Anonym (Frankreich)
Die hundert neuen Novellen
Anonym (Frankreich)

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6. Novelle
Der Trunkenbold im Paradies

Als in der Stadt Haag in Holland der Prior der Augustiner jüngst sich abends beim Horenbeten ziemlich nahe der im Walde in der Nähe der erwähnten Stadt gelegenen Kapelle des heiligen Antonius erging, kam ihm ein großer, plumper, völlig betrunkener Holländer entgegen, der in einem Dorf namens Scheveningen, zwei Meilen von hier, wohnte.

Als der Prior ihn von weitem kommen sah, erkannte er gleich, wie es um ihn stand, denn er zog mit schwerfälligen, unsicheren Schritten seines Weges. Als sie einander begegneten, grüßte der Trunkenbold zuerst den Prior, der seinen Gruß sogleich erwiderte und dann ohne jede Absicht, ihn anzuhalten und zu befragen, seiner geistlichen Pflicht nachkommend, weiterging. Der sinnlos betrunkene Mensch kehrte jedoch um, folgte dem Prior und bat, bei ihm beichten zu dürfen.

»Beichten!« sagte der Prior. »Geh nur, geh, du hast schon genug gebeichtet!«

»Ach, Herr«, erwiderte der Trunkenbold, »um Gottes willen laßt mich beichten. Alle meine Sünden habe ich ganz frisch im Kopf und bin völlig zerknirscht!«

Der Prior war ärgerlich über die Störung durch diesen Trunkenbold und antwortete: »Geh deines Weges, du hast keine andere Beichte nötig, denn um dich steht es sehr gut!«

»Ach, Teufel«, erwiderte der Trunkenbold, »beim Tode Gottes, Ihr sollt mich beichten lassen, Herr Prior, denn ich habe die rechte Andacht!« Und er griff ihn am Ärmel und wollte ihn anhalten.

Der Priester wollte nichts davon hören, sondern hatte den heißen Wunsch, dem andern zu entweichen, doch es gelang ihm nicht, denn dieser ließ nicht locker und wollte beichten, der Prior wies ihn stets zurück, wollte sich seiner entledigen, aber er konnte es nicht.

Die Andacht des Trunkenboldes wird immer größer, und da er sieht, daß der Prior sich weigert, seine Sünden zu hören, legt er die Hand an sein großes Messer, zieht es aus seiner Scheide, er werde ihn töten, wenn er nicht seine Beichte höre.

Der Prior weiß aus Furcht vor dem Messer und der gefährlichen Hand, die es hält, nichts zu sagen und fragt den andern: »Was willst du sagen?«

»Ich will beichten«, erklärte er.

»Nun vorwärts«, ruft der Prior, »ich bin bereit!«

Unser Trunkenbold, betrunkener als eine Drossel, die aus einem Weinberg kommt, begann mit eurer Erlaubnis seine fromme Beichte, die ich übergehe, denn der Priester sprach von ihr nicht, doch ihr könnt euch denken, daß sie neu und sonderbar war.

Als der Prior den geeigneten Zeitpunkt gekommen sah, schnitt er unserm Trunkenbold dessen lange, schwerfällige Rede ab, erteilte ihm die Absolution und sagte ihm zum Abschied: »Nun geh, du hast wohl gebeichtet!«

»Meint Ihr, Herr?« fragte er.

»Ja, wahrhaftig«, erklärte der Prior, »deine Beichte ist sehr gut. Geh, dir kann nichts Übles begegnen.«

»Und nun, da ich gut gebeichtet und die Absolution erhalten habe, würde ich, stürbe ich zu dieser Stunde, ins Paradies eingehen?« fragte der Trunkenbold.

»Geradenwegs, ganz sicherlich, ohne Fehl«, antwortete der Prior, »zweifle nicht daran.«

»Wenn dem so ist«, meinte der Trunkenbold, »daß ich jetzt in gutem Stande bin, will ich gleich sterben, damit ich dorthin komme.«

Damit nimmt er sein Messer und gibt es dem Pfarrer, bittet und ersucht ihn, ihm den Kopf abzuschneiden, damit er ins Paradies käme.

»Was Teufel!« rief der Prior ganz erstaunt, »man braucht es nicht so zu machen, du wirst schon auf anderem Weg ins Paradies kommen!«

»Nein, nein«, antwortet der Trunkenbold, »ich will jetzt gleich dahingehen und hier durch Eure Hände sterben, schnell, tötet mich!«

»Ich werde es nicht tun«, sagte der Prior, »ein Priester darf niemanden töten.«

»Doch sollt Ihr es tun, Herr, beim Tode Gottes, und wenn Ihr mich nicht sehr bald abtut und ins Paradies schickt, werde ich Euch selbst mit diesen meinen beiden Händen töten!« Und mit diesen Worten schwingt er sein großes Messer und läßt es vor den Augen des armen, ganz erschrockenen und geängstigten Priesters blitzen.

