Anonym (Frankreich)
Die hundert neuen Novellen
Anonym (Frankreich)

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83. Novelle
Der gefräßige Karmeliter

Wie es in allen Ländern Sitte ist, daß die Bettelmönche, Jakobiner, Franziskaner, Karmeliter und Augustiner oft durch die Städte und Dörfer ziehen, um gegen die Laster zu predigen, die Tugenden zu loben und rühmen, so geschah es, daß nach Lillers, einer kleinen guten Stadt in der Grafschaft Artois, eines Sonntagmorgens in der Absicht, hier zu predigen, wie er es gut, fromm und löblich tat, ein Karmeliter aus dem Kloster von Arras kam; er war ein guter Geistlicher und wußte schön zu sprechen. Während der Pfarrer die heilige Messe las, erging sich der Meister Karmeliter auf den Straßen in der Hoffnung, irgend jemand möchte ihn singen lassen, so daß er zwei Patars oder drei Gros verdienen könnte, doch niemand kam. Als das eine alte verwitwete Demoiselle sah, hatte sie Mitleid mit dem armen Mönch, ließ ihm durch ihren Diener zwei Patars reichen und ihn außerdem zum Mittag bitten. Und der Meister Mönch steckte das Geld ein und versprach, zum Essen zu kommen, sobald er gepredigt und die heilige Messe in der Kirche geendet hätte. Die Demoiselle, die ihn hatte singen und zum Essen bitten lassen, verließ mit ihrem Kammermädchen die Kirche, ging nach Haus und ließ zur Aufnahme des Predigers alles herrichten. In Begleitung eines Dieners der genannten Demoiselle kam er ins Haus, wo er mit allen Ehren aufgenommen wurde. Und nachdem er sich die Hände gewaschen, wies ihm die Demoiselle seinen Platz an, sie selbst setzte sich neben ihn, der Diener und das Kammermädchen begannen aufzutragen und brachten zuerst eine schöne Lauchsuppe mit prächtigem Speck und schöne Schweinskaldaunen und eine gebratene Ochsenzunge. Sobald der Herr Mönch die Speisen erblickte, zog er, weiß Gott wie schnell, ein schönes, langes, breites, scharfes Messer aus dem Gürtel, sagte sein Benedicite und griff dann die Suppe an. Sobald er erst mit ihr und dem Speck auch eins, zwei, drei fertig geworden ist, geht er gegen die schönen und dicken Kaldaunen vor und fällt über sie her wie ein Wolf über die Lämmer. Und ehe die gute Demoiselle, seine Wirtin, die Suppe zur Hälfte gegessen hatte, gab es auf der Schüssel keine Kaldaune und kein Kaldaunchen mehr. Nun nimmt er sich der Ochsenzunge an und säbelt mit seinem scharfen Messer so viel ab, daß kein Stückchen mehr übrigbleibt.

Die gute Demoiselle, die all das bemerkte, ohne ein Wort zu sagen, warf oft ihrem Diener und ihrem Kammermädchen Blicke zu, und sie sahen ebensooft auf sie zurück. Sie ließ ein Stück guten, gesalzenen Ochsenfleisches und ein schönes Stück Hammelfleisch bringen und auf den Tisch setzen. Und der gute Mönch, der soviel Appetit wie ein ausgehungerter Hund hatte, machte sich an das Stück Ochsenfleisch, und hatte er vorher wenig Mitleid mit den Kaldaunen und der Ochsenzunge gehabt, so kannte er jetzt noch viel weniger Barmherzigkeit mit diesem schönen, fett durchwachsenen Ochsenfleisch. Seine Wirtin, die an seinem Appetit große Freude hatte, viel mehr als der Diener und das Mädchen, die ihn im Herzen verfluchten, ließ seinen Teller, sobald er leer war, stets wieder füllen. Und ihr könnt euch denken, daß er gut mit dem Fleisch aufräumte und daneben nicht zu trinken vergaß. Er hatte so große Eile, seinen Wanst zu füllen, daß er kein Sterbenswörtchen sagte. Als das Stück Ochsenfleisch aufgegessen und verschwunden war und auch der größte Teil des Hammels, von dem die Wirtin nur ein paar Bissen gegessen hatte, gab sie, da sie ihren Gast noch nicht satt sah, ihrem Kammermädchen ein Zeichen, es solle einen großen, tags vorher für die Leute des Hauses gekochten Schinken herbeibringen. Das Kammermädchen, das den Priester, der soviel verschlang, verwünschte, kam dem Befehl seiner Herrin nach und setzte den Schinken auf den Tisch. Und der gute Mönch haut, ohne zu fragen: »Wer da?!« darauf ein, geht ihm zu Leibe und macht sich über ihn her. Zuerst schneidet er das untere Ende ab, dann säbelt er planmäßig das Fleisch auf allen Seiten ab und läßt nur die Knochen übrig. Wer nun den Diener und das Mädchen lachen gesehen hätte, der hätte niemals das Fieber bekommen. Er hatte nun das ganze Haus ausgeraubt, und sie hatten große Angst, er würde sie jetzt selbst fressen.

Um es kurz zu machen. die Dame ließ nach all den genannten Speisen einen schönen, fetten Käse, eine wohl mit Fladen, Äpfeln und Käse besetzte Schüssel, dazu ein schönes Stück frischer Butter, und wahrlich kein kleines, auf den Tisch setzen. So wie ihr gehört habt, ging es bei dem Mahle zu, und man kam zum Dankgebet, das der Meister Prediger, aufgeblasen wie ein Holzbock, sprach und nach dessen Schluß er zu seiner Wirtin sagte: »Ich danke Euch, Demoiselle, für all das Gute, das Ihr mir angetan habt. Ihr habt mich, es sei Euch gedankt, sehr wohl aufgenommen. Ich bitte den, der fünftausend Menschen mit Gerstenbroten und zwei Fischen speiste, daß sie alle satt wurden und noch zwölf Körbe übrigblieben, er möge es Euch vergelten.«

»Heiliger Johann«, sagte die Dienerin und kam heran. »Ihr könnt davon recht gut sprechen. Ich meine, wenn Ihr einer von denen, die damals gespeist wurden, gewesen wärt, hätte man kein Körnchen übrigbehalten, denn Ihr hättet alles aufgegessen und mich auch, wenn ich dagewesen wäre.

»Liebe Freundin«, erklärte der schlagfertige Mönch, »ich hätte Euch ganz gewiß nicht gegessen, sondern Euch auf den Spieß gesteckt und geröstet, so wie man's macht, Ihr wißt ja.«

Die Dame begann zu lachen, und wider Willen taten es auch der Diener und das Kammermädchen. Und unser Mönch, der sich den Wanst vollgestopft hatte, bedankte sich abermals bei seiner Wirtin, die ihn so wohl gespeist hatte, und ging von dannen in irgendein Dorf, um sein Abendessen zu gewinnen. Ich weiß nicht, ob es so wie das Mittagessen war.

 


 


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