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26. Der Magnetische Nordpol

Dundas Harbour (North Devon Island).

Wir sind auf der Devoninsel gelandet, an einem hellen, klaren, fast warmem Tag, in einer fast eisfreien Bucht. Die großen Eisklötze, die am Strande liegen, deuten freilich darauf hin, daß es hier auch anders aussehen kann, und der Korporal der Mounted Police berichtet, daß er Sorge hatte, wir kämen zu spät. Bereits vor acht Tagen war die ganze Bucht bis weit in den Sund hinein zu und derart mit Eis blockiert, daß kein Fahrzeug durchgekommen wäre.

Der Polizeiposten auf Dundas Harbour

Der Korporal mit seinen beiden Konstablern und die dem Detachement zugeteilten Eskimos sind die einzigen menschlichen Wesen auf der ganzen Insel. Sie liegt bereits jenseits der bewohnten Zone. Bald werden auch diese paar Menschen, die hier Landeshoheit der Dominium-Regierung Eisbären, Walrossen und Seehunden gegenüber verkörpern, die Insel wieder verlassen haben. Die Polizeistation wird geräumt, und während wir drei eine Geröllhalde hinauf einer Art Paß zuklettern, sehen wir, wie die gesamte Schiffsbesatzung einschließlich der Offiziere und Angestellten der Hudson's Bay Company nebst allen Polizisten sich daran machen, die am Strande aufgestapelten Vorräte des Polizeipostens in die Boote zu verladen.

Es ist Eile geboten. So still das Meer und so eisfrei die Bucht auch heute ist, so böse kann es morgen blasen, so daß als eine weiße Eisdecke starrt, was heute freies, blaues Wasser ist. Dann heißt es warten, viele Tage lang unter Umständen, oder die »Nascopie« muß sogar plötzlich schauen, daß sie davonkommt, wenn sie nicht Gefahr laufen will, hier blockiert und für ein Jahr festgehalten zu werden.

Wie ich daran denke, wie rasch das Wetter umschlagen kann, ziehe ich der Sicherheit halber den Kompaß, als wir über den Paß jetzt weiter ins Land hineinwandern, um für alle Fälle die Richtung für den Rückmarsch festzulegen. Aber was ist das? Die Magnetnadel zeigt klar und deutlich nach Süden! Es ist eben Mittag vorbei, und der Kompaß weist in Richtung auf die Sonne.

Einen Augenblick bin ich verblüfft. Dann fällt mir ein, daß wir ja bereits nördlich des Magnetischen Nordpols sind, also muß die Kompaßnadel nach Süden zeigen oder vielmehr nach Südwesten. Aber sie zeigt überhaupt nicht. Sie bleibt auf jedem beliebigen Platz, auf den man sie rückt, stehen. Die Inklination, das heißt die magnetische Anziehung nach abwärts, ist hier in der Nähe des Magnetischen Poles bereits so stark, daß die Nadel in der Horizontalen blockiert ist, sich also nicht mehr bewegt. Das ist augenblicklich der Fall. Es kann aber auch sein, daß sie sich hier in der Nähe des Mittelpunktes der magnetischen Kraft wie irrsinnig eine Weile im Kreise dreht, während sie zu anderen Zeiten einen Ausschlag gibt, allerdings mit gewaltiger Deklination, das heißt Abweichung von der Nordsüdrichtung.

Dieses seltsame, beinahe unheimliche Verhalten des Kompasses war es auch, das John Roß und seinen Neffen James stutzig machte, als sie auf ihrer ersten Fahrt in diese Gegend kamen. Es dämmerte ihnen eine Ahnung auf, daß der Lancastersund nicht nur den Schlüssel zur Nordwestlichen Durchfahrt bergen möchte, sondern zu einem viel größeren Geheimnis, zu jenem Mittelpunkt der magnetischen Anziehung, das als »Magnetberg« die Phantasie aller seefahrenden Völker beschäftigte, seit die seltsame Eigenschaft der Kompaßnadel entdeckt war, stets und unter allen Umständen nach Norden zu zeigen.

Aber obgleich man damals – vor 100 Jahren – bereits eine ungefähre Ahnung hatte, wo der Magnetische Nordpol wohl liegen könnte, hatte man doch noch nicht gewagt, eine Expedition zu entsenden, ihn zu suchen. Auch John und James Roß dachten, selbst bei ihrer zweiten Arktisreise, lediglich an ihre offizielle Aufgabe, die Nordwestliche Durchfahrt zu finden. Im Herzen des jungen James allerdings keimte augenscheinlich von Anfang an der ehrgeizige Plan, diesem großen Geheimnis der magnetischen Anziehung zu Leibe zu gehen und den Sitz dieser Kraft zu entdecken, wenn es irgendwie ginge. Aber es wäre nie dazu gekommen, wenn nicht eine ganze Kette von Zufällen, die man schon kaum mehr Zufälle nennen kann, die »Victory«, das Schiff des Kapitän Roß auf seiner zweiten Reise, aus der Fahrrinne, die nach dem Pazifik führte, abgelenkt und in die Nähe des Magnetischen Nordpols geführt hätte.

Die »Victory« war auf dem richtigen Wege. Sie hätte, nachdem sie den Lancastersund zu Ende gesegelt war, nur auf der Westseite der Boothiahalbinsel nach Süden zu segeln brauchen, statt auf der Ostseite und sie wäre in die freie Fahrrinne zum Pazifik gekommen, die Amundsen als erster fast ein Jahrhundert später mit seiner »Gjöa« fuhr.

