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33. Auf der Schwelle zum Pol

Craig (Ellesmereland).

Wir haben Zeit auf Ellesmereland. Die Vorräte für das neue Detachement können nur bei Flut gelandet werden und auch dann nur, wenn Wind- und Eisverhältnisse es gestatten. So liegen wir wenigstens einige Tage hier.

In Craig freilich ist nichts zu sehen und zu entdecken, abgesehen von den Resten alter Stein-Iglus vermutlich prähistorischer Eskimos. Craig ist wirklich ein Gefängnis. Der Geologe, der Sekretär des Expeditionsleiters und ich beschließen, seine Mauern zu übersteigen.

Das ist nicht leicht, zum mindesten mühsam. Die Mauern sind steil und mit Geröll überdeckt; mitunter ist es schwer, einen Tritt oder Griff zu finden, ohne die ganze Wand ins Rutschen zu bringen.

Wo die Hänge weniger steil sind, liegt Schnee, da geht es, und einmal oben, haben wir gar kein schlechtes Wandern und vor allem einen wundervollen Blick. Wie Lotosblumen auf einem blauen Teich schwimmt das Eis auf der Bucht. Smith Island ist heute bis zum Fuß der Felsen verschneit. Zwischen Smith- und Ellesmereland hängt ein Himmel aus zerrissenen Wolkenfetzen. Dahinter leuchtet es von einem fahlen Gelb. Wir bemerken alle drei, daß der Himmel nicht sehr vertrauenerweckend aussieht und gehen trotzdem weiter. Der Kamm, auf dem wir nach Norden wandern, ist zu verlockend, um nicht weiterzugehen, vor allem nach der bösen Kletterei die Wände hinauf. Sie wieder hinunterzusteigen, hat keiner von uns Lust, und so beschließen wir, über den Gletscher zurückzukehren.

Wie wir den Kamm entlang wandern, wird der Schnee dichter. Stellenweise sinken wir bis über die Knie ein. Wir steigen höher. Hinter der ersten weißen Kette tauchte eine zweite auf, eine dritte, und über der letzten erhebt sich noch ein einzelner Schneeberg. Er ist steil und spitz wie der Fuji Yama, und die Sonne liegt leuchtend auf ihm, daß er wie ein lockendes Ziel winkt.

Rings um uns ist alles weiß, ein einziges, weißes Feld. Dabei ist doch noch Sommer. Freilich ist es von hier bis zum Pol auch nicht mehr gar so weit, wie von Berlin nach Wien etwa. Zwischen uns und dem Nordpol ist nichts als die Schneekuppen und Gletscher von Ellesmereland und dann das ewige Eis rings um den Pol. Hätte einer von uns dreien Neigung dazu, so könnte er sich an dem Gefühl berauschen, gegenwärtig der nördlichste Mensch in der kanadischen Arktis zu sein. Kein Mensch steht zwischen uns und der Kuppe des Globus, die zu erreichen jahrhundertelang ein Sehnsuchtstraum der Menschheit war.

Von Berlin nach Wien ist nicht weit, von Berlin bis hierher ein langer Weg. So stehen wir von Berlin aus gesehen ganz nahe am Pol, vom Pol aus gesehen aber noch endlos weit weg. Wir sind hier erst an der Schwelle zum Pol. Von Ellesmereland starteten die zwei Entdecker des Nordpoles, Peary und Cook, der eine an der Nord-, der andere an der Westküste der Insel. Beide waren auf der letzten entscheidenden Strecke allein, nur von einigen Eskimos begleitet. Beide kehrten zurück mit der Behauptung, den Pol erreicht zu haben. Dem einen glaubte die Welt seine Behauptung, dem andern nicht. So ging der eine in die Geschichte ein als ruhmgekrönter Entdecker des Poles, der andere als ehrloser Schwindler. Dabei haben beide das gleiche erduldet und das gleiche geleistet, vielleicht sogar Cook noch das größere. Wer wirklich am Pol war, vermag niemand zu entscheiden, da sie ja keine Zeugen mit hatten. Es gibt arktische Sachverständige, die in die Messungen und Ortsbestimmungen von Peary mindestens den gleichen Zweifel setzen wie in die von Cook. Aber die Welt hat nun einmal für Peary und gegen Cook entschieden.