Als dieser ein wenig nachgedacht hat, faßt und nimmt er endlich, um seinen Trunkenbold loszuwerden, der ihm immer mehr auf den Leib rückt und ihm mit Gewalt ans Leben will, das Messer und sagt: »Nun wohl, da du durch meine Hände enden willst, um ins Paradies zukommen, leg dich hier auf die Knie vor mir!«

Der Trunkenbold ließ sich nicht lange bitten, sondern fiel sofort der Länge nach nieder, erhob sich nach einer Weile, wenn auch mit einiger Mühe, auf die Knie und erwartete mit gefalteten Händen den Messerhieb, von dem er zu sterben dachte.

Der Priester führt mit dem Messerrücken auf den Hals des Trunkenboldes einen tüchtigen, schweren Schlag und streckt ihn kräftig zur Erde. Doch müßt ihr nicht glauben, daß er sich erhebt, sondern er meint wahrhaftig im Paradies zu sein.

In diesem Zustand ließ ihn der Prior, der um seiner Sicherheit willen nicht das Messer vergaß. Und als er eine kurze Strecke gegangen war, begegnete er einem Wagen mit Leuten, und zwar waren die meisten von ihnen, wie es sich traf, an dem Platz gewesen, wo unser Trunkenbold sich übernommen hatte, erzählte ihnen ausführlich die ganze geheimnisvolle Geschichte und bat sie, ihn aufzuheben und in seine Wohnung bringen und führen zu wollen und gab ihnen dann sein Messer. Sie versprachen, ihn mitzunehmen und bei sich aufzuladen, und der Prior ging weg.

Sie waren noch nicht weit gefahren, da sahen sie den guten Trunkenbold so liegen, als wäre er tot, die Zähne gegen die Erde. Und als sie nahe bei ihm waren, riefen sie ihn alle einstimmig bei seinem Namen, doch sie hatten gut schreien, er dachte nicht daran, ihnen zu antworten; sie begannen abermals zu rufen, aber umsonst. Nun stiegen einige Leute von ihrem Wagen, nahmen ihn am Kopf, an den Füßen und an den Beinen, hoben ihn ganz hoch und schrien so laut, daß er seine Augen öffnete, und als er sprach, waren seine Worte: »Laßt mich, laßt mich, ich bin tot!«

»Ihr seid's nicht, nein«, sagten seine Genossen, »Ihr müßt mit uns kommen!«

»Das werde ich nicht tun«, erklärte der Trunkenbold, »wohin könnte ich denn gehen? Ich bin tot und schon im Paradies!«

»Ihr werdet Euch schon dahin begeben«, meinten die andern, »Wir müssen nur trinken gehen!«

»Trinken!« sagte der andere, »ich werde niemals mehr trinken, denn ich bin tot!«

Was auch seine Genossen ihm sagten und taten, es wollte ihm nicht aus dem Kopf, daß er tot wäre. Diese Reden währten lange Zeit, und die Genossen wußten kein Mittel und keinen Weg zu finden, den närrischen Trunkenbold mit sich zu nehmen, denn auf alle ihre Worte antwortete er stets: »Ich bin tot!«

Endlich fiel dem einen etwas ein, und er sagte: »Da Ihr tot seid, dürft Ihr nicht hierbleiben und wie ein Tier auf dem Weg eingescharrt werden. Kommt, kommt mit uns, so wollen wir Euch auf unsern Wagen nehmen, um Euch auf dem Friedhof unserer Stadt zu begraben, wie es sich für einen Christen gehört, sonst werdet Ihr nicht ins Paradies kommen!«

Als der Trunkenbold hörte, daß man ihn begraben müßte, damit er ins Paradies komme, ward er's zufrieden, ihnen zu Willen zu sein. So ward er schnell aufgehoben und in den Wagen gelegt, wo er bald einschlief. Die Fahrt wurde sehr beschleunigt, daher waren sie rasch in Scheveningen, wo der gute Trunkenbold gerade vor seinem Haus abgeladen wurde.

Seine Frau und seine Kinder wurden herbeigerufen, und ihnen ward dieser gute heilige Leib überantwortet, der so fest schlief, daß er, als man ihn vom Wagen in sein Haus und Bett trug, nicht aufwachte, und dort ward er zwischen zwei Bettüchern begraben. Auch jetzt erwachte er nicht, sondern erst zwei Tage später.

 


 


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