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Im Monat Juli, damals als in Calais und Gravelines in der Nähe des Schlosses von Oye Zusammenkünfte stattfanden und eine Versammlung abgehalten ward, zu der viele Fürsten und große Herren aus Frankreich wie aus England sich eingefunden hatten, um über die Auslösung des gnädigen Herrn von Orleans, damaligen Gefangenen des Königs von England, zu beraten und zu verhandeln, befand sich unter den englischen Abgesandten der Kardinal von Winchester, der zu dieser Zusammenkunft wie ein vornehmer und edler Herr gekommen war, so viele Ritter, Edelleute, Geistliche und Kirchenbeamte begleiteten ihn. Und unter den vornehmen Leuten war einer mit Namen John Stocton, Vorschneider, und ein anderer, Thomas Brampton, Mundschenk des Kardinals. Dieser John Stocton und Thomas Brampton liebten sich so oder noch mehr als zwei leibliche Brüder, denn ihre Gewänder, Harnische und Kleidungsstücke waren stets beinahe ganz gleich, und meist teilten sie Bett und Zimmer, und niemals hatte man zwischen ihnen beiden Zorn, Ärger und Verdruß bemerkt. Als der Kardinal nach Calais gekommen war, wies man den Edelleuten das Haus von Richard Fery, das größte in Calais, als Wohnung an; die großen Herren pflegen, wenn sie zu vorübergehendem oder längerem Aufenthalt hierherkommen, in diesem Hause sich einzuquartieren. Richard war mit einer schönen schmucken Holländerin verheiratet und war wohl der Mann, Leute bei sich aufzunehmen.
Während der Zusammenkunft, die wohl zwei Monate währte - John Stocton und Thomas Brampton waren damals ungefähr siebenundzwanzig bis achtundzwanzig Jahre alt, hatten zu ihrer Leibfarbe ein lebhaftes Karmoisin ausgewählt und lagen Tag und Nacht Waffenübungen ob -???, fand trotz der vertrauten Freundschaft zwischen diesen beiden Kriegsgefährten John Stocton Gelegenheit, ohne daß Thomas dessen inneward, bei ihrer Wirtin sich Zutritt zu verschaffen und den Liebenswürdigen zu spielen; und er unterhielt sich oft so freundlich und anmutig mit ihr, wie man es, wenn man um jemandes Gunst buhlt, zu tun pflegt. Und endlich erkühnte er sich, seine Wirtin um ihre Huld zu bitten, das heißt, er wollte ihr Freund und sie sollte seine Geliebte sein. Sie tat über eine derartige Bitte sehr erstaunt und antwortete ihm ganz kalt, er solle nichts weiter von ihr verlangen, es ihr auch nicht verübeln, denn sie liebe ihn nur, wie es eine sittsame und anständige Frau dürfe.
Nach der Art ihrer Abweisung konnte es scheinen, als hätte sie in sein Begehren nicht einwilligen können, ohne daß es ihr zur Schande gereicht hätte, Skandal entstanden und selbst ihr Leben in Gefahr gekommen wäre, und daß sie ihm auch um keinen Preis willfahren würde. Daher erwiderte John, sie könnte es ihm wohl zugestehen, denn er sei der Mann, der ihre Ehre bis zum Tode bewahren wolle, und er würde lieber sterben und in der andern Welt auf die Folter gespannt werden, als durch seine Schuld Schande auf sie herabziehen wollen. Sie hätte durchaus nicht zu fürchten, daß er ihre Ehre nicht hüten würde, und er bat sie von neuem, in sein Begehren zu willigen, er würde sich auch stets als ihr Diener und treuer Freund zeigen. Und darauf antwortete sie, während sie am ganzen Leib zu zittern schien, er rege sie ganz auf durch Sorge und Furcht, die sie befallen würden, wenn sie in sein Begehren willige. Darauf näherte er sich ihr und bat sie um einen Kuß, den die Frauen und Mädchen Englands ziemlich leicht gewähren. Und während er sie küßte, bat er sie freundlich, sie möge sich nicht fürchten, denn keine Menschenseele würde von dem, was zwischen ihnen sich entspänne, etwas erfahren.
