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31. Der Weg über das Eis

An Bord der »Nascopie« vor Craig Harbour.

Die Lage ist unverändert; wir liegen und warten. Ich gehe auf Deck auf und ab und blicke nach dem düsteren Felsloch von Craig hinüber, das wie ein dunkles Gefängnis inmitten weißer Mauern liegt. Es hat geschneit; auch die Felsen und Berge rings um Craig sind jetzt weiß.

Ich könnte die unfreiwillige Muße gut nützen – ich hätte so viel zu arbeiten. All die Eindrücke und Erlebnisse der letzten Wochen warten auf Niederschrift. Ich kann nicht. Ich kann nicht anders als immerzu an das Schicksal der drei Männer denken, die drei Jahre jenseits der äußersten Grenze verbrachten, die dem Menschen gesetzt ist.

Es ist die äußerste Grenze! Die Eskimos, die eine vieltausendjährige Erfahrung des Lebens in Nacht und Eis haben, meiden bereits die Devoninsel, die südlich von uns liegt. Die Lebensbedingungen sind zu karg, der Winter zu streng, die arktische Nacht zu lang.

Ab und zu setzen einzelne Eskimos aus Baffinland im Winter über den gefrorenen Lancastersund, um auf der Devoninsel zu jagen. Aber das sind vereinzelte Streifzüge besonders kühner und geschickter Jäger. Für dauernde Siedelung oder auch nur Wanderung ist weder Devon noch Ellesmereland je in Frage gekommen, wenigstens nicht unter den gegenwärtigen klimatischen Bedingungen und Eisverhältnissen. In der kanadischen Arktis liegt die äußerste Grenze menschlichen Lebens südlich des 75. Breitengrades.

In Grönland sind die Bedingungen günstiger. Der eisige Strom, der durch den Smithsund vom Pol nach Süden fließt, zieht an der kanadischen Küste entlang, nicht an der grönländischen, die im Gegenteil noch den letzten Zipfel des letzten Ausläufers des Golfstromes abbekommt. Thule, das Rasmussen als den nördlichsten Posten in Grönland gründete, buchstäblich als das Ultima Thule der Menschheit, liegt auf einer Höhe mit Craig. Inzwischen ist die äußerste Grenze menschlicher Siedelung in Grönland nochmals um 150 Kilometer weiter nordwärts nach Robesonsund vorgeschoben. Einige Eskimojäger ziehen sogar gelegentlich noch weiter nach Norden und wohl auch über den gefrorenen Smithsund, um auf Ellesmereland Moschusochsen zu jagen.

Dies zu verhindern, ist mit eine der Aufgaben des Polizeidetachements auf Ellesmere. Polizei im höchsten Norden, jenseits der äußersten Grenze menschlichen Lebens zur Aufrechterhaltung von Jagdschutzgesetzen! Es klingt wie ein Witz, wie die tollste Ausgeburt bürokratischen Schematismus!

Diese Maßnahme ist aber nicht so töricht wie sie scheint. Ellesmere und Devon sind mit die letzten Plätze, wo es Moschusochsen, dieses seltsame prähistorische Wild, noch gibt. Ihre Erhaltung hat nicht nur wissenschaftlichen Wert. Soll die äußerste Grenze einmal über den 75. Grad nach Norden vorgeschoben werden, so ist der Moschusochse von unschätzbarem Wert. Er ist hier neben Walroß und Seehund der einzige Nahrungs- und Kleidungsspender.

Ja, Kanada hat recht, wenn es die äußerste Grenze überschritt, wenn es seinen Arktisbesitz nicht nur dem Namen nach in Besitz nimmt. Ellesmereland ist das letzte Land vor dem Pol. Von seiner Nordküste bis zur Kuppe des Globus sind es keine 500 Meilen mehr. Nur 500 Meilen eisbedeckten Meeres! Wird der Polflug, der Flug über den Pol von Amerika nach Asien, einmal Wirklichkeit – und er wird einmal Wirklichkeit werden –, so liegt der letzte Stützpunkt für diesen Flugverkehr auf Kanadas nördlichster Insel. Es ist sicher der Mühe wert, die äußerste Grenze zu überschreiten, selbst wenn dieses Überschreiten zunächst Opfer kosten sollte.

Diese Überlegungen sind wenigstens ein schwacher Trost während des Wartens. Trotzdem wäre mir der Gedanke furchtbar, wenn das Detachement verloren wäre. Noch schlimmer, ja, fast unerträglich wäre es, wenn die Landung nicht gelänge, wenn Sturm und Eis die »Nascopie« zwängen, sich in Sicherheit zu bringen, ehe die Polizisten mit ihren Eskimos geborgen sind. Aber die »Nascopie« ist ein wunderbares Schiff, und sie hat einen wunderbaren Kapitän. Beide haben noch nicht gezeigt, was sie leisten können, wenn es auf das Letzte ankommt. –

Schließlich bin ich doch müde geworden von dem nutzlosen Zaudern und Warten und für eine Weile unter Deck gegangen. Es kann auch sein, ich bin eingenickt, die letzte Nacht brachte reichlich wenig Schlaf. Jedenfalls schrecke ich von einem heftigen Lärm auf. Auf Deck treffe ich den Inspektor, der seine sämtlichen Korporale und Konstabler um sich versammelt hat und wütend auf sie einschimpft.