So aber stieß John Roß auf seiner zweiten Reise eben das zu, was er auf seiner ersten Fahrt befürchtet hatte und weshalb er so zeitig umkehrte. Die »Victory« fuhr im Eis des Golfs von Boothia hoffnungslos fest. Es mußte freilich noch eine Folge ungewöhnlich strenger Winter dazukommen, um sie im Eise festzuhalten, ohne sie jedoch zu zerdrücken; denn in diesem Falle hätte man natürlich sofort versuchen müssen, den Heimweg in Schlitten und Booten anzutreten, und der Magnetische Nordpol wäre unentdeckt geblieben. So aber hatten John Roß und seine Besatzung zwei Jahre unfreiwillige Muße, die Umgebung des Boothiagolfes wie die gleichnamige Halbinsel zu erforschen. Während John seine Haupttätigkeit darauf verlegte, jeden Sund und jede Bucht zu erkunden, um sich vollständige Gewißheit zu verschaffen, ob nicht doch irgendein Kanal oder eine Wasserrinne hinüber zu dem ersehnten Westmeer führte, das sie auf der andern Seite der Halbinsel an der starken westlichen Strömung unzweifelhaft feststellten, jagte sein Neffe von vornherein dem Phantom des geheimnisvollen Poles nach. Er umkreiste ihn wie ein Adler seine Beute und kam ihm durch unablässige Beobachtungen auf wochenlangen, ermüdenden Schlittenreisen immer näher. Als die Eskimos, die ihn begleiten, nicht mehr weiter wollen, geht er allein mit zwei Mann von der »Victory« weiter. Als er sich schließlich dem gesuchten und ersehnten Punkte auf ungefähr 25 Kilometer genähert hat, treibt ihn die Ungeduld und die wahnsinnige Spannung. Er läßt Gepäck und alles zurück und rast allein im Schlitten in die Nacht hinaus, dem geheimnisvollen Ziele zu.

Um 8 Uhr morgens des ersten Juni 1831 weist sein Inklinatorium, das heißt eine frei aufgehängte, um ihre Achse in der Vertikalen drehbare Magnetnadel 89 Grad 59 Minuten. Er ist also nur eine Minute vom Pol entfernt! Eine genauere Feststellung des Magnetischen Nordpoles wäre mit den verfügbaren Apparaten nicht möglich gewesen; es hätte dazu einer Reihe von Beobachtungen von verschiedenen Standorten aus bedurft.

James Roß beschreibt in seinem Reisebericht mit wunderbarer Anschaulichkeit seine Gefühle, als er die Magnetnadel senkrecht nach unten zeigen sah. Er sah sich jetzt am Ende aller seiner Ziele und Wünsche. Er hatte das Gefühl, als sei jetzt alles und für immer gut, als sei die Reise wie alle Mühe und Gefahr beendet und vorüber, als brauchten sie jetzt nur nach Hause zu fahren, um für den Rest ihres Lebens glücklich zu sein.

Dabei stand er allein in einer Landschaft, die so trostlos und eintönig war, wie man sie sich nur denken kann, ein ödes Flachland, kaum ein paar Meter über dem Meer. Schneereste über dem steinigen Boden, Eis an der Küste, die gleiche herzbeklemmende weiße Einsamkeit, in der sie bereits zwei Jahre gefangen saßen. Nichts von den großartigen Zeichen und Wundern, mit denen die Phantasie der Menschen seit Jahrhunderten diesen geheimnisvollen Sitz der magnetischen Erdkraft ausgestaltet hat, kein eisernes Gebirge hoch wie der Montblanc, kein unheimlicher Magnetberg, nicht der bescheidenste Hügel, der einen Markstein für einen so wichtigen Punkt auf der Erde abgegeben hätte. –

Hier aber, wo wir jetzt stehen, auf der Devoninsel, ungefähr 500 Kilometer nordöstlich des Poles hätte es einen solchen gegeben. Zu meiner Seite erhebt sich ein seltsamer Berg, ein untadeliger Konus, gleichmäßig auf allen Seiten, wie von Menschenhand aufgeschüttet, wahrhaftig ein unvergeßlicher Markstein für den Magnetischen Pol. Und in welch grandiosem Rahmen stünde er hier! Vor uns liegt ein tief in das Land eingeschnittener Fjord. Eis treibt auf ihm. An seinem Ende stürzt ein breiter Gletscher in die blauen Wasser.

Drüben auf Boothia Felix war nur das leere, eintönige Feld. Das festgefrorene Schiff krachte in dem Augenblick im Eise zusammen, als das große Ziel erreicht war. Das hieß eine lange, mehr als einjährige Reise in Booten und Schlitten mit nochmaligem Überwintern, bis ein Schiff, das nach den Überresten der längst verschollen geglaubten Expedition suchte, die halb Verhungerten und am Ende ihrer Kraft Angelangten auffischte.

In tiefen Gedanken gehe ich mit den Meinen über den Paß zurück. Unten in der Bucht liegt die »Nascopie«, beruhigend stark mit ihrem gewaltigen, gekrümmten Bug, der mit seiner zermalmenden Wucht Eismassen unter sich zerdrückt, zwischen denen die »Victory« hoffnungslos verloren gewesen wäre.


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