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3. Das Regierungspensionat

Churchill.

Daß wir in Churchill schließlich doch einen Unterschlupf fanden, verdankten wir einem freundlichen, älteren Herrn, der uns stundenlang am Strand hatte auf und ab gehen sehen, während wir auf den Vertreter der Hudson's Bay Company warteten. Spazierengehen ist an sich eine auffällige Beschäftigung in Churchill, Gehen überhaupt. Man geht dort nicht, sondern man fährt, allerdings nicht in Auto oder Omnibus, dafür ist der Sand auf den Straßen viel zu tief, sondern mit dem Werksbähnlein, deren puffende, winzige Lokomotiven das Regierungsviertel von Churchill mit Hafen und Elevator verbinden. Auch die Arbeiter gehen nicht, sondern lassen sich morgens, mittags und abends mit diesem fleißigen Bähnlein befördern.

Eine spazierengehende Familie aber war doppelt auffällig; denn sowohl Frauen wie Kinder sind in der Männerstadt Churchill rar wie weiße Raben. Der freundliche, ältere Herr konnte seine Neugier nicht länger bezwingen, wer die spazierengehende Familie wohl sein mochte, und so sprach er uns an.

Es stellte sich heraus, daß er irgendein höherer Regierungsbeamter sein mußte; denn er führte uns in ein Haus, vor dem eine mächtige Glocke hing. Es sah aus wie ein Bethaus, stellte sich aber als das Eßhaus von Churchill heraus. Es ist das Kasino der Regierungsbeamten, und da hier so gut wie jeder Regierungsbeamter ist, so ißt hier ganz Churchill. Eine Ausnahme machen nur der Mann von der Radiostation, der als einziger verheiratet ist und die beiden Beamten der Bank von Montreal. Die Armen sind von dem reichen Tische ausgeschlossen, den die Regierung sonst für jedermann in Churchill deckt. Aber der Besitzer des einzigen, einstweilen aus einer Bretterbude bestehenden Café-Restaurants, der sich hier im Vertrauen auf die angekündigte Entwicklung Churchills und des Hudsonbuchthafens niedergelassen hat, will auch leben.

Es war wirklich ein reich gedeckter Tisch, und es mundete uns um so besser, als wir etliche Stunden auf unser Abendessen hatten warten müssen. Der freundliche Herr sah mit Freuden unsern guten Appetit und lud uns ein, alle unsere Mahlzeiten hier einzunehmen, kurzum er gab uns den Ritterschlag als Regierungsleute oder besser gesagt, er nahm uns ins Regierungspensionat auf.

Ja, eine Art Pensionat war es und sogar ein recht strenges. Das sollten wir alsbald am eigenen Leibe erfahren. Mitten in der interessantesten Lektüre des Bulletins von Churchill, das hier an Stelle einer Zeitung ausgegeben wird, wurde ich durch das plötzliche Ausgehen des elektrischen Lichtes unterbrochen. Es hatte kurz vorher ein paarmal warnend geblinkt, aber ich hatte dieser Warnung keine Bedeutung geschenkt. In Afrika, in Salisbury in Rhodesien oder in Nairobi in Kenya ist es üblich, daß das elektrische Licht an den Tagen, an denen das Kino spielt, um halb neun Uhr aufzuckt, um zum Aufbruch zum Theater zu ermahnen. Aber Kino! Nein, Kino gibt es für die Insassen des Regierungspensionates ebensowenig wie eine eigentliche Zeitung. Das Licht geht aus, weil eben um zehn Uhr jedermann zu Bett zu sein hat, am Hafen, im Elevator, in jedem Haus. Die gesamten Anlagen sind zwar für ununterbrochenen, vierundzwanzigstündigen Betrieb gebaut und eingerichtet, um in der kurzen Verladesaison von 60 bis 100 Tagen, während Hafen und Hudsonstraße eisfrei sind, möglichst viel Getreide verladen zu können. Aber einstweilen liegt nur ein einziger Dampfer am Kai, und so besteht kein Grund, warum nicht jedermann rechtzeitig zu Bett gehen soll.

