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Southampton Island.
Es ist nicht mehr viel los mit der Primitivität der sogenannten Naturvölker. Wer auszieht mit dem Gedanken, sie noch im Urzustande anzutreffen, wird böse enttäuscht werden. In Neuguinea wird er vermeintliche Menschenfresser Fußball spielen sehen, und im Innern Afrikas auf »Wilde« stoßen, die den Kurswert der verschiedenen Währungen genau kennen und ihre Schwankungen sorgfältig verfolgen. Es nützt nicht einmal immer etwas, in völlig abgelegene Gegenden zu reisen. Es mag noch kein Europäer dahin vorgedrungen sein, wohl aber seine Ware. Andererseits trifft man mitunter gerade da noch Primitivität, wo man es am wenigsten erwartet. – So ging es uns mit den ersten Eskimos.
In den letzten Jahren hat man besonders viel von der rasch fortschreitenden Europäisierung arktischer Ureinwohner gehört. Je nach dem Standpunkt wurde es beklagt oder begrüßt, daß sie aufgehört haben, sommers in Zelten und winters in Schneehütten zu wohnen, sondern in festen Häusern leben, daß sie mit Kohle und Holz heizen statt mit Tran, daß sie in Motorbooten auf die Seehundsjagd fahren statt in Kajaks.
In dieser Annahme, daß es mit dem alten, primitiven Leben des Eskimos endgültig zu Ende sei, wurde ich während meines Aufenthaltes in Kanada noch bestärkt. Ich hörte in Winnipeg, daß von der Mackenziemündung regelmäßig Eskimos mit ihren Pelzen nach Edmonton geflogen kommen, um sie dort zu verkaufen, weil sie auf diese Weise trotz der Kosten für das Flugzeug mehr daran verdienen als wenn sie sie an die ortsansässigen Händler oder die Posten der Hudson's Bay Company verhandeln.
Diese Eskimos kommen von weit jenseits des Polarkreises her, direkt vom Eismeer. Was konnte ich da von denen in Southampton erwarten, unserer ersten Station, die doch erst an der Grenze der Arktis liegt und überdies mitten in der Hudsonbucht.
Nein, wir erwarteten wirklich nicht viel von den Eskimos auf Southampton Island. Immerhin war es auffällig, daß man nichts von modernen Eskimohäusern sah, wie wir sie von Photographien kannten, sondern lediglich ein paar niedere, schmutzige Zelte dicht am Strand.
Ein Rudel Schlittenhunde umstand diese Zelte. Sie fielen uns keineswegs wie Wölfe an, wie man es in Geschichten liest, sie versperrten uns nicht einmal bellend den Weg, sondern umkreisten uns nur und beschnüffelten uns. Manche sahen allerdings aus wie Wölfe mit ihren zottigen Fellen und bösen Augen, aber auch sie knurrten kaum, und alle waren besonders gut aussehende, starke Tiere.
Immerhin betraten wir mit einigem Zögern und Mißtrauen das nächste Zelt. Das erste, was ich sah, war die berühmte Tranlampe, ein flach ausgehöhlter Speckstein voll Seehundsfett, aus dem ein Docht ragte, der mit schwachen, blassen Flämmchen brannte. Es war behaglich warm im Zelt, trotz des kalten Windes, der draußen pfiff.
Vor der Tranlampe saß eine alte Frau mit tatauiertem Kinn. Sie grinste uns freundlich zu und schien weder erstaunt noch entrüstet über den unerwarteten Besuch. Obgleich sie nur zum Teil mit Fellen, zum Teil aber mit europäischen Stoffen bekleidet war, wirkte sie viel echter als die bekannten Bilder schmucker Grönland-Eskimomädchen, die trotz vollständiger Pelzkleidung und Pelzhosen meist aussehen wie europäische Bäuerinnen, die sich zu einem Trachtenfest angezogen haben.
Vor allem aber bekundete die Alte ihre Echtheit durch einen geradezu unbeschreiblichen Schmutz. Auch alle übrigen Eskimos, die wir trafen, waren an Gesicht und Händen mit einer derartigen Dreckschicht bedeckt, daß es schwer war, ihre natürliche Hautfarbe zu erkennen. Besonders am Hals war die Schmutzschicht so dick, daß man sie mit dem Messer hätte abkratzen können. Soweit man durch den Schmutz hindurch erkennen konnte, war ihre natürliche Hautfarbe ein Braungelb, das von ganz lichten Tönen bis zu afrikanischer Färbung wechselte. Später sah ich bei stillenden Müttern, die trotz der Kälte ihren Säugling im Freien stillten, daß die Körperfarbe ein helles Gelb ist, wie man es bei Chinesen findet. Überhaupt ist die Ähnlichkeit mit Chinesen so stark, nicht nur in Gesichtsschnitt und Augenstellung, sondern auch in der ganzen Art, daß man auch ohne alle ethnographischen Kenntnisse bei der ersten Begegnung keinen Augenblick im Zweifel darüber sein kann, daß die Eskimos von Asien herüber gewandert sein müssen.
