die Kimme, groß wie ein Turm.

Rasch kam er näher. Er trieb gerade auf uns zu. Scheinbar erst im letzten Augenblick änderten wir den Kurs.

Das Eiswunder

Wir standen an der Reling und schauten auf das Eiswunder. Nicht wir allein. Alle Mitglieder der Expedition, die Mounted Police, der Bischof, die Besatzung, soweit sie dienstfrei war, stand und starrte offenen Auges auf den riesigen Berg, dieses Gebirge aus Eis.

Es war ein ungeheuerer, zackiger Block, hinter dem ein viereckiger Turm aufstieg, so gleichmäßig, als hätten Menschenhände ihn mit Lot und Wasserwaage gefügt.

Mitten im Block zeigte sich eine riesige Höhle. Sie sah aus wie die Behausung eines vorsintflutlichen Drachens. Wie der Berg näher trieb, wurde die Höhle immer größer. Gleichzeitig fiel von rückwärts ein heller Schein in sie. Hatte sie denn ein Fenster?

Da war der Block mit uns auf einer Höhe, und wir sahen, daß er in der Mitte hohl war. Ein riesiges Gewölbe durchbrach ihn. Wie durch einen Torbogen von ungeheueren Ausmaßen konnte man durch die Eisgrotte hindurchsehen.

Wortlos standen wir an der Reling. Wie der Berg vorbeiglitt, schloß sich das Tor langsam und wurde wieder zur Höhle. Aber nun zeigte sich ein neues Wunder. Der Turm, der scheinbar ein Teil des Eisblocks gewesen war, stand abgesondert hinter dem Klotz mit dem Torgewölbe. Beide erhoben sich über einer Eisplatte, die flach wie ein Tisch war, wie eine Ebene. Auf dieser Ebene hinter dem Eisberg erhob sich frei der Turm.

Er war viereckig. Alle vier Seiten waren ganz gleich, seine Kanten haarscharf, und er war höher als die Maste unseres Schiffes. Eine schier ungeheuerliche Masse von Eis mußte unter diesem hohen und künstlichen Gebilde im Meer schwimmen. Nur der siebente Teil eines Eisberges ragt ja über die Wasseroberfläche. Sechsmal so viel Eis als sichtbar ist, schwimmt unter Wasser. Diese unsichtbare Eismasse unter dem Meeresspiegel ist es, die Eisberge so gefährlich macht.

Wir gingen nicht mehr unter Deck. Wir blieben am Bug stehen und ließen Berg auf Berg an uns vorbeiziehen. Schließlich kam einer, der der größte von allen war. Aber wie ich die »Contax« hob, sah ich, daß der Film in der Kamera abgelaufen war. So rasch ich konnte, wechselte ich die Rollen. Es dauerte einige wenige Augenblicke, aber wie ich den Kopf hob, war der Berg fort.

Ich fühlte einen tödlichen Schreck. Eben war der Eisberg doch noch vor mir gewesen. Er konnte doch höchstens eine kurze Strecke weiter getrieben sein. Er konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Da sah ich noch einmal, für Sekunden, die Konturen des Eisblockes, dann war er verschwunden, wie verschluckt vom Nichts. Jetzt erkannte ich erst, daß Nebel ihn verschluckt hatte. Wo eben noch freies Meer gewesen war, breitete sich weißlicher, undurchdringlicher Dunst. Ich sah nach vorn. Auch hier undurchdringliche Schleier. Hinter diesen Schleiern aber rückten wie eiserne Tankungeheuer hinter Gaswolken die eisigen, zackigen Berge gegen uns vor.


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