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Ponds Inlet (Baffinland).
Von den drei in der äußersten Arktis herrschenden Mächten, der Regierung, der Hudson's Bay Company und der Kirche dünkt sich jede einzelne maßgebend. Im Grunde ist es jedoch keine von den dreien. Der eigentliche Herr der Arktis ist ein Tier: der Weißfuchs. Er hat die Arktis erschlossen, von ihm hängt ihre weitere Entwicklung ab, ja nicht nur das, sondern das Wohl und Wehe aller in der Arktis Lebenden und mit ihr Verknüpften, der Weißen wie der Eingeborenen.
Sämtliche Posten der Kompanie beruhen ausschließlich auf der alljährlichen Ausbeute an Weißfuchsfellen. Die Einnahmen der Regierung bestehen in den Ausfuhrabgaben – 12-20 Mark je Fell bei einer durchschnittlichen jährlichen Ausfuhr von 4000 Fellen! – und die Eskimos kämen ohne den Weißfuchs in eine geradezu katastrophale Lage. Sie leben zwar noch, wenigstens in der Zentralarktis, überwiegend von Seehundsfleisch und -fett, heizen und kochen mit Tran und kleiden sich in Felle. Aber sie haben sich in den letzten Jahren doch bereits allerlei europäische Bedürfnisse angewöhnt, vor allem vermögen sie die Tiere, auf denen ihr Leben beruht, nicht mehr wie früher mit selbstverfertigten Waffen zu jagen, sondern sie brauchen Gewehre und Munition, zum Teil auch Segel- und Motorboote, Feldstecher und dergleichen.
Das alles aber vermögen sie sich nur durch den Weißfuchs zu verschaffen, dessen Fell sie bei den Handelsposten gegen das eintauschen, was sie brauchen oder was ihr Herz begehrt. Der Weißfuchs hat die Eskimos plötzlich reich gemacht, über alle Vorstellung reich.
Gleichzeitig hat er sie aber in eine vorher unbekannte Abhängigkeit gebracht, und zwar in eine doppelte: von der Kompanie wie vom Fuchs, der zu einer Art Monokultur für die Arktis geworden ist. Der Fuchs spielt für die Arktis die gleiche Rolle wie der Weizen für Kanada, wie die Baumwolle für Ägypten. Ein gutes Fuchsjahr heißt Reichtum und Wohlstand in der ganzen Arktis, ein schlechtes leere Kassen bei der Kompanie und mageres Leben bei den Eskimos. Soweit man bis jetzt feststellen konnte, steigt und fällt die Ausbeute an Füchsen in regelmäßigen Kurven von drei bis fünf Jahren.
Bei der Bedeutung des Weißfuchses ist es nicht verwunderlich, daß sich der Leiter der kanadischen Arktis-Expedition, sobald wir Baffinland betreten haben, höchstselbst in die Tundra hinausbemüht, um sich persönlich von den Jagdaussichten für das kommende Jahr zu überzeugen. Diese hängen von der Zahl der Lemminge ab, wie er mir sagte; viele Lemminge bedeuten viele Füchse. Der Lemming ist eine Mausart, ungefähr so groß wie unsere Feldmäuse, nur mit einem viel schöneren Fell, das im Winter weiß wird, wie alles in der Polarwelt.
Wir brauchen nicht weit in die sumpfige Steppe hinauszuwandern, bis wir auf einen der Erdhügel stoßen, die die unterirdischen Behausungen der Lemminge künden. Wir graben einen Bau aus und finden eine Mutter mit vier Jungen. Wir hätten gar nicht zu graben brauchen. Wie wir weitergehen, wimmelt das Feld von Lemmingen. Sie laufen uns buchstäblich über die Füße. Wir sind in eine ganze Lemmingstadt geraten, mit »Wolkenkratzern« und »Einbahnstraßen«. Ja, die Lemminge haben in ihren Städten richtige schnurgerade Straßen, und wenn wir sie aus ihrem Bau treiben, laufen sie diese Straßen entlang.
Das bedeutet eine gute Fuchsausbeute im kommenden Jahr. Fehlt der Lemming, so verschwindet auch der Fuchs. Zum großen Teil wandert er dann wohl auf die gefrorene See hinaus, folgt den Spuren des Eisbären und schmarotzt von dessen Beute.
Der Polarbär jagt im Winter am Rande des offenen Wassers entlang. Wie der Schakal dem Löwen, folgt dann der Fuchs dem Bär und stillt seinen Hunger an den Seehundsresten, die ihm der große Bruder übrig läßt.
