Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

25. Die Chimäre der Nordwestlichen Durchfahrt

An Bord der »Nascopie« im Lancastersund.

Ist es nicht jedem von uns einmal so ergangen, daß er sich brennend etwas wünschte, daß er jahrelang danach trachtete, und wenn er es dann endlich hatte, da schien das Ersehnte gar nicht mehr so begehrenswert; wenn er den Goldklumpen in Händen hielt, dünkte dieser wertloser Stein!

Genau so erging es der Menschheit mit vielen, wenn nicht den meisten ihrer großen Ziele. Aber vielleicht ist um keins so zäh und unablässig gerungen worden, Jahrhunderte hindurch, wie um die Nordwestpassage, und keins stellte sich dann als so wertlos und gleichgültig heraus. Mühe, Ausdauer, Geld und Menschenleben wurden immer wieder an dieses eine Ziel gesetzt, eine Durchfahrt durch das Insel- und Eisgewirr im Norden des amerikanischen Kontinents zu entdecken, um so den direkten Seeweg nach Indien zu finden, der bereits das Ziel von Christoph Kolumbus gewesen war.

So viele, unter großen Hoffnungen ausgerückte und ausgesandte Expeditionen waren ergebnislos wieder zurückgekehrt oder im Eis gescheitert, daß man schließlich die Hoffnung aufgab, daß die Nordwestpassage zur Chimäre wurde. Als sie dann doch aufgefunden wurde, in unseren Tagen erst, als Amundsen seine »Gjöa« als erstes Schiff in dreijähriger, mühseliger Fahrt durch das Gewirr all der hundert eisgefüllten Kanäle hindurchgesteuert hatte, da erregte die Erreichung dieses Zieles, das einst die Phantasie ganz Europas beschäftigt hatte, nur mäßiges Aufsehen. Im Grunde ging es spurlos an einer Welt vorbei, die inzwischen ganz andere Interessen, ganz andere Pläne und Ziele hatte, ja, manche Leser dieser Zeilen werden kaum mehr wissen, daß es einmal so etwas wie die Nordwestliche Durchfahrt als großes Menschheitsziel gegeben hat.

Gletscher fließen herunter

Die Berge der Devoninsel, die den Lancastersund, die Zufahrtsstraße zur Nordwestpassage, im Norden begrenzen, treten langsam aus dem Dunst. Allerdings steigt der Nebel nur bis zur halben Höhe, so daß ihre zahllosen Gletscher, die diese Berge tigern, wie breite weiße Farbstreifen vom grauen Himmel heruntergewischt sind. Erlebt man diese Unzahl von Gletschern in der Davisstraße, die zahllosen Sunde und Buchten, die in sie münden, an der grönländischen Küste, an Baffin- und Ellesmereland entlang, an all den vielen, vielen Inseln des arktischen Amerika, die jahraus, jahrein wahrhaft ungeheuere Mengen Eis hervorbringen und mitunter selbst im Hochsommer die engen Fahrrinnen völlig verstopfen, so wundert man sich nicht mehr, daß es Jahrhunderte dauerte, bis der Weg durch dieses Gewirr von Land und Eis entdeckt war. Man wundert sich vielmehr über die Zähigkeit, mit der dieses Ziel immer noch weiter verfolgt wurde, auch als man längst wußte, daß die Unbeständigkeit des Eises dieses Ziel selbst nach seiner Erreichung wertlos machte.

Das ist das erste, was einem hier in der Arktis auffällt, die unheimliche Schnelligkeit, mit der sich die Eisverhältnisse ändern, von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde, ja, von Minute zu Minute. Eine Bucht, eine Wasserstraße, die eben noch völlig frei von Eis waren, können sich im Handumdrehen so gefüllt haben und so verstopft sein, daß kein Durchkommen mehr möglich ist. Ebenso rasch kann die Eisbarriere wieder verschwinden. Die Strecke, die Amundsen mit der »Gjöa« fuhr, konnte bereits im folgenden Jahre, ja, am folgenden Tage unmittelbar hinter seiner Durchfahrt unpassierbar sein.

Tatsächlich ist sie hinter Amundsen auch niemand mehr gefahren. Die Hudson's Bay Company hat es versucht. Sie war dazu ja ehrenhalber verpflichtet; denn in ihrer Gründungsurkunde war die Auffindung der Nordwestlichen Durchfahrt als eins der Ziele der Gesellschaft angegeben. Sie war auch die einzige, die zu einer Zeit, als der Weltverkehr längst andere Wege eingeschlagen hatte, an dieser Route noch Interesse hatte. Sie hatte vom Atlant wie vom Pazifik her ihre Handelsposten bis nach Boothia Felix vorgeschoben, an die langgestreckte Halbinsel des nördlichsten Amerika, die wie ein ausgestreckter Zeigefinger nach Norden weist und die die Passage nördlich um Amerika herum so schwierig macht.

