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45. Der Eskimoprinz

Pangnirtung (Baffinland).

Auf Pangnirtung waren wir alle gespannt. Es ist der einzige Platz auf den arktischen Inseln, auf dem weiße Frauen leben – gleich drei! Das kommt daher, daß sich ein Hospital dort befindet, das einzige auf dem arktischen Archipel. Zwei sind Krankenschwestern, die dritte ist die Frau des Missionars.

Mit diesem Hospital war eine Haupt- und Staatsaktion verknüpft. Als ich auf dem Polizeiposten fragte, was es in Pangnirtung wohl besonderes gäbe – ich dachte natürlich an einen interessanten Ausflug, eine Gelegenheit zur Walroßjagd oder dergleichen – wurde mir feierlich verkündet, es fände die Enthüllung der Gedenktafel im Krankenhaus statt.

Zu dieser Enthüllung ging die Regierungsexpedition vollzählig an Land, einschließlich der gesamten Mounted Police, die zur Erhöhung der Feierlichkeit ihre scharlachroten Röcke angetan hatte. Selbstverständlich waren auch beide Ärzte anwesend – der alte, den die »Nascopie« nach Hause nimmt und der neue, den sie mitgebracht hat – der Missionar mit Frau und beide Schwestern, von Kopf bis zu Fuß schneeweiß eingekleidet und vor Aufregung zitternd. Nur die Hudson's Bay Company bezeigte wie gewöhnlich ihre Stellung als unabhängige Großmacht und glänzte durch vollzählige Abwesenheit.

Der Major hielt eine sehr schöne und sehr rührende Rede, in der er ausführte, wie ein kleines sechsjähriges Montrealer Mädchen in einer Missionspredigt hörte, daß die armen kleinen Eskimokinder, wenn sie in das Hospital von Pangnirtung kommen, dort weder elektrisches Licht haben noch X-Strahlen. Das kleine Mädchen war davon so ergriffen, daß es beschloß, den armen Eskimokindern zu helfen und ihnen sowohl das elektrische Licht als auch den Röntgenapparat zu schenken. Als es seiner Mutter nach Beendigung des Gottesdienstes diese gute Absicht eröffnete, nahm diese das als Wink des Himmels, und da es ihr glücklicherweise auf einige tausend Dollar nicht ankam, stiftete sie die gesamte Anlage.

Zur dankbaren Erinnerung an diese rührende Handlung kindlicher Frömmigkeit war im Gang des Hospitals, in dem wir alle ein wenig gedrängt standen, eine Messingtafel angebracht worden, auf der steht, daß die kleine sechsjährige Miß, Tochter von Sir und Lady so und so, dem Hospital die elektrische Anlage und den Röntgenapparat gestiftet hat. Dieses Schild war einstweilen noch mit einer britischen Flagge verhüllt, die der Major jetzt mit feierlicher Geste beiseite zog.

Wir waren alle sehr ergriffen. Bedauerlicherweise sahen sich jedoch weder die Lichtstation noch der Röntgenapparat durch diese feierliche Enthüllung veranlaßt, zu funktionieren. Als beide voriges Jahr mit dem Regierungsschiff anlangten, war augenscheinlich ein kleiner, aber wichtiger Bestandteil vergessen worden. Weder ließen sich die elektrischen Birnen anknipsen, noch flammten die X-Strahlen auf. Die »Nascopie« hatte nun die fehlenden Teile mitbringen sollen. Augenscheinlich waren es aber nicht die richtigen, wenigstens konnten weder der leitende Ingenieur der »Nascopie« noch der Meteorologe, die als Techniker und Physiker die einzigen verfügbaren Fachleute waren, die widerspenstige Anlage in Gang bringen. Die armen, kleinen Eskimokinder werden sich also mindestens noch ein weiteres Jahr behelfen müssen, ohne von elektrischem Licht be- und von Röntgenstrahlen durchleuchtet zu werden.

Nun ist das Unglück nicht so groß, wie es scheint; denn das einzige Eskimokind, das unter dem Versagen der Anlage zu leiden hat, ist ein kleiner Junge, der an einer harmlosen Haarkrankheit leidet. Er ist überdies der einzige Patient im ganzen Hospital. Er war es schon im vorigen Jahr, als das Regierungsschiff hier war. Auch in der Zwischenzeit war nicht mehr zu tun. Der Arzt von Pangnirtung berichtet für das ganze Jahr lediglich von 18 Fällen, unter denen sich kein ernster befand.

Die Eskimos wie auch die Weißen im hohen Norden sind überhaupt unverschämt gesund, wie in den Berichten der in die Arktis geschickten und dort beschäftigten Regierungsärzten immer wieder beinahe mit Bedauern festgestellt wird. Es wird wohl auch so bleiben, solange nicht von der Zivilisation Infektionskrankheiten eingeschleppt und die Eskimos in noch stärkerem Maße als bisher an europäische Kleidung und Nahrung gewöhnt werden, die für ihr Klima wie ihre Lebensweise ungeeignet sind.