So liegen auch wir Punkt zehn Uhr brav in unsern Hospitalbetten, die uns mangels etwas anderm angeboten wurden. Die Bezeichnung Hospital ist allerdings irreführend. Es war ein ebensolches Bretterhaus, wie die übrigen Regierungsbauten auch. Das Sprechzimmer des Arztes war darin und seine Wohnung und außerdem ein größerer Raum als Hospital. Da augenblicklich nur ein Kranker drin lag, war gut Platz für uns.

Wir schliefen auch ausgezeichnet, bis uns in der Frühe um sechs Uhr eine laute Glocke daran erinnerte, daß wir ja jetzt Pensionsinsassen waren und aufzustehen hatten. Um sechs Uhr muß alles aufstehen in Churchill, wiederum mit Ausnahme des Radiomannes und der beiden Bankbeamten, an die wir in diesem Augenblick voll Neid dachten.

Punkt halb sieben Uhr läutet eine zweite Glocke, und wer nicht mit dem letzten Glockenschlag das Eßhaus betritt, erhält kein Frühstück mehr. Wir schossen aus den Betten; denn wir hatten sehr wohl gestern den Anschlag gelesen, daß Ausnahmen unter keinen Umständen gemacht würden und daß das Personal angewiesen sei, Zuspätkommenden unter keinerlei Entschuldigung nachzuservieren. Überdies hatte uns der junge Arzt, der bis in die Nacht hinein noch Indianerpatienten behandelt hatte, noch besonders gewarnt, ja pünktlich zu sein.

Als wir vor die Tür traten, stand vor dem Eßhaus bereits eine Schar älterer und jüngerer Männer, die artig wie Schüler warteten, bis die Glocke ertönte, worauf alles eiligst in das Haus strömte. Drinnen entbrannte augenblicks eine wahre Eßschlacht, die binnen zehn Minuten gegen ganze Berge von Porridge, Schinken, Fleisch und Marmelade gewonnen war.

Da die Mahlzeiten mittags und abends noch reichhaltiger und besser waren, und wir uns mit der Zeit sowohl an die straffe Ordnung des Regierungspensionates wie an unsere Hospitalbetten gewöhnten, so waren wir in Churchill wunderbar untergebracht und konnten in aller Ruhe auf die Ankunft der »Nascopie« warten, die uns ins »ewige Eis« bringen sollte.

Eins wäre freilich schlimm gewesen, wenn wir, entsprechend den Kosten des »Pensionates«, hätten Pension bezahlen müssen. Das »Pensionat« Churchill ist ohne Zweifel das teuerste der Welt. Verteilt man die Kosten der Anlage auf die einzelnen Pensionäre, so ergibt sich eine geradezu horrende Summe. Allein die Kosten für das verbrauchte Wasser oder für das Wegführen der Fäkalien wären für den einzelnen unerschwinglich, würden sie entsprechend der verursachten Kosten eingesetzt. Die Wasserleitungsröhren müssen durch mehrere Meter dicken Kälteschutz vor dem Einfrieren im Winter geschützt und die menschlichen Fäkalien in geheizten Tankwagen abgefahren werden.

Ja, es ist nicht ganz einfach, in arktischem Klima von heute auf morgen eine moderne Großstadt erstehen zu lassen mit all den Bedürfnissen eines modernen Großstadtmenschen. Daß es auch anders geht, daß man an der rauhen Hudsonbucht mit einem Mindestmaß von Bequemlichkeit leben kann, hat die große und berühmte Kompanie bewiesen, deren Name und Geschichte so untrennbar mit der Bucht verknüpft ist, daß man sich noch gar nicht recht vorstellen kann, daß jetzt eine ganz neue Zeit für Kanadas Norden anbrechen soll.


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