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474 Irene empfing einen Besuch, allein, in ihrem Zimmer. Es war Pimpernell. Sie hatte einen Brief geschrieben, sie müsse sie in einer hochwichtigen Angelegenheit allein sprechen. Irene ahnte, daß es sich um Enzio handeln würde. Sie fragte sich auch, ob sie ihm etwas von diesem Briefe mitteilen solle, unterließ es aber, indem sie dachte: ich will erst hören, was sie sagt, jedenfalls wird es etwas ganz Verrücktes sein.
Störe ich? fragte Pimpernell, indem sie eintrat. – Da ich auf Ihren Besuch vorbereitet bin, so stören Sie mich nicht. – Ach, das ist ja dasselbe Zimmer, in dem Enzio damals lag, und wo ich ihn besuchte! Nicht wahr, Sie erinnern sich doch wohl noch, als ich hier heraufkam. Unsere Bekanntschaft war allerdings nur eine ganz flüchtige. Damals hingen hier aber andere Gardinen. – Sie sah rund um sich herum, als wolle sie noch andere Gegenstände ihrer Erinnerung auffinden.
Bitte, sagte Irene, wollen Sie nicht Platz nehmen und mir Ihre Angelegenheit mitteilen? – und wies ihr sich gegenüber einen Stuhl an. – Das Bild da drüben kenne ich auch wieder, Ihr Zimmer ist wirklich wunderniedlich eingerichtet.
Irene sah sie mit einem vollen Blicke an, worauf Pimpernell erst grundlos und verlegen lächelte und dann an ihr vorbeisah.
Pimpernell kam nicht mehr mit Büchsen voll 475 gefährlichen Inhalts, sie war inzwischen klüger geworden. Sie hatte sich dieses Ganze sehr leicht gedacht. Wie eine Art rächender Engel wollte sie ins Zimmer treten, ihre Worte auf Irene schleudern, die vernichtet zurücksinken würde, und dann sich mit einem ganz besonderen Lachen wieder entfernen; dieses sollte halb höhnisch und halb mitleidig klingen.
Irene blickte noch immer auf sie. Endlich sprach sie: Ich möchte Ihre Zeit nicht unnötig lange in Anspruch nehmen.
Dies brachte Pimpernell in Bewegung; sie besann sich auf sich selbst: Das klang beinah, als wäre sie hier nur geduldet! Als käme sie mit einer Bitte! So sprach man zu Menschen, die man mit einer kleinen Gabe wieder zur Tür hinausschickt!
Ich werde Ihre Zeit nicht zu lange in Anspruch nehmen, antwortete sie, denn Ihre Zeit meinen Sie ja doch bloß, wenn Sie von meiner Zeit sprechen. Was ich zu sagen habe, läßt sich in paar Sätzen erledigen. Also, nicht wahr, Sie wollen Enzio heiraten? Wenigstens las ich in der Zeitung, daß Sie verlobt sind. Ich bin für die Ferien hier bei meinen Eltern, und da fand ich zufällig die Notiz. Verehrtes Fräulein! Ich komme, um Sie von einem Schritt zurückzuhalten, der ausschlaggebend unglücklich sein wird für Ihre ganze Existenz!
476 Irene lehnte sich ein wenig in den Sessel zurück und suchte ein leises Lächeln zu unterdrücken.
Pimpernell bemerkte das, und das Blut schoß ihr zu Kopf: Sie haben keine Ursache, sich über mich lustig zu machen! Ich kenne Enzio hundertmal besser als Sie und weiß Dinge von ihm, von denen Sie keine Ahnung haben, denn er wird sich wohl hüten, Ihnen gewisse Tatsachen zu erzählen!
Irene ging das Blut zu Herzen, aber ihr Blick war nach wie vor ruhig, und sie antwortete: Wenn Sie gekommen sind, um ihn vor mir zu verleumden, so muß ich Sie bitten, es zu unterlassen und sogleich wieder zu gehn. Ich habe keine Lust, das mit anzuhören. – Sie erhob sich: Also sagen Sie in Ihren paar Sätzen: Was wollen Sie?
Pimpernell war ebenfalls aufgestanden. – Schön! wenn Sie es durchaus in ein paar Sätzen hören wollen, so bin ich gern bereit, mich auf das Notwendigste zu beschränken: Enzio hat jahrelang mit einem Mädchen ein Verhältnis gehabt, hat ihr geschworen, sie zu heiraten, dann ist eine andere dazwischen gekommen, eine ganz gewöhnliche Konservatoristin von schlechtestem Ruf, er hat mit beiden auf einmal zusammen gelebt, bis er der ersten überdrüssig wurde und sie davonjagte, und dann hat er, bis er jetzt wieder hierherkam, ein Leben mit Frauenzimmern geführt, die eine wirkliche Jungfrau nicht beim Namen nennen wird. 477 So, das ist es, was ich Ihnen zu sagen hatte, und jetzt, hoffe ich, werden Sie mir danken.