Zwischen dem westlichen atlantischen und dem am weitesten nach Osten vorgeschobenen pazifischen Posten der Kompanie fehlte nur noch die Strecke an der Westküste von Boothia entlang, aber obgleich sie zwei Schiffe ausschickte, vom Osten wie von Westen gleichzeitig, gelang es ihnen nicht, sich zu treffen, und die Verbindung zwischen beiden konnte nur durch ein Motorboot hergestellt werden. Damit wurde die Unbenützbarkeit der Nordwestpassage endgültig erwiesen, trotz der Fahrt von Amundsen. Mit starken Eisbrechern, wie unsere »Nascopie« einer ist, käme man wohl durch, allein ihr Betrieb ist viel zu kostspielig, als daß ihre Verwendung für diese Strecke in Frage käme, ganz abgesehen davon, daß die lange benötigte Zeit die Route um Nordamerika herum wirtschaftlich unrentabel macht; denn selbst für die Verschickung geringwertiger Güter rechnet man heute mit Wochen, wenn nicht mit Tagen, wieviel mehr bei den kostbaren Pelzen.

Trotzdem aber wird das arktische Gebiet, das sich nördlich des amerikanischen Kontinents bis zum Pol hin erstreckt, heute wieder aktuell. Im Grunde handelt es sich bei den Versuchen, den Pol zu überfliegen, um das gleiche Problem wie einst bei der Suche nach der Nordwestpassage: um den kürzesten und geradesten Weg nach Asien. Nur ein kleiner Unterschied gegenüber den Tagen von Cabot, Hudson, Frobisher und John Roß besteht: das Problem heißt heute nicht so sehr Europa-Kathai, wie man damals China nannte, sondern Amerika-Kathai.

Als wir vor Antritt unserer Arktisreise in Churchill waren, trafen wir überall auf Bilder Lindberghs. Das berühmte Fliegerpaar war kurz vor uns hier gewesen auf seinem Flug nach Labrador und Grönland, um die nördliche Flugroute nach Europa zu erforschen.

Diese Route ist aber nur eine Vorstufe zu der viel wichtigeren – wenigstens für Amerika wichtigeren – über den Pol. Ist diese einmal erforscht, so wird Amerika den größten Vorteil von der Kugelgestalt der Erde haben. Von Europa aus können wir den Weg nach Amerika wie den nach Asien höchstens abkürzen, indem wir die nördliche Route wählen. Die Strecke aber von Amerika nach Asien wird durch den Flug über den Pol auf ein Mindestmaß herabgesetzt. Der nächste Weg von Neuyork nach Peking führt genau über den Pol, und die kürzeste Route von San Franzisko nach Moskau dicht am Pol vorbei. Es ist nicht ausgeschlossen, daß durch die Ermöglichung der Polroute der Schwerpunkt des Weltverkehrs eine ähnliche Verlagerung erfährt wie seinerzeit durch die Entdeckung Amerikas.

Die Sowjetrussen haben bewiesen, daß der Transpolarflug heute bereits möglich ist. Am 18. Juni 1937 startete in Moskau ein mit drei Piloten bemanntes Flugzeug, das nach einer Flugzeit von 37 Stunden in Vancouver in Kanada landete. Für einen regelmäßigen Flugverkehr braucht man allerdings Stützpunkte, und die sind in der Arktis nicht ganz so einfach zu schaffen. Die Erkundung solcher Stützpunkte gehört mit zu den Aufgaben der kanadischen Arktisexpedition.

Für viele mag der Polflug heute noch eine Chimäre scheinen, wie die Nordwestliche Durchfahrt es für manche unmittelbar vor ihrer endgültigen Auffindung war.

Möglicherweise ist auch die »Chimäre des Polfluges« im Augenblick ihrer Verwirklichung bereits überholt, macht uns gleichzeitig mit der Einführung des fahrplanmäßigen Transpolarflugs das Stratosphärenflugzeug völlig frei von der Erde und drückt Strecken, die heute selbst für die schnellsten Flieger noch erhebliche Entfernungen bedeuten, auf einen Katzensprung herab.


 << zurück weiter >>