Der Eisbär ist ein Schädling, der den für die Eskimos unentbehrlichen Seehund stark vernichtet. Sein Fell ist heute fast wertlos. Trotzdem erwägt die kanadische Regierung Maßnahmen zu seinem Schutz, mit Rücksicht auf den unentbehrlichen Weißfuchs. Ausrottung des Eisbären würde in einem schlechten Lemmingjahr Vernichtung des Fuchses bedeuten.
Die Lemminge aber sind unsichere Kantonisten. Wie alles in der Arktis sind auch sie Nomaden. Von Zeit zu Zeit, in Zwischenräumen von 5-20 Jahren überkommt sie der Wandertrieb. Dann brechen sie in Massen auf und ziehen in dichten Schwärmen zu vielen Tausenden über das Land. Füchse, Wölfe und Raubvögel folgen ihnen und machen gute Beute, obgleich die Lemminge nur des Nachts wandern. Das seltsamste ist jedoch, daß das Ziel der Lemminge das Meer ist. Der ganze endlose Zug strebt der See zu und stürzt sich, an den Ufern angekommen, ohne Besinnen ins Wasser und ertrinkt. Vielleicht ist der Grund der Ausbruch einer ähnlichen, plötzlichen grundlosen Besessenheit, wie sie auch die Eskimos und ihre Hunde mitunter überfällt.
Bedeuten wenige Lemminge wenige Füchse, so kann es auf der andern Seite auch zu viele Lemminge geben. Sind die Lemminge eine allzu leichte und reichliche Beute für den Fuchs, so geht er nicht mehr in die Falle.
So kommt es, daß ein guter Trapper in einem Jahr an die zweihundert Füchse fangen kann, im nächsten Winter vielleicht nur zehn oder einen oder gar keinen. Bei dieser Unsicherheit des Fanges ist es kein Wunder, daß man in der Arktis Weißfuchsfarmen einrichtet, zumal man mit der Silberfuchszucht so glänzende Ergebnisse erzielte; denn der überwiegende Teil aller Silberfuchspelze stammt aus Fuchsfarmen.
Mit den Weißfuchsfarmen hat man jedoch keinen Erfolg gehabt. Die Fütterung erwies sich als zu schwierig und kostspielig, und außerdem verweigerten die Polarfüchse in der Gefangenschaft die Fortpflanzung. Die Hudson's Bay Company hat die Farm, die sie auf Baffinland eingerichtet hatte, eingehen lassen.
So bleiben die Verwaltung der kanadischen Arktis, die Hudson's Bay Company und die Eskimos weiterhin von den Füchsen und Lemmingen abhängig. Jedoch bedroht eine noch viel größere Gefahr als ein etwaiger Lemmingzug ins Meer die Arktis – die Laune einer schönen Frau.
Wie lediglich eine plötzliche Modelaune den Weißfuchs modern und seinen Pelz wertvoll machte, so kann eine andere Laune ihn wieder absetzen. Wie ein Damoklesschwert hängt ein solcher Modewandel über der ganzen Arktis.
Es gibt Beispiele für solch plötzlichen Wechsel. Ein Eisbärfell war einmal sehr wertvoll; eine Wohnung, die etwas gelten wollte, konnte kaum ohne eins auskommen. Heute haben Eisbärfelle keinen Wert. Wie war es mit den Straußenfedern? Heute noch leidet Südafrika unter den katastrophalen Folgen des plötzlichen Modewechsels, der ungezählte Straußenfarmen, die bis dahin ein Riesenkapital dargestellt hatten, von heute auf morgen entwertete. Also ist der eigentliche Herr der Arktis, von dem Wohl und Wehe abhängt, nicht einmal der Weißfuchs, sondern eine Frauenlaune.
Monokultur, die Erzeugung eines einzigen Produktes, ist wie das Gold aus dem Märchen, das sich plötzlich in stinkenden Unrat verwandelt. Sie hat noch keinem Lande Segen gebracht. Wir kennen ihre vernichtenden Folgen bisher lediglich auf Industrie- und Agrarländer. Die Arktis wird vielleicht einmal ein Beispiel dafür sein, welche Lebensgefahr es für ein Jäger- und Fischervolk bedeutet, von dem leichten, lockenden Brote zu essen, das Monokultur und Verflechtung in die Weltwirtschaft heißt.