Friedrich Huch
Enzio
Friedrich Huch

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266 Mein lieber Freund, sagte eines Tages sein Kompositionslehrer zu ihm, Sie haben unbestreitbar ein Talent. Das sagt noch gar nichts. Talent haben viele jungen Musiker. Aber wenn sie so fortarbeiten, wie Sie tun, dann kann ich Ihnen garantieren: Aus Ihnen wird nie etwas! Sie scheinen alle Geduld verloren zu haben. Ihr erstes Schmerzenskind, die Sonate, zeigt doch, daß Sie's können, wenn Sie sich Mühe geben und unverdrossen bei der Sache sind. Auch Ihre ersten Instrumentationsversuche waren durchaus nicht übel, aber seither haben Sie enorm nachgelassen! Sie hauen Ihre Einfälle hin, daß es einem leid tun kann. Roh sind Ihre Arbeiten, von einer wirklichen Kunst, von einem wirklichen Gefüge merkt man nichts. Sie wissen noch nicht viel vom Instrumentieren, können noch nicht viel davon wissen. Aber eins kann man von Ihnen verlangen: Daß Sie die Instrumente, die Sie da zusammenstellen, mit dem innern Ohr in der Tat auch hören. Täten Sie das, so würden Sie nicht so monströses Zeug abliefern, wie Sie die letzten Male getan haben. – Bitte, Sie haben mir selbst gesagt, daß sogar Wagner manchmal Fehler gemacht hat in der Instrumentation, und daß er das erst merkte, als er die Stellen bei den Proben wirklich hörte! – Wie das Kind klug schwatzen will! Sie wissen ganz genau, daß Ihre Einwände nicht zur Sache 267 gehören! Sie reden immer so herablassend von der Musik Ihres Vaters; ich kenne nicht viel davon, und was ich kenne, gefällt mir auch nicht, das kann ich Ihnen als Musiker frei heraussagen; aber wenn Sie später einmal im Instrumentieren so geschickt und geschmackvoll werden wie er, dann kann ich Ihnen nur gratulieren! – Enzio warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Der Professor lachte und fuhr ihm mit den Fingern durch sein blondes Haar: Überflügeln Sie ihn nur, aber von selbst fällt Ihnen das nicht in den Schoß. Es ist, wie Sie wissen und wie es so schön im Sprichwort heißt, noch kein Meister vom Himmel gefallen! Ohne strenge, harte Arbeit kommen Sie nicht durch. – Ich war die letzten Wochen abgezogen und innerlich zerstreut! sagte Enzio, wie zur Entschuldigung. – Das habe ich bemerkt, und ich sage Ihnen auf den Kopf zu: Sie sind bis über die Ohren verliebt! Lassen Sie sich nicht unterkriegen! In Ihrem Alter kann das eine Klippe werden; ist man erst im Verbummeln drin, dann ist es schwer, sich wieder herauszuarbeiten. Lassen Sie jetzt einmal Ihre großen Sachen fort, an die Sie sich herangemacht haben und die doch nichts werden, wie Sie wohl selber einsehn; schreiben Sie mir eine ganz solide Ouvertüre für mittleres Orchester, oder, noch lieber: ein einfaches, gediegenes Quartett. Das müssen Sie jetzt können.

268 Auf Enzio machte diese Unterhaltung Eindruck. Von zwei Seiten wurde er so ermahnt, denn das Bienle hatte gleicherweise, wenn auch in viel primitiverer Form, zu ihm gesprochen, mehr als einmal: Enzio, du arbeitest zu wenig; dein Vater gibt doch das teuere Geld für dein Studium, und wenn du nun nachher nach Hause kommst und kannst gar nichts!

Tagelang sah er jetzt seine Freundin überhaupt nicht, und wunderte sich, wie gut das gelang. Wären sie beide ihrer nicht so sicher gewesen, so hätten sie auch mehr entbehrt. So aber dachten sie voll Ruhe aneinander, und die Stunden, in denen sie sich sahn, wurden doppelt festlich.

Er fing nun wirklich an, ein Quartett zu schreiben; nach einiger Zeit hatte er einen ersten Satz vollendet. – Nicht tief in der Erfindung, sagte sein Professor, aber auch durchaus nicht platt. Der Aufbau ist klangvoll und ziemlich einwandfrei. Immerhin ein großer Fortschritt gegen früher.

Enzio hatte sich auf diesen Satz viel eingebildet. Jene Kritik ernüchterte ihn, aber nun tröstete er sich mit dem Gedanken: Dinge, wie ich sie einmal zu sagen haben werde, sind jetzt noch nicht spruchreif. Es fehlen mir noch die Ausdrucksmittel dazu. Dieses hier sind Schablonenübungen, wie sie jeder durchmachen muß. Übrigens ist die Kritik ganz sicher viel zu scharf, denn eine Durchschnittsarbeit 269 ist dies auf keinen Fall. Das hat er ja auch eigentlich selbst zugegeben. Diese Professoren haben immer das Prinzip, einen zu ducken, und von ihrem Standpunkt aus haben sie ganz recht.

