Friedrich Huch
Enzio
Friedrich Huch

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Am bestimmten Tage war er wieder in dem Park, halb voller Erwartung und halb mißmutig. Warum behandelte sie ihn stets noch beinah als Kind, und dann plötzlich wieder wie einen erwachsenen Liebhaber? Und immer: »Enzio, Enzio« vor jedem Satz und nach jedem Satz.

Als er zu der verabredeten Bank kam, war sie leer. – Ich warte zehn Minuten, und wenn sie bis dahin nicht kommt, dann gehe ich wieder! dachte er und zündete sich eine Zigarette an, versteckte sie aber nach kurzer Zeit und blies den Rauch hastig in die Weite, als er ein bebrilltes Haupt auf 176 einem schwarzen Unterbau langsam nahen sah. Das war der Rektor des Gymnasiums, der nun allmählich vorbeischritt. Er war in jovialer Naturgenußstimmung, roch sehr wohl die Zigarettenatmosphäre um den Schüler seiner Prima herum, begnügte sich aber damit, als Enzio grüßte, seinen Gegengruß mit einem olympisch-allwissenden und zugleich sehr freundlichen Blick zu begleiten.

Fräulein Battoni kam nicht, und je länger Enzio wartete, um so größer wurde seine Enttäuschung, obgleich er halb widerwillig zu diesem Rendezvous gegangen war. Grade wollte er sich erheben, als er ihr helles Kleid und ihren funkelnd roten Sonnenschirm durch die Zweige herannahen sah.

Mein süßes Kind! rief sie; bist du schon da? Nun, das nenne ich Pünktlichkeit! Du hast die richtige Anlage zum Liebhaber, Enzio!

Was sich Fräulein Battoni bei dieser neuen Zusammenkunft gedacht hatte, wußte sie selber nicht. Dieser junge, frische und in ihren Augen wirklich bildschöne Mensch reizte sie. – Er muß mich doch rasend gern haben! dachte sie, – denn sonst würde doch wenigstens etwas auf ihn abfärben von den Gefühlen seiner Mutter gegen mich, aber davon merke ich nichts, gar nichts! Und diese reizende Unbefangenheit, mit der er das Verhältnis von seinem Vater zu mir zu beurteilen scheint! Wie selbsverständlich er es hinnimmt, daß ich mich 177 auch für ihn interessiere! Wirklich zu niedlich ist das doch von ihm! Was er sich wohl denkt? Sie hatte selber keine Ahnung, wie sich die Beziehung zwischen ihr und Enzio weiter entwickeln würde. So etwas wußte sie niemals, aber ihr durchaus vorurteilsloser Sinn machte keinen Unterschied in den Lebensaltern.

Bei ihrer Zuneigung zu Enzio spielte außer seiner Jugend und seiner Schönheit noch etwas anderes eine Rolle: Er war der Sohn seines Vaters, und sie kannte ihn seit seiner Kindheit. Beides mischte ihrem Gefühl etwas Pikantes bei. Das erste brachte ihn ihr von vornherein körperlich näher, erfüllte sie mit vertrauteren Ahnungen, als wenn er ihr ganz fremd gewesen wäre, und barg den Keim von Vergleichungen in sich. Und das zweite mischte in ihre Empfindungen eine angenehme Frische. Der Gedanke war prickelnd, diesen jungen Menschen wieder rückerinnernd in den Zustand der Kindheit zu versetzen und die Vergangenheit mit der Gegenwart zu vermischen, so daß ein nur halb erkennbares Zwitterwesen von verschiedenen Lebensaltern deutlich ward.

Die Stimmung war eine andre als das letztemal. Er empfand das in ihren Blicken, und er selber war in heimlicher Erregung, denn jetzt fühlte er mit Deutlichkeit, daß er für sie nicht mehr das Kind von früher war, sondern daß sie ihn als einen 178 reifgewordenen und begehrenswerten Menschen betrachtete. Jede kleinste Berührung hatte einen andern Sinn bekommen. Alles, was in ihm gelockert war, bedurfte nur eines Anstoßes, um auseinandergesprengt zu werden.

Er saß stumm neben ihr. Sie drehte eine Blume zwischen den Fingern hin und her, bis sie endlich niederfiel, auf die Bank, zwischen sie beide. Er griff nach ihr, sie ebenfalls, und ihre Hände fanden sich. Beide sagten gar nichts.