Darauf sagte sie ihm: »Ich sehe wohl, ich kann Euch nicht entwischen, wenn ich nicht Euren Willen tue, und weil ich für Euch etwas tun muß, immer natürlich meiner Ehre eingedenk, so hört zu: Ihr kennt die durch die Behörden der Stadt Calais erlassene Verordnung. Jedes Familienhaupt muß einmal in der Woche persönlich in der Nacht die Wache auf den Stadtmauern halten. Da die Herren und Edelleute des gnädigen Herrn Kardinals, Eures Herrn, in großer Menge einquartiert sind, hat mein Mann durch Vermittlung einiger Freunde sich bei dem Herrn Kardinal die Erlaubnis ausgewirkt, nur eine halbe Nacht wachen zu brauchen, und ich weiß, das soll nächsten Donnerstag sein, und zwar vom Abend bis zur Mitternacht. Und falls Ihr, während mein Mann auf Wache sein wird, mir irgend etwas zu sagen habt, will ich es gern anhören, und Ihr werdet mich in meinem Zimmer mit meinem Kammermädchen finden« - das den Wünschen seiner Herrin willig nachkam und ihr bei ihren Vergnügungen jeglichen Vorschub leistete.
John Stocton war über diese Antwort sehr erfreut, dankte seiner Wirtin und sagte ihr, er werde nicht verfehlen, an dem genannten Tage, von dem sie ihm gesprochen, zu kommen. Diese Reden wurden am Montag vor der Zusammenkunft nach der Mahlzeit geführt. Man darf aber nicht zu erzählen vergessen, daß Thomas Brampton ohne Wissen seines Genossen John Stocton ähnliche Ersuchen und Bitten an ihre Wirtin gerichtet hatte, die ihm aber niemals irgendeine Gunstbezeigung zuteil werden ließ, ihm einmal Hoffnung machte, das andere Mal sie ihm wieder raubte und ihm den Vorwurf nicht ersparte, er dächte allzu gering von ihrer Ehre; denn wenn sie in seine Bitte willigte, wüßte sie sicher und gewiß, ihr Mann, ihre Verwandten und Freunde würden ihr das Leben nehmen. Darauf erwiderte Thomas: »Meine süßeste Demoiselle und Wirtin, bedenkt doch, ich bin ein adliger Mann und wünsche um keinen Preis etwas zu tun, was Euch Unehre und Schande brächte, denn das wäre nicht edel gehandelt. Glaubt vielmehr sicherlich, daß ich Eure Ehre wie die meine hüten würde, und ich wollte lieber sterben als Euch in Gefahr bringen und würde niemals einem Freunde noch jemand anderem, stände ich auch noch so vertraut mit ihm, unsern Handel entdecken.«
Da sie die außerordentliche Zuneigung und Liebe des besagten Thomas erkannte, erklärte sie ihm am Mittwoch nach dem Tage, an dem John die freundliche, obenerwähnte Antwort erhalten hatte, sie sei, da sie ihn von dem heißen Wunsch, ihr in aller Ehrbarkeit und allem Anstand zu dienen, erfüllt sähe, nicht so undankbar, sich ihm nicht erkenntlich zeigen zu wollen. Und darauf erzählte sie ihm, ihr Mann müsse am kommenden Abend, wie die andern Familienhäupter der Stadt, nach der darüber von den Behörden der Stadt erlassenen Ordnung auf Wache ziehen. Doch hätte er, Gott sei Dank, gute Freunde bei dem gnädigen Herrn Kardinal, sie hätten ihm nämlich ausgewirkt, daß er nur die halbe Nacht, und zwar von Mitternacht bis Morgen, zu wachen brauche; und wenn er ihr etwas zu sagen hätte, wollte sie ihn gern anhören. Aber er solle um Gottes willen so geheim dorthin kommen, daß ihre Ehre keinen Schaden erleiden könne. Und Thomas antwortete ihr, er würde nicht verfehlen, nach ihrem Wunsch zu handeln. Und damit nahm er Abschied und ging. Am folgenden Tag, der der Donnerstag war, um die Vesperzeit, nachdem die Wachtglocke ertönt war, zur Stunde, die ihm seine Wirtin genannt hatte, verabsäumte John Stocton nicht, sich bei ihr einzufinden. Und als er an ihr Zimmer kam, trat er ein und fand sie ganz allein. Sie empfing ihn freundlich und bat ihn, sich's wohl sein zu lassen, denn die Mahlzeit war dort aufgetragen.
John bat sie, mit ihr essen zu dürfen, dabei könnten sie sich besser zusammen unterhalten; erst wollte sie ihm das nicht zugestehen und erklärte, sie könnte Unannehmlichkeiten haben, wenn man sie mit ihm fände. Doch er bat sie so lange, bis sie nachgab. Nach der Abendmahlzeit, die John sehr lange zu dauern schien, ward er mit seiner Wirtin vertrauter, und später vergnügten sie sich, nachdem sie alle ihre Kleider abgelegt hatten.