Irene schwieg. Dann sah sie zur Tür und sagte: Da Sie ein so gutes Gedächtnis für dieses Hans haben, finden Sie den Ausgang wohl auch ohne meine Führung wieder.
Das ist also der Dank? O ja, ich weiß noch ganz genau, wo der Ausgang ist! Ich finde mich in jedem Haus zurecht, das ich ein einziges Mal betreten habe, und das Ihrige ist sehr einfach gebaut. Aber hinauswerfen lasse ich mich nicht! Sie wollen natürlich nicht glauben, was ich Ihnen erzählt habe, aber bitte: Führen Sie mir Enzio vor, daß ich ihm Punkt für Punkt ins Gesicht schleudere, und sehn Sie ihn dann an, ob er den Mut hat zu sagen, daß ich lüge! Alles kann ich beschwören auf Ehre und Seligkeit! Er soll mich doch verklagen vor Gericht, wegen Verleumdung, wenn er den Mut hat! Aber er weiß ganz genau: ich könnte noch viel mehr erzählen! Sie denken natürlich, ich rede aus Eifersucht, weil ich Enzio liebte. Die Zeiten sind vorbei! Ich heirate nächsten Monat meinen Direktor! Weshalb ich Ihnen das alles dann erzählt habe? Weil er es auch mit mir versucht hat! Sie sehn mich an, als wollten Sie sagen: Lügen Sie doch nicht so viel! Ich kann Ihnen nur antworten: Fragen Sie ihn selbst, und beobachten Sie dann, ob er nicht rot wird, wenn er meinen 478 Namen hört! Ob er sich nicht in Grund und Boden schämt, wenn er daran denkt, wie er sich gegen mich benommen hat! Und dann: Fragen Sie ihn nach »Bienle«, das ist das Mädchen, mit dem er jahrelang auf das engste zusammen gelebt hat! – Bei diesen letzten Worten empfand Irene einen plötzlichen Stich im Herzen, jäh und kalt.
Und grade damals, als er nach seiner Krankheit hier bei Ihnen wieder abreiste, grade damals war das Verhältnis auf dem Höhepunkt, ich habe das mit meinen eignen Augen angesehn und außerdem hat er es mir mit den unzweideutigsten Worten gesagt! Ich bin Ihnen als Freundin genaht, ich werde Sie kaum jemals wiedersehn, und es drängt mich, von Ihnen jetzt mit einem herzlichen Händedruck zu scheiden, da wir halbe Leidensgenossen sind.
Irene übersah die ausgestreckte Hand und ging auf die Wand zu. – Was klingeln Sie denn da? – Dem Diener, daß er Ihnen unten den Mantel hält. – Nicht nötig, ich habe nur dies Jäckchen an, ich kann mir keine so kostbaren Pelze leisten wie Sie. Adieu! wenn Sie nun immer noch Ihren Enzio heiraten mögen, so kann ich nur sagen: Jedermann nach seinem Gusto!
Hinaus war sie, klopfte aber gleich darauf wieder an und rief: Da muß noch ein Leihbibliotheksbuch von mir liegen!
479 Sie empfing es durch den Türspalt, ohne Irene zu sehn. – Danke, danke, zu liebenswürdig.
Irene blieb im Zimmer stehn, wie in einer Betäubung.
Alles ist nicht wahr; dachte sie, – diese Kreatur ist wahnsinnig vor Eifersucht. Dann aber dachte sie: Und doch ist alles wahr, wie hätte sie sonst so sprechen können . . . o Enzio, Enzio! Sie brach in heftiges Schluchzen aus: Jahrelang hat er mit einem andern Mädchen zusammen gelebt, mehr als einmal hat er mich gedankenlos mit ihrem Namen angeredet, und ich glaubte ihm, als er mir sagte, es sei ein kleines Mädchen, er nahm den Ball, den ich ihm gab, um ihn jenem Kind zu schenken, das hat er übers Herz gebracht, er küßte mich am selben Tage, an dem er abends wieder in ihren Armen war! Eine dunkle Röte flog über ihr Gesicht und sie dachte: Das überwinde ich nicht, nun ist es noch unmöglicher, daß wir zusammenkommen, aber wenn er mich fragt – dieses kann ich ihm nicht sagen, ich kann es niemand sagen, auch meinen Eltern nicht.
Noch ehe Pimpernell von Bienle sprach, war in Irene ein körperliches Gefühl erwacht, das sie selbst wie in eine Entfernung von Enzio trieb, mit einer Stärke, daß es ihr klar vor der Seele stand, daß ihre und Enzios Wege auseinandergingen. Von diesem Grund allein durfte sie zu 480 Enzio und zu ihren Eltern sprechen. Aber erst mußte sie sich Gewißheit schaffen.
Zum Mittagessen erschien sie nicht, den ganzen Tag war sie in ihrem Zimmer eingeschlossen, dann schrieb sie ein Billett an Enzio, er möge am nächsten Morgen zu ihr kommen.
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