Was ist geschehen? Der Wind flaute plötzlich ab, und diese unerwartete Flaute nützte der zweite Offizier, um seinerseits mit einem Boot zur Eisbarriere hinüberzufahren. Der Inspektor war gleichfalls eingeschlafen; kein Wunder, er hat eine überaus anstrengende und aufregende Zeit hinter sich. Nun tobt er, daß man ihn nicht geweckt hat, daß ein anderer als erster seine Leute begrüßt und aufs Schiff herüberholt.

Falls dies gelingt! Wieder stehen wir alle an der Reling und suchen aufgeregt die Eisbarriere ab. Sie ist weiter entfernt, als es zunächst scheint, und selbst mit dem Glas sind Menschen auf diesem zackigen und bergigen Eis schlecht zu erkennen. Aber man sieht doch deutlich, wie der Trupp landet, wie das Schlittenboot aufs Eis geschoben wird. Und da! Jetzt sieht es so aus, als ob andere Menschen zu der Gruppe stießen. Jedenfalls kehrt alles zum Boot zurück, und dieses selbst wendet und hält auf die »Nascopie« zu.

Fieberhaft sehen wir durch das Glas und versuchen zu erkennen, wieviel Menschen im Boot sitzen. »Es sind zehn!« ruft der 1. Offizier, der neben uns steht, »nein, elf!« – Sieben fuhren hinüber, vier mehr bringen sie zurück.

Jetzt erkennen wir deutlich zwei ganz in Pelz gehüllte Gestalten und zwei schneeweiße, die wie Eismänner wirken.

Sie sind da, sie sind in Sicherheit. Aber der Bann, der auf allen liegt, löst sich nicht. Niemand ruft, niemand winkt. Auf allen lastet ein fast peinliches Schweigen. Die Spannung war zu groß. Wir stehen weiter an der Reling und warten, wir wissen nicht worauf. Wir warten, daß irgend etwas Außerordentliches geschieht, um uns das Außerordentliche bewußt zu machen.

Allein nichts geschieht. Das Boot kommt längsseits, nicht anders wie irgendein anderes Boot. Eine riesenhafte, imposante Gestalt in schwerem Pelz klettert die Strickleiter hoch. Es ist Korporal Stallworthy. Der Inspektor tritt ihm entgegen, wie ein Zwerg wirkt der keineswegs kleine Mann vor dem Riesen. Die zwei Männer schütteln sich die Hände. » Glad to see you, Stallworthy!« Das ist alles, was der Inspektor sagt. Wir stehen darum herum und wissen nicht recht, was wir sagen sollen.

Das Detachement von Ellesmereland kommt an Bord

Hinter dem Korporal ist der eine der beiden Konstabler an Deck gekommen, nun klettern die beiden Eskimos die Strickleiter hoch. Sie sind buchstäblich schneeweiß von Kopf bis Fuß. Sie tragen blendend weiße Stiefel aus Seehundsfell, Eisbärhosen und einen schneeweißen Kittel mit ebensolcher Kapuze. Es ist Nookapinguaq mit seinem Sohn.

Die vier Männer haben sich heute früh mit einem Schlittenboot aufgemacht, um unter allen Umständen den Weg über das Eis zu versuchen und an den Rand der Eisbarriere zu gelangen.

Sie hatten Erfolg, obgleich das Eis an einzelnen Stellen aus hohen, zackigen Bergen bestand, über die man kein Boot schaffen konnte, und an andern aus treibenden Schollen, die keinen Mann trugen.

»Und der dritte Mann?« frage ich –. »Der ist drüben geblieben«, antwortet der Korporal, als sei das die größte Selbstverständlichkeit.

Mir ist das unfaßbar. Schließlich haben die drei Mann Unerhörtes hinter sich. Seit drei Jahren sind sie auf Ellesmereland, seit zwei Jahren warten sie auf das Schiff. Schließlich besteht immer noch die Möglichkeit, daß wir vorzeitig von hier wegmüssen. Und was dann? Mir erscheint es als eine Barbarei, den einen Mann zurückzulassen, während die zwei andern sich mit uns an die reich besetzte Schiffstafel setzen.

»Oh, der wollte gar nicht mit!« beruhigt mich der Korporal, »der hatte die letzte Nacht Wache und schläft sich aus. Außerdem ist er nicht allein, der eine von den Eskimos ist doch noch drüben!«

Der »eine von den Eskimos« ist die Frau Nookapinguaqs. Augenscheinlich zählt sie genau so viel wie die Männer, und augenscheinlich muß ich noch allerlei hinzulernen, um die Denkweise der »Männer des Nordens« ganz zu verstehen.


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