Ehe er in das Zimmer getreten war, hatte er an einen Finger einen mit einem schönen großen, wohl dreißig Nobel werten Diamanten geschmückten goldenen Ring gesteckt. Und als sie sich miteinander unterhielten, fiel ihm der Ring vom Finger in das Bett, ohne daß er es bemerkte. Und als sie bis zur elften Nachtstunde zusammengewesen waren, bat ihn die Demoiselle sehr freundlich, er möchte doch, nachdem er alles Vergnügen, das sie ihm hätte gewähren können, genossen, sich ankleiden und das Zimmer verlassen, damit er hier nicht von ihrem Mann, den sie, sobald es Mitternacht geschlagen, erwarte, gefunden würde, und ihre Ehre hüten, wie er ihr versprochen.
Er fürchtete, der Mann könnte plötzlich heimkehren, erhob sich, zog sich an und verließ das Zimmer, sowie es zwölf Uhr geschlagen, ohne sich seines Diamanten, den er im Bett gelassen, zu erinnern. Während er das Zimmer verließ, merkte John Stocton ganz in seiner Nähe seinen Gefährten Thomas Brampton, glaubte aber, es sei ihr Wirt Richard. Und ebenso meinte Thomas, der zu der ihm von seiner Dame bestimmten Stunde kam, John Stocton sei Richard, und wartete ein wenig, um zu sehen, welchen Weg der, der ihm begegnet war, gehen würde. Dann ging er weiter und trat in das Zimmer seiner Wirtin, das er halb offen fand. Sie tat ganz verzweifelt und erschrocken und fragte Thomas, scheinbar voller Furcht und Angst, ob er nicht ihrem Mann, der eben das Zimmer verlassen, um auf die Wache zu ziehen, begegnet sei. Er erwiderte ihr, er hätte sehr wohl einen Menschen getroffen, wüßte aber nicht, wer er gewesen, ob ihr Mann oder ein anderer, und er hätte ein wenig gewartet, um zu sehen, welchen Weg er einschlagen würde.
Als sie das gehört hatte, begann sie ihn kühnlich zu küssen und hieß ihn herzlich willkommen. Und bald danach hob Thomas, ohne ein einziges Wörtlein weiter zu fragen, die Demoiselle auf das Bett. Und da sie ihn so tapfer sah, entkleidete sie sich, und sie gingen alle beide ins Bett, wo sie dem Liebesgott opferten und mehrere Lanzen brachen. Während dieser Waffengänge begegnete aber Thomas ein Abenteuer, denn er fühlte unter seinem Schenkel den Diamanten, den John Stocton dort gelassen hatte; und da er weder auf den Kopf gefallen noch ein Dummkopf war, nahm er ihn und steckte ihn an einen Finger. Und nachdem sie bis morgens früh, da die Wachtglocke bald ertönen mußte, zusammengewesen waren, erhob er sich auf die Bitte der Demoiselle, und sie trennten sich nach einem liebevollen Kuß. Bald danach kam Richard von der Wache heim, die er die ganze Nacht gehalten, halb erfroren und sehr schläfrig, und traf seine Frau beim Aufstehen. Er hieß sie Feuer machen, ging zur Ruhe und legte sich schlafen, denn die Nachtwache hatte ihn ermattet. Und seiner Frau, ihr könnt es glauben, ging es ebenso, sie hatte auch, da sie um ihren arbeitsamen Mann sich sorgte, die ganze Nacht nur wenig geschlafen.
Zwei Tage ungefähr nach all diesen Ereignissen befanden sich John und Thomas - da die Engländer nach der Messe in das Gasthaus frühstücken zu gehen und zu einem Trunk guten Weins sich niederzusetzen pflegen - in Gesellschaft anderer Edelleute und Kaufherren, gingen zusammen frühstücken, und Stocton und Brampton setzten sich einander gegenüber. Beim Essen fielen die Blicke Johns auf die Hände des Thomas, der an einem Finger den Diamanten trug. Und als er ihn zur Genüge betrachtet hatte, glaubte er wirklich, es sei der, den er, er wußte nicht wo und wann, verloren, und bat Thomas, ihm den Diamanten doch zu zeigen, und der gab ihn ihm auch. Als er ihn in der Hand hatte, erkannte er ihn genau als den seinen, fragte Thomas, woher er ihn hätte, und erklärte, er gehöre ihm. Darauf versetzte Thomas, davon könne gar keine Rede sein, er sei sein Eigentum. Stocton behauptete, er habe ihn seit kurzem verloren und es wäre, wenn Thomas ihn in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer gefunden, nicht recht, ihn zurückzubehalten, da doch stets zwischen ihnen brüderliche Liebe geherrscht habe. Darauf kam es zu lauten Worten, sie erhitzten sich sehr und entbrannten gegeneinander in Zorn. Thomas wollte immerfort den Diamanten wiederhaben, konnte ihn aber nicht bekommen.