Was du für schöne, starke Finger hast! sprach sie endlich, hob sie und legte sie gegen ihre heiße Wange. Ihn durchschauerte es. Und ohne daß sie noch ein weiteres Wort sprachen, waren sie eng zusammengerückt, und dann küßte sie ihn glühend auf den Mund. Er vergaß in diesem Moment alles, er fühlte nur die Berührung dieser begehrenden Lippen, nur ihren weichen Frauenkörper, er umschlang sie heftig. – Enzio, murmelte sie, laß mich los! Er dachte nicht daran, er umschlang sie fester. Sie fühlte das Feuer seiner jungen Glieder, und nun ließ sie sich treiben. Enzio! flüsterte sie, ich weiß nicht mehr, was ich tue, ich bin verrückt geworden, ich liebe dich, Enzio, ich liebe dich, alles andre ist mir gleichgültig – – sie umarmte ihn von neuem: Enzio! Wenn du wolltest – – ich würde alles darum hingeben, auch deinen Vater, wenn es sein müßte! –

179 In Enzios Körper tat es einen Ruck. Er stieß sie halb zurück und sah ihr starr und mit geöffneten Lippen ins Gesicht. Sie erblaßte, und ein tödlicher Schreck befiel sie. Zum zweiten Male mich verplappert – dachte sie – und in genau derselben Sache. – Mein Vater? stieß er endlich hervor, mein Vater? Dann sagte er: O Gott! und schlug die Hände vors Gesicht. Sie glaubte wieder Boden unter den Füßen zu gewinnen. An die Bühne gewöhnt mit ihren Darstellungen von »Konflikten«, legte sie sich jetzt sein Wesen so aus, als gehe in ihm ein heftiger Kampf vor sich, als habe er zuvor im Rausch des Augenblicks die Wirklichkeit, soweit sie sich auf ihn bezog, nur vergessen, als erwache er nun aus einem goldnen Traum zur Welt zurück, mit ihren ewigen Forderungen an das menschliche Herz und dessen Gegenforderungen; dann aber konnte sie nicht mehr lange im Zweifel bleiben über das, was wirklich in ihm vorging. Er riß die Hände vom Gesicht und stieß die Worte vor: Sagen Sie mir alles.

Ja, um Gotteswillen, was soll ich Ihnen weiter sagen, als was Sie selber wissen! sagte sie stotternd, und war unwillkürlich in eine andre Art der Anrede hineingeraten – – als was alle Welt weiß! – Und plötzlich setzte sie hinzu: Eine ganz harmlose Geschichte, aber wie die Welt nun einmal ist, vermutet sie natürlich gleich das Schlimmste! – Enzio 180 schüttelte heftig mit dem Kopf, dann rief er: Wann fing das an? – Sie antwortete nicht. – Wann fing das an? schrie er beinah. Und unter seinem Ton und Blick stotterte sie wieder: Das weiß ich wirklich nicht mehr – aber ich versichere Ihnen nochmals: Es ist eine ganz harmlose Geschichte. – Sie lügen!! – Da besann sie sich auf ihre Würde und wußte nun auf einmal, was sie auf dieses Stichwort hin noch alles zu erwidern und wie sie sich zu Ende zu benehmen habe. – Mein lieber Sohn! sprach sie, ich bin wirklich nicht hergekommen, um mich von dir verhören und beschimpfen zu lassen, besinne dich, wen du vor dir hast! – Nennen Sie mich nicht mehr du! Ich will das nicht, ich verbiete es Ihnen!

Sie hatte ihre Ruhe vollkommen zurückgewonnen und ließ jetzt ein begütigendes, besänftigendes Lachen in einer tiefern Lage hören.

Wie du willst! oder vielmehr: Wie Sie wollen. Ich nenne Sie schon von selber nicht mehr du, wenn Sie sich so benehmen. Es tut mir leid, mein lieber Enzio, daß unsre Freundschaft in die Brüche gehen soll – aber wenn Sie es durchaus wünschen – mir ist es recht. Es machte mir Vergnügen, mit Ihnen zu scherzen und zu sehn, wie weit ein junger Mann sich durch die scheinbar entgegenkommenden Worte einer reifen Frau hinreißen lassen würde, sie für Ernst zu nehmen; es war ein kleines, 181 unschuldiges Experiment – nicht sehr nett von mir, das gestehe ich, und dafür bitte ich nachträglich noch ein wenig um Entschuldigung. Im übrigen habe ich auf nichts mehr zu antworten. Gehen Sie nach Haus und schämen Sie sich da etwas, einer Dame gegenüber in solchem Ton geschrien zu haben. Sie hätten mich dem Schlimmsten ausgesetzt, wenn zufällig Menschen vorbeigekommen wären. Adieu! – Sie erhob sich und rauschte langsam davon.