So sind auch elektrisches Licht, Röntgenapparat wie überhaupt das ganze Hospital für die Eskimos ein äußerst zweischneidiges Schwert. Der kleine Eskimoprinz führt im Hospital ein Leben, das lange genug fortgesetzt, ihn für sein ganzes weiteres Dasein restlos ungeeignet macht. Er wird dort an ein Maß von Bequemlichkeit gewöhnt, das in krassem Gegensatz zu den harten Anforderungen steht, die das Leben im elterlichen Zelt oder im Iglu an ihn stellt. Im Hospital führt er ein Leben wie ein Prinz, zumal die ganze Liebe zweier unbeschäftigter »Spätermädchen« sich auf ihn stürzt, die ihn über alle Maßen verwöhnen. Zu seiner Bedienung und Wartung stehen zwei Schwestern, ein Eskimomädchen und ein Eskimomann zur Verfügung. Kein Wunder, daß er sich zum Dauerpatienten entwickelt – ich täte das auch an seiner Stelle.

Alle Polarforscher, die mit von der Zivilisation noch unberührten Eskimos zusammentrafen, schließen ihre Schilderung dieser Primitiven mit dem heißen Wunsch, daß die Zivilisation sie nie erreichen möge. Dieser Wunsch ist nicht in Erfüllung gegangen. Heute gibt es kaum noch unentdeckte Eskimos. Aber wenigstens in der Zentralarktis war die Berührung mit der Zivilisation bisher nur oberflächlich. Die Eskimos haben das ganz große Glück, erst spät von der Zivilisation erfaßt zu werden, und die im kanadischen Gebiet überdies noch den Vorzug, unter die Obhut einer vernünftigen Regierung zu kommen, die alles tut, den Eingeborenen so weit wie möglich ihre natürliche Lebensweise wie die bisherigen Lebensbedingungen zu erhalten.

Zur Bewahrung dieser natürlichen Lebensweise gehört auch die Fernhaltung von Schule und Hospital. Aber ob die kanadische Regierung auch in diesem Punkte fest genug bleiben wird, allen gutgemeinten, aber in ihrer schließlichen Wirkung verderblichen Einflüssen zu widerstehen, ist noch die Frage. Es klingt auch zu barbarisch, den armen Eskimos Weiterbildung und Versorgung im Krankheitsfall verweigern zu wollen. Aber diese »Barbarei« ist die größere Wohltat.

Die europäische Schule kann das Eskimokind nichts lehren, was es für das Leben braucht, das es später doch einmal führen muß und nach dem Willen der kanadischen Regierung auch führen soll. Sie kann es im Gegenteil nur dafür verderben. Und die ärztliche Versorgung? – Natürlich soll und wird man die Primitiven ärztlich behandeln, wo es nötig und möglich ist. Aber europäische Ärzte sollten dabei nie vergessen, unter welch ganz anderen Bedingungen der Primitive lebt, und daß unter Umständen die ärztliche Fürsorge mehr schadet als nützt, zumal wenn man sie nur so vorübergehend angedeihen lassen kann wie in der Arktis.

Der Eskimokörper verfügt noch über die volle natürliche Heilkraft des Tieres und die Eskimofrau über die Gebärkraft eines gesunden starken Tieres. Die junge Eskimomutter geht, wenn ihre Stunde naht, allein in ein Zelt oder ein Iglu. Dort bringt sie ihr Kind ohne jede Hilfe zur Welt und steht in der Regel bereits am gleichen Tage wieder auf. Dieses Kind wird von der Mutter drei bis fünf Jahre lang gestillt.

Schon aber fordern kanadische Regierungsärzte, die aus der Arktis zurückkommen, daß man durch Lieferung von kondensierter Milch, Fruchtsäften und Keks es der Eskimomutter ermöglichen sollte, ihre Kinder bereits nach neun Monaten zu entwöhnen, um ihnen die Mühe und den Kraftentzug des jahrelangen Stillens zu ersparen.

Auf diesem jahrelangen Stillen beruht aber die erstaunliche Widerstandskraft des Eskimokindes, die ihm ermöglicht, im Säuglingsalter die winterlichen Jagdzüge der Eltern mitzumachen, und die den Säugling so hart macht, daß die Mutter ihn bei 30 und 40 Grad Kälte nackt der kalten Luft aussetzen kann.

