Anonym (Frankreich)
Die hundert neuen Novellen
Anonym (Frankreich)

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69. Novelle
Die Bigamistin

Es ist nicht nur den Leuten der Stadt Gent bekannt, wo das Ereignis, das ich euch schildern will, sich unlängst zugetragen hat, sondern auch im größten Teil von Flandern und euch allen hier, daß in der Schlacht zwischen dem König von Ungarn und dem gnädigen Herzog Johann, dem Gott seine Sünden vergebe, einerseits und dem Großtürken in seinem Land Türkei anderseits viele französische, flämische, deutsche und pikardische Ritter und Edelleute gefangengenommen wurden, von denen die einen in Gegenwart des Großtürken getötet und niedergemacht, die andern zu ewigem Kerker verurteilt, die dritten zur Sklaverei verdammt wurden; zu diesen gehörte ein edler Ritter aus dem Lande Flandern, namens Clayz Utenhoven. Und mehrere Jahre verbrachte er als Sklave, was ihm recht naheging und ein unerträgliches Martyrium war, wenn er an das gute Leben dachte, in dem er herangewachsen war, und an den Stand, dem er angehörte.

Nun müßt ihr wissen, er war zu Gent vor kurzer Zeit in den Ehestand getreten und hatte eine schöne, gute Dame, die ihn von ganzem Herzen liebte und werthielt, geheiratet. Sie bat Gott jeden Tag, er möchte ihn ihr doch bald wiedergeben und zurückschicken, wenn er noch am Leben wäre; wäre er aber tot, so wolle er ihm gnädig seine Sünden vergeben und ihn den glorreichen Märtyrern zuzählen, die im Kampf gegen die Ungläubigen und bei der Ausbreitung des heiligen katholischen Glaubens sich freiwillig geopfert und dem irdischen Tod überliefert hätten.

Diese gute, reiche, schöne Dame ward von ihren einflußreichen Freunden unaufhörlich angegangen und bestürmt, sich wiederzuverheiraten; sie erklärten und versicherten ihr hoch und heilig, ihr Mann sei tot oder er wäre, wenn er noch lebte, wie die andern heimgekehrt.

Wäre er gefangen, so hätte man Nachricht von ihm erhalten und ihn auslösen können. Was man aber auch dieser guten Dame sagte, und so wahrscheinlich alles, was sie anführten, klang, wollte sie sich doch nicht zu der Heirat verstehen und entschuldigte sich, so gut sie konnte.

All ihre Ausflüchte halfen ihr aber wenig oder nichts, denn von ihren Verwandten und Freunden ward ihr die Einwilligung abgerungen. Doch Gott weiß, daß sie sehr bekümmert war; es waren jetzt ungefähr neun Jahre vergangen, seit sie ihren guten, treuen Mann vermißte, den sie längst gestorben wähnte; und die meisten andern und beinahe alle, die ihn kannten, glaubten dasselbe.

Aber Gott, der seine Diener und Kämpfer in seinen Schutz nimmt, hatte es anders bestimmt, denn der Ritter lebte noch und tat seine jämmerliche Arbeit als Sklave. Um in der Geschichte fortzufahren, berichte ich, daß die gute Dame an einen andern Ritter verheiratet ward, und sie lebte ungefähr ein halbes Jahr mit ihm zusammen, ohne von ihrem guten Mann etwas anderes als früher zu erfahren, nämlich daß er gestorben sei.

Nach Gottes Willen aber ward der gute und treue Ritter, Herr Clayz, der zur Stunde, da Madame, seine Frau, sich mit einem andern verheiratete, noch in der Türkei Sklavendienste tat, durch einige christliche Edelleute und Kaufherren befreit; er bestieg eine Galeere und fuhr heim in sein Land. Als er auf dem Heimweg war, traf und fand er, wie er durch das Land ritt, viele Bekannte, die ob seiner Befreiung sehr erfreut waren. Er war nämlich ein sehr tapferer, gut beleumundeter und tugendsarner Mann. Und so schnell verbreitete sich die frohe Kunde von seiner ersehnten Befreiung, daß sie nach Frankreich, Artois und der Pikardie kam, wo seine löblichen Eigenschaften ebenso wie in seiner Heimat Flandern bekannt waren. Und von hier kam die Nachricht bald nach Flandern und zu den Ohren seiner schönen, guten Dame und Gattin, die sehr erschrocken war und so betroffen und überrascht, daß sie in Ohnmacht fiel.

»Ach«, rief sie nach einer Weile, als sie wieder sprechen konnte, »mein Herz wollte niemals etwas von dem wissen, was meine Verwandten und Freunde zu tun mich zwangen. Ach, was wird mein treuer Herr und Gatte sagen, da ich ihm nicht nach meiner Pflicht die Treue gehalten, sondern wie eine leichtfertige, schwache und wankelmütige Frau einem andern das, was ihm allein gehören und bleiben sollte, gegeben habe! Ich kann und darf nicht seine Ankunft abwarten, ich bin auch nicht wert, daß er mich ansieht, und kann nie mehr mit ihm leben.« Bei diesen von Tränen begleiteten Worten versagte ihr tugendhaftes und treues Herz, die Sinne schwanden ihr, und sie fiel blaß nieder. Sie ward aufgehoben und auf ein Bett gelegt und erholte sich wieder, doch seitdem vermochte keiner, weder ein Mann noch eine Frau, sie zum Essen und Schlafen zu bewegen. Drei Tage hintereinander verbrachte sie in Tränen, und ihr Herz war so traurig wie nur jemals das Herz einer Frau. Währenddessen beichtete sie und war um ihr Seelenheil wie eine gute Christin besorgt und bat alle Menschen, besonders ihren Mann, um Verzeihung. Und bald danach starb sie, was sehr beklagenswert war, und man braucht nicht von dem Kummer ihres Mannes, als er die Nachricht erhielt, zu sprechen; und infolge seiner Trauer schwebte er in der größten Gefahr, durch einen gleichen Tod seiner treuen Gattin zu folgen, doch Gott, der ihn aus andern großen Gefahren gerettet hatte, bewahrte ihn vor diesem Ende.

 


 


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