Hinter Peary standen mächtige Förderer. Eine eigene, einflußreiche, über große Mittel verfügende Vereinigung, der Peary Arctic Club, verstand es, zu einer Frage des amerikanischen Prestiges zu machen, daß Peary den Nordpol entdeckt hatte. Peary hatte seit langem die Phantasie und den Sportgeist der Amerikaner beschäftigt. Er hatte bereits zwei Polreisen unternommen. Man hatte gerade mit großen Mitteln ein besonderes Schiff gebaut, das nach dem damaligen Präsidenten Roosevelt hieß. Jedes Mitglied des Peary Clubs sonnte sich schon im voraus an dem Ruhm, an dem auch es Teil haben würde. Nun kam ein Unbekannter, der in einem kleinen Schoner losgefahren war und wollte den Pol bereits entdeckt haben! Das ging einfach nicht. Es war Ehrensache für die USA., daß der Pol noch unentdeckt war und Peary ihn entdeckte. So glaubte man ihm nach seiner Rückkehr ohne weiteres die Behauptung, am Pol gewesen zu sein, obgleich er das gleiche getan hatte, was man Cook zum Vorwurf machte, nämlich keinen weißen Begleiter zum Pol mitgenommen zu haben.

Die Geschichte der Arktisforschung ist reich an solch krasser Verteilung von Licht und Schatten, von Lob und Tadel. Manch ein großer arktischer Entdecker hatte lediglich Undank und Verleumdung von seinen Mühen und Gefahren. Selbst Baffin und Davis sind diesem Schicksal nicht entgangen. Auch John Roß mußte nach seiner Rückkehr lange um Anerkennung kämpfen. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Admiralität ihm auch nur die Auslagen ersetzte, die er persönlich für die Expedition gemacht hatte. Sie war ursprünglich der Ansicht, daß die Zahlung des rückständigen Soldes an seine Mannschaft und die Beförderung seines Neffen James vom Commander zum Kapitän auch für ihn eine genügende Belohnung darstelle.

Auf der andern Seite aber ist mitunter Ruhm für eine Entdeckung auf einen Mann gefallen, der nur den letzten und leichtesten Schritt tat. So war die Nordwestpassage, ehe Amundsen sie durchsegelte, praktisch bereits entdeckt. Er führte lediglich sein Schiff als erster über die ganze Strecke, und so ist er in die Geschichte als Entdecker der so lange gesuchten Durchfahrt eingegangen.

Seitdem beide Pole bekannt sind, ist das öffentliche Interesse an den Polargebieten abgeflaut. Die Sensation fehlt, und die gegenwärtigen und künftigen Arktisforscher können kaum darauf rechnen, die gleiche Anerkennung zu finden wie etwa ein Meisterschaftsboxer. Dabei war, von der Sensation abgesehen, die Entdeckung des Poles in keiner Weise wichtiger als die irgendeines andern, noch unentdeckten Teiles der Arktis. Mindestens seit Nansen wußte man, daß der Nordpol inmitten eines vereisten Meeres liegt und kein besonderes Interesse bietet. Das ganze weite Gebiet, das sich östlich vom nördlichen Ellesmere am Pol vorbei bis an die nordsibirische Küste erstreckt, ist heute noch unentdeckt und ebenso wichtig wie der Pol, wenn nicht wichtiger, da die Vermutung besteht, daß hier Land liegt.

Aber es ist eine schlechte Konjunktur für Polarforscher. Die drei Polizisten, die wir in Craig aufnehmen, haben längere Schlittenreisen über unentdecktes Land und Meer gemacht als Peary bei seiner Polentdeckung. Aber ihre Namen kommen kaum in die Zeitungen. Was sie geleistet und erduldet, ist einfach Dienst, und was sie getan haben, wird in einem offiziellen Bericht in Ottawa begraben.

Eine lange Liste von Opfern deckt den Weg, auf dem die weiße Menschheit die Grenze des Ewigen Eises immer weiter zurückdrängte, so daß die Polargebiete heute bereits in unserm praktischen Interessenkreis liegen und man von einer künftigen wirtschaftlichen Nutzung der Arktis reden kann. Einige wenige fanden Ruhm und Anerkennung in überreichem Maße. Die große Zahl aber mußte sich an dem fernen Ziel genügen lassen, das ihnen leuchtete wie der über den Schneekuppen vor uns in der Sonne aufglühende, weißschimmernde Berg an der Schwelle des Pols.


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