Dieses vieljährige Stillen verhindert auch, daß die Geburtenzahl ein Maß übersteigt, das für die Arktis nicht tragbar ist. Die Eskimos sind so zärtliche Eltern, wie die meisten Primitiven. Aber bereits heute müssen sie zeitweise ihre Zuflucht zum Kindesmord nehmen, wenn die Familie eine Grenze überschreitet, die nicht mehr ernährt werden kann. Es werden, genau wie bei den Chinesen, nur neugeborene Mädchen umgebracht, wenn sie noch keinen Namen, also nach ihrer Vorstellung auch noch keine Seele haben.

Ein Knabe wird ein Jäger, der selbst für seinen Lebensunterhalt sorgt, ja sogar die Eltern mitversorgt, wenn sie einmal alt und schwach geworden sind. Ein Mädchen aber braucht einen Versorger. Da auch der Mann einen Gefährten braucht, die Mädchen aber eben infolge dieses Brauches wesentlich weniger zahlreich sind als die Männer, werden Kinder mitunter bereits im Mutterleib verlobt, für den Fall, daß sie als Mädchen geboren werden sollten. Ist aber auch bei der Geburt noch kein zukünftiger Freier in Sicht und den Eltern noch kein Sohn geboren, so wird häufig, auch heute noch, das Neugeborene erstickt, in einer sanften, unauffälligen Weise, indem man ihm die dicke, warme Karibudecke, mit dem es zugedeckt ist, bis über den Kopf zieht.

So entsetzlich uns dieser Brauch erscheint, so erfolgt er aus einer ethischen Notwendigkeit heraus, die eine besonders harte und feindliche Natur dem Menschen aufzwingt. Ein Esser zu viel kann unter Umständen das Leben aller gefährden. Außerdem braucht der Eskimo zur Erhaltung des diesseitigen Lebens genau so einen Sohn wie der Chinese eines für das jenseitige Dasein bedarf. So findet eine Witwe mit einem Sohn leichter einen Freier als ein Mädchen. Söhne bedeuten Altersversorgung. Es ist rührend zu sehen, wie die Eskimos für die Alten sorgen. Ich sah Männer, die ihre alte Mutter mitschleppten, die sie auf dem Rücken vom Boot ins Zelt trugen, vom Zelt ins Boot. Freilich sind die Alten der Jungen wert, und es ist nichts Ungewöhnliches, daß alte Leute freiwillig aus dem Leben scheiden, wenn sie sehen, daß die Last für die jungen zu groß wird.

Das alles erscheint uns fremd, sonderbar und grausam, und vielleicht liest es sich bereits in Europa ganz anders als es hier in der Arktis erlebt wird. Jede von der Natur in einem bestimmten Gebiet ausgebildete Lebensform stellt ein Ganzes, in sich Geschlossenes dar. Bricht man ein Stück aus ihr heraus, so legt man den Grund zu ihrer Zerstörung.

Darum war auch die Wirkung der europäischen Zivilisation auf alle Primitiven so verhängnisvoll. Sie brach über die meisten primitiven Völker zu einer Zeit herein, als wir noch überzeugt waren, daß sie ein Segen und eine höhere Lebensform sei. Heute wissen wir, daß Zivilisation ebenso sehr Segen wie Fluch ist, daß sie keine höherwertige Lebensform bedeutet, sondern lediglich eine andersartige, und daß ihr ungehemmter Hereinbruch über ein Naturvolk nur verhängnisvoll sein kann.

Aber jetzt ist es zu spät für diese Erkenntnis. Die meisten primitiven Völker sind entweder ausgerottet oder zugrunde gerichtet, vergiftet und zu armseligen Zerrbildern des weißen Mannes herabgewürdigt.

Die Eskimos sind einige der wenigen Naturvölker, deren Lebensform und Weltbild von der Zivilisation noch nicht zerstört ist. Einmal werden ja freilich auch sie in die die Erde immer enger umspannende europäisch-amerikanische Zivilisation eingegliedert werden müssen. Aber es ist zu hoffen, daß dies so langsam und so allmählich erfolgt, daß die ungewöhnliche und für die endgültige Eroberung und Entdeckung der Arktis unentbehrliche Tüchtigkeit der Eskimos erhalten bleibt.

Es ist sehr rührend, wenn ein kleines Mädel ihre Eltern veranlaßt, einem arktischen Hospital einen Röntgenapparat zu stiften. Bei flüchtigem Besuch mag man die Wohltaten der Zivilisation in den höchsten Tönen preisen, die aus einem gräßlich schmutzigen, von rohem Fisch und Seehundsfett lebenden Eskimojungen solch sauberen, hübschen, verwöhnten Prinzen machen, wie er im Hospital von Pangnirtung sitzt. Nur, er kann nicht ewig dort sitzen, und kommt er heraus, so wird aus dem Eskimoprinzen ein Eskimoproletarier, ein Bettler der Zivilisation, der gleiche Bettler wie der Indianer, der Australier und die meisten Südseeinsulaner, die alle einst stolze, selbständige Völker waren.


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