Enzio blieb auf seiner Bank zurück, warf den Kopf nach hinten und vergrub ihn dann in seinem Arm.

»Ich würde alles darum geben, auch deinen Vaters wenn es sein müßte.« Diese Worte wirkten in ihm nach mit der Grelle eines Blitzes. Endlich hob sich aus alle dem, was in ihm durcheinander ging, ein jammernswertes Bild: das seiner Mutter. Jetzt verstand er die ganze Vergangenheit. Wie hatte sie vorhin gesagt?: Ich weiß nicht, wann das anfing! Das deutete auf Jahre!

Hingeben! Für ihn hingeben! Wie abscheulich klang das! Wie gemein war die ganze Art, durch die er in das Geheimnis gedrungen war!

Ihm war, als müsse er sogleich zu seiner Mutter, ihr zu Füßen stürzen, sie umklammern, alles herausschreien, was er wisse, und beichten, wie er in den Besitz dieses Wissens gelangt sei. – Aber war es vielleicht doch nicht unmöglich, daß sie genau 182 so wenig wußte, wie er selbst bisher gewußt hatte? Plötzlich durchzuckte ihn der verwegene Gedanke, Rechenschaft zu fordern von seinem Vater. Er war kein Kind mehr, er mußte wissen, ob es wirklich wahr sei, was er gehört, und – was die ganze Welt wisse, wie Fräulein Battoni hinzugesetzt hatte. Bei diesem letzten Satz stockte sein Gedanke wieder und ein dunkles Rot zog sich über seine Schläfe. Der erstbeste Mensch, den er auf der Straße traf, konnte Mitwisser dieses Geheimnisses sein, das kein Geheimnis mehr war; alle wußten es, nur ihm hatte man es verheimlicht.

Seinen Vater, so fühlte er jetzt, konnte er nicht zur Rede stellen, das war ausgeschlossen.

So neu und unfaßlich war seinem Herzen alles Gehörte, daß ihn wieder der Gedanke durchfuhr: Vielleicht ist alles doch nicht wahr! Nichts weiter als ein dummer, roher Scherz! Hatte sie nicht auch gesagt, alles übrige sei nur ein Scherz gewesen? – Er hörte innerlich den Ton ihrer Worte wieder, er sah von neuem ihr tödlich erschrockenes, erblassendes Gesicht, und dann wußte er, daß alles wahr gewesen sei.

Was sollte er tun? Ändern konnte er selber nichts an allem, dazu war er zu jung und dazu fehlte ihm das Recht. Auch zu seiner Mutter konnte er nicht sprechen – denn immer wieder meldete sich 183 der Gedanke: Es ist doch nicht vollkommen ausgeschlossen, daß sie keine Ahnung hat! Was sollte er tun? Sollte er sich Richard anvertrauen? Das war das beste, der würde ihm raten, helfen können.

Er erhob sich von seiner Bank, nachdem er noch lange vor sich hingestarrt hatte.

Als er in die Straße einbog, wo Richard wohnte, zögerte er wieder, und dieses Zögern wurde stärker, als er nun durch den Hof ging und dann die Treppen emporstieg. Trotzdem hob er die Hand zum Läuten, aber im letzten Moment zog sie ein plötzlicher Impuls zurück. Richard durfte nichts von diesem allem wissen. Zwar durchkreuzte ihn sogleich die Idee: Aber wenn es jeder weiß, weiß er es auch vielleicht schon lange. Trotzdem drehte er um. Durch ihn sollte Richard kein Wort darüber hören.

Wohin wollte oder sollte er nun gehn? Nach Hause? Das schien ihm unmöglich. Auf der Straße bleiben? Hinaus auf die Felder? Vor dem allem ekelte ihn. – Wenn ich heimlich in mein Zimmer kommen kann – dachte er endlich – bin ich gerettet. Dann schließe ich mich ein und sage: ich arbeite, wenn jemand zu mir herein will. Aber er ging doch nicht nach Hause, er machte einen weiten Gang zur Stadt hinaus, und wie er sich endlich heimwärts wandte, nahte die Dämmerung. 184 Es gelang ihm, ungesehn sein Zimmer zu betreten. Er wußte nicht, was sich inzwischen in seiner Familie ereignete.

*


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