Als die andern Edelleute und Kaufherren den Streit sahen, bemühte sich jeder, ihn zu schlichten und die Zornigen zu beschwichtigen; doch umsonst, denn der, der den Diamanten verloren hatte, wollte ihn nicht mehr aus der Hand geben, und der, der ihn gefunden, wollte ihn wiederhaben, wußte er doch genau, daß er ihn, während er bei seiner Dame der Liebe pflog, gefunden; und so war die Sache schwer beizulegen. Endlich erklärte einer der Kaufleute, als er sah, daß es so nicht weiterginge, es wäre am besten, wenn man die Sache einem Dritten unterbreite, mit dessen Urteilsspruch John und Thomas sich zufriedengeben sollten, beide Parteien sollten bei Strafe von zehn Nobeln an sein Urteil sich zu halten gebunden sein; und die ganze Gesellschaft erklärte, der Kaufmann habe wohl gesprochen, und verlangte von John und Thomas, sie sollten sich dem Urteil unterwerfen, und man wußte ihnen auch ihre Einwilligung abzuzwingen.
Der Kaufmann forderte, daß der Diamant in seine Hände gelegt werde, dann, daß alle, die in diesem Streitfall gesprochen und den Zwist beizulegen versucht hätten, aus dem Spiel kämen; sie sollten, wenn sie das Haus, in dem sie sich befänden, verlassen hätten, dem ersten Menschen, den sie vor dem Hause treffen würden, gleichviel was und wer er sei, den ganzen zwischen John und Thomas entstandenen Streit und Verdruß erzählen; und was er dazu sage und wie er entscheide, daran sollten beide Parteien fest und bestimmt gebunden sein.
Nicht lange danach verließ die ganze Gesellschaft das Haus, und der erste Mann, dem sie draußen begegneten, war Richard, der Wirt der beiden Streitenden. Ihm ward durch den Kaufmann von dem ganzen Streit erzählt. Als Richard alles vernommen und die Anwesenden gefragt, ob die Sache sich wirklich so verhalte, und man ihm erklärt hatte, die Streitenden hätten sich durch noch so viele ehrenwerte Personen weder besänftigen noch versöhnen lassen, sprach er das Urteil, der Diamant solle ihm als sein Eigentum und keinem der beiden Streitenden gehören. Als Thomas sah, daß er den durch einen glücklichen Zufall gefundenen Diamanten verloren hatte, war er sehr bekümmert, und John Stocton, der ihn verloren, war es ebenfalls, ihr könnt mir's glauben. Und darauf bat Thomas die ganze Gesellschaft, ausgenommen ihren Wirt, in das Haus, wo sie gefrühstückt hätten, zurückzukehren, er wolle ihnen ein Mittagsmahl geben und erzählen, wie der Diamant in seine Hände gekommen sei, und alle waren damit einverstanden.
Und während die Mahlzeit zubereitet wurde, erzählte er ihnen von Anfang an, welche Reden er mit seiner Wirtin geführt, wie und wann er sich zum Stelldichein bei ihr eingefunden hatte. Als das John Stocton hörte, war er sehr erstaunt und wußte sich vor Verwunderung kaum zu fassen, und er bekreuzte sich und erklärte, genau dasselbe sei ihm in der gleichen Nacht, so wie es vorher hier erzählt, begegnet und er glaube sicher, seinen Diamanten dort verloren zu haben, wo Thomas ihn gefunden, und er habe noch viel mehr Grund zum Ärger über den Verlust als Thomas, der dabei nichts verloren, denn der Diamant hätte ihn viel Geld gekostet.
Darauf antwortete Thomas, er solle sich doch nicht darüber beklagen, daß ihr Wirt den Diamanten sich zugesprochen, hätte doch ihre Wirtin seinetwegen viel zu ertragen gehabt und er ihr in dieser Nacht ja die Jungfrauschaft geraubt; er, Thomas, sei ja nur sein Nachfolger und sein Nachtreter gewesen. Diese Worte trösteten John Stocton einigermaßen über den Verlust seines Diamanten, sein Jammern hätte ihm ja auch nichts genützt. Über dies Abenteuer lachten und freuten sich alle Anwesenden herzlich; und nach der Mahlzeit gingen sie ihren Geschäften nach.