Es kam nun eine neue Zeit für ihn, geteilt zwischen Liebe und Arbeit. Daneben fing er an, sich etwas mehr im Leben umzusehn. Er gewann durch seine Kameraden andere Bekannte, die wieder andere Interessen hatten als rein musikalische. Abends saß er jetzt zuweilen in einem Café, das der Treffpunkt für junge Künstler war. Dort saßen sie, mit ihren Mähnen und blassen Gesichtern und rauchten eine Zigarette hinter der andern. Lange Gespräche wurden geführt über Genie und Ruhm, und jeder hielt sich für einen heimlichen König. Redete einer besonders lang, so begannen die andern heimlich für sich zu pfeifen, unterbrachen aber nicht, denn es war ein stillschweigendes Übereinkommen, seinen Nächsten zu dulden, damit man selbst geduldet werde. Keiner erhob sich gern als erster, um nach Haus zu gehn, aus Angst, es werde sogleich über ihn gelästert, wenn er den Rücken kehre. Man merkte bald, daß Enzio im Besitz von Kapitalien sei, beutete ihn fröhlich aus und revanchierte sich mit einer besondern Anerkennung seines Talents. Er konnte es nicht mit ansehn, wie die andern hungrige und begehrliche Augen machten, wenn er sich selbst etwas Gutes bestellte, und 270 bewirtete dann oft die ganze Tafelrunde, an der auch junge Mädchen, Konservatoristinnen, saßen, unter ihnen ein junges Ding mit schiefem Scheitel und einer Art Pastorenkrause um den Hals; sie suchte immer nach einem Freund und ward jedesmal rasch abgekühlt, wenn sie bemerkte, daß der andre ebensowenig Geld hatte wie sie selbst. Sie setzte sich stets an Enzios Seite, und liebte es, sich wie ein Kind von ihm füttern zu lassen, mit dem Löffel, wobei sie sich bemühte, den Ausdruck eines kleinen Vogels nachzuahmen. Halb und halb verliebte sich Enzio in sie. Aber wenn er dann Bienle wiedersah, so dachte er: Es wäre abscheulich von mir, sie zu betrügen! Ich bin so glücklich, daß ich sie habe, ich kann nicht glücklicher werden als ich bin und brauche niemand anders als sie! Gott weiß, in was ich da hineingeraten würde, wenn ich mir jetzt nachgeben wollte! – Und die kleine Wolke ging an ihm vorbei.

Eines Tages erklärte er dem Bienle, er wolle Sozialdemokrat werden, das sei die einzige Partei, die heutzutage noch Sinn habe. Er wollte, daß sie auch Sozialdemokratin werden solle, aber sie sagte: Fällt mir nicht ein! Was geht es mich an, was die Männer wollen? Ich habe genug in Küche und Haus zu tun! Er ereiferte sich und setzte ihr auseinander, Mädchen müßten auch andre Interessen haben als nur die häuslichen, und sie ließ 271 sich gutwillig und mit Aufmerksamkeit erklären, was sie nach seiner Meinung alles lernen müsse. Er versuchte hie und da, sie zu bilden, sie bemühte sich auch, ihm zu folgen; dann gab es plötzlich einen Punkt, wo sie nicht mehr verstand; sie sagte nichts, da sie hoffte, während seines Weiterredens würde sie ihn schon irgendwie wieder einholen; das geschah dann aber nicht, ihre Gedanken irrten ab zu Dingen, die ihr geläufiger waren, und wenn er geendet, ließ sie eine kleine Pause vergehn, gleichsam noch als Zoll für seine Ausführungen, dann dachte sie, nun könne man ein neues Gespräch beginnen, und sie sagte etwa: Morgen backe ich einen Pflaumenkuchen. Enzio war in solchen Momenten stets etwas überrascht und mußte erst einen kleinen Unwillen bekämpfen, ehe er auf ihre Einfälle einging. Mit ihr kann man immer nur in der einfachsten Tonart reden, dachte er, etwas anderes versteht sie nicht. Aber dann fragte er gleich wieder gutgelaunt etwa: Wie viele Eier kommen da hinein? – Eins! – Aber dann tust du doch wenigstens viel Butter in den Teig? – Damit wird die Pfanne ausgestrichen! – Von dem Pflaumenkuchen aus wanderte ihre Vorstellung auf die Pflaumen selbst, auf die Bäume, worauf sie wuchsen, von dem einen Ei auf die Henne, die es einmal gelegt haben mußte, und dann war sie in ihrem gewohnten Bereich. 272 Sie konnte nur an Dinge denken, die es wirklich gab in der Welt, an Tiere, Pflanzen, Menschen, und was alles mit ihnen zusammenhängt; da war sie zu Hause, mehr als die meisten andern, ihr lebendiges Herz, ihr offenes Auge gab all ihren Eindrücken und Äußerungen eine starke Unmittelbarkeit.

