Anonym (Frankreich)
Die hundert neuen Novellen
Anonym (Frankreich)

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80. Novelle
Das rechte Maß

Wie ich als wahre Geschichte unlängst von zwei glaubwürdigen edlen Herren erzählen hörte, ward in Deutschland ein ungefähr fünfzehn- bis sechzehnjähriges Mädchen einem guten schmucken Gesellen zur Frau gegeben, der all sein Können aufbot, um ihr das zukommen zu lassen, wonach die Frauen, wenn sie in diesem Alter und Stande sind, so sehr, doch ohne ein Wort zu sagen, verlangen. Obwohl der arme Mann sein Geschäft gut verrichtete und sich vielleicht über seine Pflicht hinaus und öfter, als er hätte müssen, abmühte, ward doch all sein Tun nicht freudig aufgenommen, und seine Frau sah beinah beständig sauer drein und weinte oft so bittere Tränen, als wären all ihre Freunde gestorben.

Als ihr Mann sie so jammern sah, konnte er sich nicht genug Gedanken darüber machen, was ihr wohl fehlen könne, und fragte sie freundlich: »Was habt Ihr denn, liebe Freundin? Habt Ihr nicht schöne Kleider genug, wohnt Ihr nicht in einem guten Haus, habt Ihr nicht Dienerschaft genug und alles andere, was sich Leute unseres Standes nur billig wünschen können, in reichem Maße?«

»Darum geht's mir nicht«, entgegnete sie.

»Worum denn? Sagt es mir doch!« rief er. »Und wenn ich ein Mittel dagegen weiß, glaubt mir, ich setze Hab und Gut daran.«

Sooft er sie auch fragte, entgegnete sie kein Wort, doch blickte sie immer sauer drein und ward von Tag zu Tag verdrießlicher, so daß der Mann, da er die Ursache ihres Kummers nicht erfahren konnte, schließlich alle Geduld verlor. Er drang so lange in sie, bis sie es ihm sagte, und sie erklärte ihm, sie sei so bekümmert, weil er mit dem, was ihr euch schon denken könnt, nämlich dem Stab, mit dem man nach Boccaccios Wort die Menschen pflanzt, so dürftig versehen sei.

»Also darüber«, entgegnete er, »seid Ihr so traurig? Wahrhaftig, Ihr habt guten Grund dazu. Doch das läßt sich nicht ändern, und Ihr müßt nun tragen, wie es ist, wenn Ihr nicht mit einem andern tauschen wollt.«

Eine lange Zeit ging es so weiter, bis der Mann, da er sah, daß sie sich nicht anders benahm, eines Tags zum Mittagessen viele ihrer Freunde einlud, ihnen die obenerwähnte Geschichte erzählte und erklärte, sie habe seiner Ansicht nach nicht Grund, sich über diesen Punkt zu beklagen, denn er glaube mit dem natürlichen Instrument ebenso wohl wie nur einer in der Nachbarschaft versehen zu sein. »Und damit«, fuhr er fort, »ich leichter Glauben finde und ihr alle ihr Unrecht klärlich seht, will ich euch alles deutlich zeigen.«

Damit legte er sein Geschirr vor sich auf den Tisch vor allen Männern und Frauen und sagte: »Seht, wie es darum steht.« Seine Frau aber weinte noch viel heftiger. »Beim heiligen Johann«, sagten ihre Mutter, Schwester, Tante, Base, Nachbarin, »liebe Freundin, Ihr habt unrecht, was verlangt Ihr denn, was wollt Ihr denn noch mehr haben? Welche Frau müßte nicht mit einem so wohl ausgerüsteten Mann zufrieden sein? So wahr mir Gott helfe, ich wäre sehr glücklich, wenn ich ebensoviel, ja sogar noch viel weniger hätte. Beruhigt Euch doch, seid doch still und macht von nun an ein freundliches Gesicht! Bei Gott, Ihr habt das beste Teil von uns allen, wie ich glaube, gewählt.«

Als das junge Weibchen die Versammlung der Frauen also sprechen hörte, sagte es zu ihnen unter heißen Tränen: »Seht doch nur unser kleines Eselchen hier im Haus, das ist kaum ein halbes Jahr alt, und sein Instrument ist groß und stark und wie ein Arm lang.« Und dabei hielt sie ihren rechten Arm von sich und gab das Maß an ihm. »Und mein Mann, der wohl vierundzwanzig Jahre alt ist, hat nur das bißchen, das er euch gezeigt hat. Und ich soll eurer Ansicht nach damit zufrieden sein?«

Alle lachten, sie selbst aber weinte noch viel mehr, so daß in der Gesellschaft lange kein Wort fiel. Darauf sprach die Mutter zu ihrer Tochter von dem und jenem, brachte alles mögliche vor, bis sie sich wenigstens etwas zufriedengab. Doch kostete es sie Mühe genug. Seht, so sind die jungen Mädchen in Deutschland, und so Gott will, wird's in Frankreich bald ebenso sein.

 


 


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