Die Alte im Zelt saß vor einem blechernen Teekessel, wie man ihn für ein paar Cents bei Woolworth kaufen kann. Wie das schwache Flämmchen das Wasser im Kessel zum Kochen bringen sollte, war mir allerdings schleierhaft. Aber ebensogut wie es das Zelt wärmte, brachte es wohl auch das Wasser zum Sieden, falls das überhaupt beabsichtigt war und es nicht nur ein wenig erwärmt werden sollte.
Das Kochen spielt bei den Eskimos, die wir in der Arktis trafen, keine große Rolle. Mit einem leichten Grauen konnten wir später feststellen, daß sie den Namen Eskimos, das heißt »Rohfleischesser«, heute noch zu recht führen. Ich habe an sich durchaus nichts gegen rohes Fleisch, ja ich esse ein Tartarbeefsteak sogar leidenschaftlich gern, und ich habe im Innern Japans mit besonderem Genuß rohen Fisch gegessen. Die Art und Weise aber, wie die Eskimos Fleisch und Fisch roh essen oder besser gesagt verschlingen, kann selbst dem einen leichten Schauder über den Rücken jagen, der sonst kein Kostverächter ist und es sich zur Regel gemacht hat, möglichst in jedem Lande nach der Landessitte zu leben und zu essen.
Aber zu essen à la Eskimo! – brrrr! Als wir uns im Zelt nach Gegenständen europäischer Herkunft umschauten, entdeckten wir auch die Speisekammer. Wir brauchten nicht lange zu suchen, sie oder vielmehr ihr Inhalt kam uns sozusagen entgegen. In einer Zeltecke lag ein Haufen Fleisch und Fisch. In einem wüsten, schmutzigen, blutigen Klumpen häuften sich mächtige Stücke Seehundsfett und Fleisch, Kariburippen und Fische jeder Größe. Das Fleisch und die Fische waren zum Teil angenagt, zum Teil frisch, zum großen Teil faulig, und alles schwamm in einer Suppe von Fett, Blut, Schmutz und Eingeweiden.
Ich meinte im ersten Augenblick, das seien vielleicht Abfälle, oder es wäre für die Hunde bestimmt, bis wir später mit Schaudern sahen, daß es von der Familie verzehrt wird, und zwar meist so, wie es ist, auch von den kleinen Kindern. Das sieht am schlimmsten aus, wenn man die Kleinen, die noch kaum laufen können, Fett und Eingeweide verschlingen oder rohe Fischköpfe abknappern sieht.
Wie gesagt, ißt der Eskimo alles mit, das ganze Tier, das er erlegt, mit Rups und Stups, sogar den Mageninhalt. Darin liegt das Geheimnis, daß der Eskimo bei seiner reinen Fleischnahrung gesund und kräftig ist und ohne die Vitamine leben kann, hinter denen wir so eifrig her sind. Diese Vitamine nimmt er eben im rohen Fleisch zu sich, und die Eingeweide und halbverdauten Kräuter und Gräser aus dem Magen des erlegten Karibus sind ihm Salat und Hefe zugleich.
Einzelne Polarforscher wie Rasmussen und Stefansson haben mit Begeisterung von der Eskimodiät berichtet, und letzterer baut eine ganze Theorie für die Besiedelung und Erschließung der Arktis auf der von ihm erprobten Tatsache auf, daß ein Weißer ganz gut nach Eskimoart aus dem Lande leben kann. Aber dazu muß man wohl wie Rasmussen Eskimoblut in sich haben oder wie Stefansson über eine besondere Konstitution verfügen. Jedenfalls haben die Weißen, die wir in der Arktis trafen, sich sehr energisch gegen die Theorie Stefanssons gewehrt. Ich habe gefunden, daß auch die Eskimos europäisches Brot, Biskuits und Steaks – falls sie solche Kost erwischen – ihrem rohen Fisch und Fett nicht nachstellen, sondern mitunter vorziehen.
Aber das ist ein Kapitel für sich und sogar ein besonders schwieriges und gefährliches. Die Widerstandsfähigkeit des Eskimos einem beispiellos rauhen Klima und unsagbar harten Lebensbedingungen gegenüber beruht ja gerade auf seiner Nahrung. Ändert man diese und europäisiert man sie zu sehr, so besteht die Gefahr, daß er den Anforderungen nicht mehr gewachsen ist, die die Natur in der Arktis an ihn stellt. –
Während dieser Überlegungen hatte ich meine Umschau im Zelt beendet und außer dem einen Teekessel nichts Europäisches entdecken können. Der Gewissenhaftigkeit halber untersuchten wir noch den rückwärtigen Teil der Behausung, den ein großes, gemeinsames Lager aus Fellen einnahm. Da entdeckten wir unter einem starken »Kuletah« ein winziges Baby. Es war weiß und runzelig wie ein europäisches Neugeborenes und trug ein Häubchen, das aussah, als käme es direkt aus Berlin.