Weißt du eigentlich, fragte Enzio einmal, wie sie im Feld gingen und in der Ferne einen Eisenbahnzug vorbeiziehen sahn, wie eine Lokomotive eingerichtet ist, und weshalb sie vorwärtsgeht? – Ja, so ungefähr. – Du weißt es gewiß doch nicht! meinte er neckend und begann, ihr die Konstruktion auseinanderzusetzen. Sie hörte zu, redete dann hinein, und allmählich merkte er, daß sie vom Bau einer Lokomotive mehr wisse, wie er selber, daß ihr sogar die technischen Ausdrücke viel geläufiger waren als ihm. – Woher weißt du denn das alles? fragte er erstaunt. – Das ist doch nicht so schwer! Das habe ich mir sagen lassen. – Von wem? – Von den Heizern und Maschinisten. – Und woher kennst du die? – Wenn ich früher allein spazieren ging und am Güterbahnhof vorbeikam, da habe ich sie angesprochen, o, so oft, damit sie mir alles erklärten. Das haben sie auch furchtbar gern getan, und dann bin ich wieder gegangen. – Die wollten wohl, daß du noch ein bißchen dabliebst? – Bienle nickte: Dirndl, haben sie gesagt, bleib noch ein bissel! – Was, die haben dich 273 du genannt? – Natürlich! Nach fünf Minuten sagen alle Arbeiter immer gleich du zu mir! So sprach sie, sah ihn goldig wie ein Apfel und schimmernd wie ein Pfirsich an und hauchte noch ein paar kleine Lachtöne hinterher. Ihre ganze, mädchenhaft entzückende Gestalt war überschimmert von einem Hauch süßester und reinster Sinnlichkeit.

Du mußt doch ziemlich oft auf der Straße angeredet werden! sagte Enzio. – Oft? Alle Tage! Ich kenne die Menschen schon auf zwanzig Schritt und weiß: Der will etwas von mir, der ist zerstreut, und der denkt an keine Mädchen. – Was hast du denn von mir gedacht, Bienle, als du mich zum ersten Male sahst? – Sie antwortete nicht. – Nun? Sag es doch! – Sie faßte seine Hand. – Magst du es nicht sagen? – Du weißt doch ganz genau, rief sie mit einemmal mit frischer Stimme, was ich gedacht habe; da brauchst du mich doch nicht extra zu fragen! Ich frage dich doch auch nicht!

In solchen Augenblicken vermißte Enzio zunächst undeutlich etwas, aber dann sagte ihm ein nachdenkliches Gefühl, daß sie viel unbewußter und ursprünglicher empfand als er, und daß sie frei war von jeder Spur von Sentimentalität.

Er selbst mußte sich und auch ihr sein Glück manchmal wieder vorsagen; dann strich sie mit der Hand flüchtig und zärtlich über seine Wange, 274 sagte aber nichts. Nur ihre Träume, in denen er vorkam, erzählte sie ihm wieder, Träume, wie sie vielleicht Kinder träumten in einer glücklich-heitern Welt. So war es ihr einmal, als liege sie auf einem Waldboden neben ihm. Er hatte seine Hand auf ihre Hand gelegt, die hohl auf der Erde ruhte. Beide – so träumte sie – schliefen, bis sie aufzuwachen glaubte durch ein zartes, weiches, gleitendes Gefühl im Innern ihrer Hand. Sie blickte vorsichtig nieder, da sah sie, daß es ein ganz kleiner Vogel war, der da in aller Heimlichkeit ein Spiel für sich trieb, indem er von links nach rechts unter ihrer Hand hindurchlief, und dann von rechts nach links, immer hin und her, und sich jedesmal ein wenig duckte. – So niedlich wie er war! sagte sie später, wie sie Enzio diesen Traum erzählte, ich sehe ihn noch vor mir: Klein, ganz klein, ganz winzig – und ihre Stimme wurde selber zart und kurz, wie das hohe Flöten eines kleinen Vogels.

Oft dachte Enzio: Ist dies nicht die allerschönste Zeit von meinem ganzen Leben? O wenn das Leben doch ewig so fortgehen könnte! Und dann seufzte er aus tiefstem Herzen und wußte nicht warum: Es konnte doch so bleiben! Wenn es sich änderte, dann lag das nur an ihm, und er würde sich nicht ändern!

Manchmal dachte er mit Sorge daran, daß es einmal wieder eine Heimreise, wenn auch nur 275 vorübergehend, geben werde. Die Ferien mußte er zu Haus verleben; er empfand oft Sehnsucht nach seiner Mutter, aber im Grunde nur, um sich ihr an die Brust zu werfen und ihr zu sagen, wie glücklich er nun sei. Was vermochten Briefe auszusprechen!

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